Auszüge aus "Das Tor zur geistigen Welt"

Mieke Mosmuller: Das Tor zur geistigen Welt. Seine Riegel und Scharniere. Occident, 2010 (324 S., 19,50€). | Zwischenüberschriften und Hervorhebungen H.N. | > Buchbesprechung | > Bestellen.

Aus dem Kapitel „Eine persönliche Darstellung“

Angefangen in der Adoleszenz und fortwirkend bis weit in das Erwachsensein, gab es in fast allen menschlichen Begegnungen, sowohl im alltäglichen Leben mit den Kindern und den Freunden, wie auch im beruflichen Leben als Ärztin, eine Grundempfindung: Dieser Mensch wird nicht verstanden, er ist viel mehr als das, was er in Erscheinung bringt (bringen kann), und der Einzige, der wirklich weiß, wer er ist, ist er selbst. Das war und ist das Erleben der menschlichen Tragik, die in unserer Zeit viel, viel tiefer und stärker erlebt wird als je zuvor. Denn heute haben wir es von der Geburt an – und schon vorher – mit Ahriman zu tun, der unserer Inkarnation Hindernisse in den Weg stellt. Fortwährend steht er zwischen unserem geistigen Impuls und der Welt, in der der Impuls erscheinen soll. Und Ahriman hemmt, er lenkt die Ziele ab, transformiert oder – wenn es geht – vernichtet.

Der Mensch selbst hat mehr als je zuvor Ahnungen seiner wahren Wesenheit, sehnt sich mehr als je zuvor, in seiner Wesenheit erkannt zu werden – schafft es jedoch selbst nicht, genügend Kräfte zu sammeln, um sich trotz aller Widerstände durchzusetzen. Er wird nicht, wer er ist, und kann nicht verlangen, dass seine Nächsten sehen, was er nicht zustande bringt. Das ergibt eine tiefe Ohnmacht, die in jeder menschlichen Begegnung verborgen liegt und diese prüft. Denn eigentlich steht das Ich (der Geist) dem anderen Ich (dem anderen Geist) unmittelbar gegenüber. Keiner findet jedoch die innere Ruhe, einfach geschehen zu lassen, was geschehen soll. [...]

Was ein Mensch sagt, wie er es sagt, ist hierbei wenig bedeutsam. Seine Sehnsucht, wahrhaftig da zu sein und so verstanden zu werden, ist das einzig wichtige. Man kann jedem alles vergeben, weil alles darauf hinweist, dass der Mensch ringt, sich in Erscheinung zu bringen.

Aus dem wachsenden Bewusstsein dieser Prozesse heraus habe ich meine Romane geschrieben. Was in der Jugend innerlicher Schmerz, innerliches Leid war, das andauernde, fortwährende Mitempfinden dieser menschlichen Ohnmacht, dieser Tragik, wurde immer mehr durchschaubar.

Nun wird der Leser, der die mehr anthroposophischen Bücher kennt, die ich geschrieben habe und die hier und dort ihrer Schärfe, ihrer ‚zugespitzten Urteile’ wegen kritisiert werden, vielleicht sagen: ‚Gerade diese Autorin hat doch scharfe Vorwürfe, Urteile, sie schätzt die anderen Menschen selbst gar nicht!’

Hier liegt jedoch etwas ganz anderes vor. [...]

Alle Menschen, die sich in unserer Zeit verkörpern, erwarten eine verwirklichte Geisteswissenschaft auf Erden. Sie trifft der Mensch jedoch nicht an. Er findet eine Welt, die durch Ahriman geprägt ist, er findet dessen Hemmnisse, und er findet nicht die Hilfe, die die Anthroposophie hätte geben können. Das Goetheanum hätte eine Stätte sein sollen, wo man durch verwirklichte Geisteswissenschaft Trost hätte finden können. Zuerst Trost, und dann wirksame Anleitungen, um die Sehnsucht erlösen zu können. Und nicht nur das Goetheanum hätte so wirken sollen, auch die Waldorfschulen, die Zweige usw. hätten überall Stätten des Trostes sein sollen, wo man hingehen könnte und spüren würde: Hier werde ich als Mensch verstanden, hier kennt man meine wahre Wesenheit, hier weiß man, wie ich zur Selbsterkenntnis kommen kann und wie mir daraus die Kraft fließen kann, auch Verständnis für meine Mitmenschen zu erlangen. Hier ist man Mensch unter Menschen, hier lebt das Ziel der Entwicklung als Ahnung, und diese Ahnung wird hier zur realen Geist-Erkenntnis. [...]

Was findet der sehnsüchtige Mensch stattdessen vor? Eine Gesellschaft von Menschen, die einen Hochmut zeigen, der nirgendwo sonst auf der Welt zu finden ist. Die herablassend, phrasenhaft sprechen. Eine Diskursgesellschaft, die Worte verwendet, deren wahre Bedeutung sie nicht einmal ahnt: Toleranz, Offenheit, Verständnis für das Denken des Mitmenschen, Freiheit, das Gute, das Böse, Rudolf Steiner, Michael, Christus...

Die Anthroposophie gibt jedem Suchenden die Möglichkeit und die Fähigkeit, seine eigene Menschlichkeit kennen zu lernen, und, wenn er sie einmal erkannt hat, auch dem Anderen bei der Geburt seiner Menschlichkeit zu helfen, ja die Geburt mit zustande zu bringen.

Dass diese Möglichkeit nicht ergriffen wurde und wird, führt zu einer großen Schuld auf Seiten derjenigen Anthroposophen, die so lässig, so nonchalant meinen, sie hätten der Anthroposophie auf Erden schon ihren Platz bereitet. Sie ist aber gar nicht da. [...]

Das ist meine Anklage, und sie kann nicht freundlich klingen, nicht tolerant, nicht abgeklärt – denn es geschieht eine Katastrophe.

Mehr als zwanzig Jahre hindurch habe ich geschwiegen. Jetzt rufe ich einen jeden dazu auf, sich auf die Notwendigkeit der Inkarnation des Menschen zu besinnen, auf eine ungehemmte Inkarnation, auf eine Erscheinung der wahren menschlichen Wesenheit in allen ihren Individualitäten.

Das ist Anthroposophie.

(S. 15-21)

Der Grundstein der Anthroposophie

Der Anthroposophie liegt ein sehr bestimmter Schritt zugrunde, ein Grundstein, der lebendig ist. Auf diesem Fundament steht die Anthroposophie als starkes Gebäude, sie ist nicht zu erschüttern, wenn sie sich nur auf diesem Grundstein erbaut fühlt und auch tatsächlich darauf ruht. Diesen Schritt finden wir bereits in den frühen philosophischen Werken Rudolf Steiners dargestellt, besonders in seinem Buch ‚Wahrheit und Wissenschaft’.

Da wird also nicht nur ein genialischer Gedanke beschrieben, nicht ein philosophischer Begriff. Wir finden dort den Grundstein, den Samen, aus dem die ganze Anthroposophie später aufgeblüht ist. Es ist der Grundstein, den jeder Mensch in sich selbst legen kann, und durch die Grundsteinlegung wird er erst wahrhaft Mensch, er wird aber Anthroposoph. Das ist nicht ein Mensch mit einer Weltanschauung, einer Philosophie, einem Glauben, einer Religion. Es ist ein Mensch, der neben seinem gewöhnlichen Menschsein einen zweiten realen Menschen in sich trägt, einen Menschen, den er durch diesen grundlegenden Schritt in sich zum Bewusstsein erweckt hat.

Ohne diesen Schritt kann der Mensch die Anthroposophie erkennen, lieben. Nie aber wird er ohne diesen Schritt selber Anthroposoph. Es ist ein heiliger Schritt, der nur in Devotion gemacht werden kann. Wer die Devotion nicht in sich erzeugt, kann den Schritt nicht machen, er bleibt höchstens Begriff, wird nie Wirklichkeit. Wir brauchen die Heiligkeit nicht von vornherein zu fühlen, sie erweist sich von selbst. Wohl aber müssen wir voll Erstaunen sein können, voll Verwunderung über das, was sich zeigen wird.

Was ist dieser Schritt?

In ‚Wahrheit und Wissenschaft’ wird dieser Schritt gemacht, aber noch nicht mit einem Namen benannt. In der ‚Philosophie der Freiheit’ bekommt er einen Namen: Ausnahmezustand.

(S. 189f)

Aus dem Kapitel „Denk-Erfahrung“

Bezüglich der Denk-Erfahrung hat Muschalle einen wohlumschriebenen Begriff. Hier wird noch einmal deutlich, wie er das ‚Denken über das Denken’ versteht und wie er gerade den wichtigsten Schritt, den Rudolf Steiner sichtbar gemacht hat – den Schritt über die Schwelle zur geistigen Welt – unsichtbar macht. Für Muschalle ist der Erkenntnisprozess des Denkens dem Prozess der Erkenntnis alles Übrigen gleich: Man erfährt das Denken und muss es dann noch in wissenschaftlicher Weise beschreiben. Der Unterschied zum Erkenntnisprozess alles Übrigen liegt nur in der Tatsache, dass der Denker beim Erkennen des Denkens das Denken nicht verlässt. [...]

Hieraus wird klar, dass dem Verfasser der Unterschied zwischen dem Erkennen des Denkens und dem Erkennen der übrigen Welt (außerhalb des Denkens) gar nicht bewusst geworden ist. Gerade dieser Unterschied jedoch bildet den Zugang zur geistigen Welt.

Es gibt selbstverständlich ein Erleben, ein Erfahren des Denkens, das man ‚naiv’ nennen könnte. Ein solches Erleben oder Erfahren hat jeder selbstbewusste Mensch. Dieser weiß, dass er ein denkender Mensch ist, und meistens weiß er zudem ungefähr, was er denkt, und auch noch ein wenig, wie er denkt. Das wird beim Studieren verstärkt und aufgehellt, wenn der Mensch zur Reflexion kommt – was ein üblicher Prozess beim Einprägen von Inhalten ist. [...]

Dies sind gewissermaßen Vorübungen für den Ausnahmezustand. Er wird jedoch noch nicht wirklich ‚bezogen’, eingenommen. Dies geschieht erst, wenn der Mensch vollbewusst sein Denken auf das Denken richtet.

Wenn nun das übliche erkennende Denken fortrollt, so schaut der Mensch nach Muschalle sein Denken (oder das Denken eines anderen Denkers) in derselben Weise an, wie er nach außen schaut. Man könnte dies ein Schauen in die Finsternis nennen, denn das eigene Licht des Denkens fällt auf ein Objekt, das noch nicht erkannt wurde, das also noch der Finsternis angehört. Zwar ist dieses Objekt jetzt das Denken, aber es wird nicht bemerkt, dass sich hier eine ganz andere, neue, umwälzende Erkenntnislage einstellt. Das Denken nimmt das Denken als reine Erfahrung wahr, hat dabei jedoch noch nicht eine Erkenntnis des Denkens erlangt.

‚Die Beschreibung des Denkens ist also nicht ausschließlich erfahrener Vollzug des Denkens, sondern eine Beschreibung spezieller Eigentümlichkeiten, Wesensmerkmale oder Formen dieses Vollzuges. Sie setzt demnach die Beobachtung des Denkens voraus und sie setzt entsprechende Intuitionen voraus, um das Denken unter deskriptive Begriffe zu bringen. Man könnte – an dieser Stelle noch ungeschützt, weil nicht weiter belegt – dieses denk-beschreibende Denken in Anlehnung an Steiners Sprachgebrauch ein intuitives Denken nennen.’


Diesem Verständnis Muschalles muss man jedoch etwas ganz anderes gegenüberstellen. Die reine Denkerfahrung ist nicht ein Schauen in die Finsternis, sie ist auch nicht etwas, was nachher durch Beobachtung und Beschreibung mit Hilfe von Intuitionen erst erkannt wird.

Das Wunder der reinen Denkerfahrung, die Folge der Beobachtung des Denkens ist, ist gerade, dass mit dem Licht das Licht geschaut wird. Erkennend wird das Erkennen erfahren und unmittelbar durchschaut, erkennend durchschaut. Und gerade dieses unmittelbare Durchschauen ist es, was die Intuition ist. Man erkennt nicht mit Intuitionen, man erkennt die Intuition, weil man sie als reine Denkerfahrung unmittelbar hat. Und damit ‚hat’ man die rein geistige Wahrnehmungsart gefunden, die zugleich Wahrnehmung und Begriff ist. Dass man dies im nachhinein beschreiben muss, wenn man es übertragbar machen will, bedeutet nicht, dass die Beschreibung noch irgend etwas zur Erkenntnis beitrüge.

Selbstverständlich hat Muschalle Recht, wenn er an die Erkenntnis des Denkens zwei Bedingungen stellt: Auch hier muss eine Wahrnehmung vorliegen, und diese wird erst zur Erkenntnis, wenn sie begriffen wird. In diesem Ausnahmezustand jedoch ist die Wahrnehmung der Begriff, weil der Begriff die Wahrnehmung ist.

Hier ist die Trennung von Wahrnehmung und Begriff, die für die Bewusstseinsanlage des Menschen charakteristisch ist, aufgehoben. Deshalb liegt hier der Durchgang zur Erlösung des Menschen aus seiner Einsamkeit. Hier ist er nicht als Erkennender allein, gesondert von dem zu Erkennenden, sondern er ist ein und dasselbe. Und weil er dies in diesem Punkt gelernt hat, kann er auch lernen, sich selbst auch bei allem übrigen in das zu Erkennende erkennend mit hinüber zu nehmen. Die Einheit – das ist in diesem Fall die Beobachtung – von Wahrnehmung (Erfahrung) und Begriff ist Kennzeichen der Geist-Erkenntnis.

Muschalle aber verkrampft sich in seine einmal eingenommene Sichtweise: Einerseits muss es eine Erfahrung des Denkens geben, die das ‚Gegebensein des Denkens’ gewährleistet: Es ist die ‚empirische Gegebenheitsbedingung der Beobachtung’. Es muss also etwas da sein, das beobachtet werden kann. Zweitens verkrampft er sich in das ‚Spaltungsargument’: Wir können das aktuelle Denken nicht beobachten, weil wir uns nicht in zwei Persönlichkeiten – eine, die denkt, und eine, die zusieht und beobachtet – spalten können. Hieraus folgt die zweite Bedingung: ‚Reflexionsbedingung der Denkbeobachtung’. Diese beiden Seiten existieren jedoch nur solange, wie es der wissenschaftliche Verstand ist, der erkennt und der das Erkennen in der üblichen Weise fortrollen lässt, auch wenn er auf das Erkennen selbst zurückblickt.

Die Seele vermag es nicht, sich in zwei Teile zu spalten. Der Verstand gehört noch zur Seele. Das Ich jedoch, das nicht seelisch, sondern geistig ist, hat gerade die Eigenschaft, in sich vollkommen eins zu sein und zugleich aus sich herausgehen zu können. Dass dies so ist, mag Michael Muschalle leicht als unwissenschaftlichen Unsinn beiseite schieben. Wenn jedoch die wissenschaftliche Fähigkeit zur Gleichzeitigkeit des Denkens und der Beobachtung des Denkens erweitert wird, tritt das Ich als geistige Aktivität in seine Tätigkeit ein, es wird gleichsam wahr gemacht, geschaffen. Und dann erweist sich: Hier sind Denker und Gedanke ein und dasselbe und zugleich Zuschauer und Angeschautes, Begriff und Wahrnehmung -> Intuition.

Das geistige Ich ist keine Persönlichkeit, die Seele ist es. Solange die Seele erkennt, hat Muschalle Recht. Die Philosophie der Freiheit fordert uns jedoch zum Ich auf.

Muschalle:

‚‚Wenn A, dann B – A ist gegeben, also ist auch B gegeben’. Er soll sich also bemühen, auf seinen aktuellen Denkvollzug den deskriptiven Begriff des Implikationsschlusses anzuwenden. Er mag nun herausfinden, ob er diese einfach Schlußfigur in seinem aktuellen Denken identifizieren kann, während er an etwas anderes denkt, und zwar ohne diesen anderen Denkprozess irgendwie zu unterbrechen. Und er möge sich einmal überlegen, welche kognitiven Operationen sonst noch notwendig sind, bis er einigermaßen sicher ist, daß seine Gedankenfolge dem genannten Implikationsschluß entspricht. In gleicher Weise möge er in einer beliebigen Erkenntnissituation, während er eine Evidenzerfahrung hat, in eben diesem Augenblick sich klarzumachen versuchen, daß er eine Evidenzerfahrung hat, und zwar auch hier ohne die ursprüngliche Richtung des Denkprozesses auch nur für einen Moment zu verlassen. Es würde ihm die Einsicht in das Faktum der Unbeobachtbarkeit des aktuellen Denkens sehr erleichtern.’


An diesem Beispiel will Muschalle klarmachen, dass eine Gleichzeitigkeit des Denkens und der Beobachtung des Denkens eine Unmöglichkeit sei. So wie es hier inszeniert ist, ist es eine Unmöglichkeit. Man kann diesen Denkversuch aber auch ganz anders machen, und der Unterschied liegt genau in diesen zwei verschiedenen Arten des Denkens und der Denkbeobachtung. Es gibt in der Mythologie ein wunderbares Bild für diesen Unterschied: Der Vorgang bei Muschalle entspricht der Denkart des Epimetheus. Der Vorgang, der das Tor zur geistigen Welt bildet, wird in Prometheus verbildlicht. [...]

Die Erkenntnistheorie Rudolf Steiners hat jedoch mehr zu sagen, als nur eine Wissenschaft des Denkens zu sein. Sie ist ein Übungsweg, der sicher durch das Tor zur geistigen Welt führt. Und dieses Tor liegt im Prometheus-Felsen.

(S. 149-156)

Vom Wahrheitserleben und Zitaten Rudolf Steiners

Es ist eine sonderbare Erscheinung in der modernen Zeit, dass man die Anthroposophie ohne Steiner haben möchte. Einerseits hat das eine gewisse verständliche Seite. Ich selbst zitiere viel aus dem Werk Steiners. Warum mache ich das? Bestimmt nicht, weil ich sein Werk als ewige dogmatische Wahrheit verwenden möchte, so wie die Calvinisten die Bibel. Ich zitiere nicht, um meine eigenen Ansichten kräftig zu machen – sie sind in sich kraftvoll genug... Ich zitiere, um die Leser miterleben zu lassen, wie Rudolf Steiner selbst über solche Ansichten gedacht und gesprochen hat. Ich erwarte noch immer, dass die Wahrheit, die in seinen Worten so wunderbar zum Klingen kam, mit der Wahrheit im Innern des Lesers zusammenklingt. Zitieren in diesem Sinn ist nicht der Wunsch, durch Dogmen zu überzeugen, sondern die Hoffnung, dass der Leser in Unbefangenheit aufnehmen wird und in sich selbst das ‚Ja’ dazu findet. Nur so bleiben die Zitierende und der Leser frei, weil beide ihre eigene Wahrheit haben und es doch dieselbe ist.

Aber wenn ich zitiere, empfinde ich doch auch eine Schwierigkeit. Denn Steiner wird, ob das angebracht ist oder nicht, fortwährend zitiert, auch um zu beweisen, dass diese oder jene Tat unmoralisch, unfrei, unwahrhaftig usw. sei. Steiner wird zum Maßstab für das ganze Leben, nicht nur in der Erkenntnis. Das erste, was ich je über Steiner las, stand in einem Buch von Dr. med. Otto Eichelberger, einem homöopathischen Arzt aus München. Er war begeistert von der erkenntnistheoretischen Grundlage der Anthroposophie und der Erklärung der Wirksamkeit der homöopathischen Heilmittel durch Rudolf Steiner. Er hatte als Einführung zu seinem Buch über Homöopathie eine ausführliche Beschreibung der Anthroposophie eingefügt. Und er schrieb: ‚Man kann nur um die Wahrheit kämpfen, das muss man auch. Über die Gesinnung jedoch lässt sich nicht streiten.’ Diese Aussage ist tief in meiner Seele eingeschrieben.

Ich zitiere Steiner in der Hoffnung, dass seine Wahrheit mit der des Lesers zusammenklingen wird, dass durch das Zitat die Wahrheit erlebt werden kann. Nie zitiere ich, um zu moralisieren, um darzulegen, wie man sein soll. Manchmal kann das anders scheinen, weil es auch moralische Wahrheiten gibt. Ich werde aber nicht schreiben oder sagen: ‚Sieh mal dieses Zitat. Da siehst du, Rudolf Steiner hätte es nie so gemacht.’ Es interessiert mich schon, wie er es gemacht hätte, weil es mir Aufschluss über sein Wesen bringt – nicht, weil ich selbst so sein möchte wie er. Das könnte nur das ‚nur universelle’ Ich sich wünschen. Ein sich als qualitativ und individuell-universell erlebendes Ich wehrt sich dagegen; es will gar nicht so sein wie Steiner. Zwar will die Seele so heilig und weise und liebefähig sein, aber in ihrer eigenen Art. Und das Resultat kann ganz anders sein als ‚was Rudolf Steiner getan hätte’. Im moralischen Sinn kann man sich also nur im allgemeinen Rudolf Steiner zuwenden. Im Sinne der Wahrheit dagegen kann man die Anthroposophie nicht ohne ihn haben. Dieser Unterschied wird kaum gemacht.

Beim (geistigen) Erleben der Texte von Muschalle und Ziegler habe ich gar nicht fortwährend Texte von Rudolf Steiner gegenwärtig. Ich erlebe das Was und Wie des Textes, und da erlebt man, dass diesem Was und Wie nicht die Wahrheit im Geiste entgegenkommt. Das heißt, sie kommt zur Erscheinung, aber erweist sich von ganz anderem Inhalt und anderer Gestalt als der gelesene Text. Dissonanzen sind das. Kein Zusammenklang des Empfindens, sondern Disharmonie tritt ein. Wer hier nicht mitdenken will, kann sagen, meine Erlebnisse seien subjektiv. Ihn kann ich nicht vom Gegenteil überzeugen. Die Wahrheit lebt aber im Geiste, und sie kommt dem Wahrgenommenen (in diesem Fall dem Gelesenen und Erlebten) entgegen, wenn es nur keine subjektiven Regungen gibt. Die Wahrheit kommt dann in jedem Fall! Und dann entsteht das Bedürfnis, dieselbe Wahrheit, wie sie von Rudolf Steiner so unvergleichlich schön dargestellt worden ist, hinzuzuziehen, und das kann man ja nur, indem man ein Zitat macht. Es ist also mehr eine wunderbare ‚Illustration’ als ein Suchen nach Bestätigung. Die Bestätigung braucht man nicht, man konzipiert die Wahrheit selbst, anhand des Gelesenen. So verwende ich die Zitate. Ich will sie nicht für moralische Erweckungen benutzen, denn diese sollen aus noch höheren Gegenden der Geistwelt kommen – und durch die freie Individualität entsprechend ihrer Qualität selbst daraus geschöpft werden.

Diese Abneigung, sich auf Aussagen Rudolf Steiners zu beziehen, hat nun aber auch die Wahrheitsseite der Anthroposophie durchdrungen. Obwohl dasjenige, was heute Frucht des Werkes Rudolf Steiners ist, ursprünglich aus der Wahrheit der Anthroposophie, wie auch aus der Wirkung dieser Wahrheit (Kunst) heraus gestaltet wurde, meint man heute überwiegend, es werde immer weniger notwendig, zu Rudolf Steiners Werk zurückzugehen, weil wir es inzwischen selbst ‚so herrlich weit gebracht’ hätten. Es wird dann dasjenige für Anthroposophie gehalten, was im Laufe der Zeit daraus geworden ist. Sie selbst soll sich einfach richtig weiter entwickelt haben. Dann braucht man den Gründer immer weniger, denn der Abstand wird sowohl in der Zeit als auch nach Inhalt und Wirkung immer größer.

Das geschieht auch mit der Philosophie, die an Steiners erkenntnistheoretische Arbeit anknüpft und sich im Laufe eines Jahrhunderts weiterentwickelt hat. Obwohl Steiner selbst die Philosophie für überwunden, für beendet hielt, weil ihre Aufgabe erfüllt war, findet man heute noch immer auch ‚anthroposophische Philosophie’, eine erkenntnistheoretische Philosophie, die noch weitergeführt wird, nachdem Rudolf Steiner sie für beendet erachtete. Wenn etwas sein Optimum erreicht hat, kann es, wenn es weitergeführt wird, nur noch in Dekadenz geraten. Dass es ein Optimum war, möchte man aber gar nicht anerkennen. Denn dann dürfte man sich nur darum bemühen, auf die Höhe dieses Optimums zu gelangen – und dazu fehlt die intellektuelle Bescheidenheit.

(S. 291-294)