22.11.2010

Eine Frage um Leben und Tod – aber warum kämpfen?

Wesentliches zum Verständnis von Mieke Mosmullers Büchern.


Inhalt
Die Untergründe der Sehnsucht nach Kritiklosigkeit
„Konstruktiv“ und „helfend die Hand reichen“?
Vom Ernst der eigentlichen Frage
Von Menschenbrüdern und Wahrheitssuchern 


Einleitung

In ihrem Buch „Das Tor zur geistigen Welt“ weist Mieke Mosmuller auf das reale Tor hin, jenseits dessen und mit dem die Anthroposophie beginnt.

Sie tut dies in Auseinandersetzung mit den Büchern von Michael Muschalle und Renatus Ziegler und muss das, was jene entwickeln und darstellen, in eindeutiger Weise kritisieren und zurückweisen.

Es kann nun die Frage auftreten – und sie tritt auch immer wieder auf, auch in Zusammenhang mit anderen Büchern von Mieke Mosmuller: Warum kritisiert sie Darstellungen anderer Anthroposophen? Es wird dann etwa gesagt: „Ja, das ist alles gut und schön, ihre Erkenntnisse sind sehr tiefgehend. Aber warum stellt sie diese Erkenntnisse nicht einfach in positiver Weise dar, ohne Kritik an anderen?“

Die Untergründe der Sehnsucht nach Kritiklosigkeit

Hinter einer solchen Frage stehen aber bereits verschiedene Gedanken, die man sich bewusst machen muss – dann wir dann auch der Antwort näherkommen.

Der eine Gedanke ist eigentlich eher ein Wunsch: nämlich, dass doch die Anthroposophen zusammenarbeiten mögen. Diesem Wunsch entspricht die Sehnsucht nach einer fruchtbaren Wirkung der Anthroposophie in der Welt; nach einer Anerkennung der Anthroposophie; nach einer Realisierung jener „Kulmination“, von der Rudolf Steiner sprach. Man empfindet deutlich, dass dies alles natürlich nicht im Streit untereinander möglich ist.

Der zweite Gedanke ist allgemeiner. Es ist der Gedanken, dass strebende Menschen einander doch überhaupt helfen müssten, als Brüder im Geiste. Dass man überhaupt jedem Menschen helfen müsste und nicht einander entgegenarbeiten oder auch nur kritisieren sollte. Hier wird in der Kritik und der Gegenüberstellung dann etwas Unchristliches gesehen.

Diese Gedanken liegen der oben genannten Frage also zugrunde, sehr oft unbewusst. Darüber hinaus liegt nun aber auch diesen Gedanken wiederum vieles zugrunde, was ebenfalls zunächst bewusst gemacht werden muss, weil man erst dann wirklich festen Boden für eine Antwort gewonnen haben wird.

Beginnen wir mit dem letzten Gedanken: Kritik sei unchristlich. – Es gibt auch das Wesen Michaels. Michael ist zweifellos kämpferisch. Muss man nun denken, Michael sei unchristlich? Natürlich nicht. Natürlich geht es um die Frage, gegen was gekämpft wird. Michael kämpft gegen die Widersacher, gegen Lüge, Täuschung und Illusion. Michael kämpft für die Wahrheit und für die Freiheit des Menschen, und er kämpft im Dienste des Christus.

Weiterhin gib es die Idee und die Realität des Geisteskampfes. Rudolf Steiner hat auch hier einer klaren Erkenntnis den Boden bereitet: Das freie Geistesleben lebt gerade vom „Kampf“ der Anschauungen. Anschauungen müssen sich nicht bekämpfen, aber der Kampf ist auf der Ebene des Geisteslebens absolut berechtigt – und in vielen Fällen auch notwendig, wenn man nicht andererseits die Wahrheit verleugnen will. Rudolf Steiner hat oft betont, dass man zu einer Lüge nicht schweigen darf und dass für den Anthroposophen gerade Wahrhaftigkeit eine wesentliche Forderung ist.

Zu dem vielen, was Rudolf Steiner zu dieser Frage sagte, gehört auch das folgende:

Allerdings sollte es gehören zu der Selbstverpflichtung, die sich der Anthroposoph auferlegt, nicht etwa berechtigte Kritik sich zu verbieten. Wenn die Kritik eine sachliche ist, so wäre es natürlich eine Schwäche, das Schlechte für gut – sozusagen aus rein geisteswissenschaftlichen Gründen – auszugeben. [...] Und je mehr man sich angewöhnen kann, unabhängig zu machen die Beurteilung namentlich unserer Mitmenschen von der Art und Weise, wie sie sich zu uns stellen, je mehr man das kann, desto besser ist es [...]
11.1.1912, GA 143, S. 26.


Brüderlichkeit ist ein Ideal, in dem man die Essenz des Christentums empfinden kann. Die Brüderlichkeit aber ist das Ideal des Wirtschaftslebens, im Geistesleben geht es nicht um Brüderlichkeit, sondern um Wahrheit.

Und dazu gehört auch, daß wir nicht die Wahrheit unterdrücken, indem wir nichts dagegen sagen wollen, wenn eine Persönlichkeit einen Irrtum begeht, nur weil es gerade diese Persönlichkeit ist. Zu etwas, was wir als Irrtum erkennen können, erkennen müssen, dürfen wir nicht schweigen.
20.9.1912, GA 266b, S. 427, Gedächtnisnotiz einer Esoterischen Stunde.

„Konstruktiv“ und „helfend die Hand reichen“?

Nun kann man natürlich trotzdem die Meinung vertreten, dass man demjenigen, der einem Irrtum unterliegt, helfend die Hand reichen soll, anstatt seine Anschauung als falsch zu kritisieren und ihn in dieser Hinsicht als Gegner der Wahrheit zu betrachten.

Hier sind wir an einem sehr wesentlichen Punkt. Denn es geht, wenn man einer Unwahrheit entgegentreten muss, eigentlich gar nicht um den Menschen, der sie geäußert hat. Es hat nur den Anschein, weil es natürlich immer ein konkreter Mensch ist, der etwas äußert. Dennoch wird nicht der Mensch kritisiert, sondern das, was er darstellt und behauptet.

Selbst wenn man nicht schreibt: „Das, was X geschrieben hat, ist abstrakt“, sondern: „X schreibt abstrakt“ oder sogar: „X ist ein abstrakter Denker“, geht es nicht um die Person, sondern um das, was sich an dem Buch von X offenbart. Wenn das Buch abstrakt ist, dann ist X ein abstrakter Denker, soweit es um den Inhalt des Buches geht. Man soll nicht die Augen vor der Wahrheit verschließen, nicht davor zurückschrecken.

Eine andere Frage ist, ob man es nicht so vorsichtig, „taktvoll“ o.ä. ausdrücken könnte, dass man dem Anderen sozusagen die Brücke baut, seinen Irrtum einzusehen – „ohne Gesichtsverlust“.

Nun, wenn man jemandem helfen will, wird man ihn meistens nicht scharf kritisieren – manchmal mag das sehr wohl nötig (die notwendige Hilfe) sein, aber meistens wird man andere Wege finden, die hilfreicher sind. Die Frage ist aber: Schreibt man ein Buch, um jemandem zu helfen? Wohl niemals. Wenn man einem einzelnen Menschen helfen will, geht man zu ihm und spricht mit ihm. Es ist dann immer noch die Frage, ob der Andere die Hilfe überhaupt annehmen will und sie nicht vielmehr zurückweist, weil er sich gar nicht „helfen lassen will“, sondern sehr wohl bei seiner Überzeugung bleiben will.

Warum aber schreibt man ein Buch?! Weil man andere Menschen z.B. auf einen Irrtum hinweisen, sie vor diesem Irrtum bewahren will. Und wie tut man dies am geeignetsten? Indem man den Irrtum so deutlich wie möglich macht. Das darf dann auch nicht vorsichtig „neutral“ oder „sachlich“, „konstruktiv“ oder sonst wie sein, sondern man muss den Irrtum bis in die Empfindung hinein so „plastisch“ wie möglich empfinden können.

Erkenntnis ist nichts Abstraktes, sollte es nicht sein. Erkenntnis sollte auf der Grundlage der Wahrheitsliebe wachsen; dafür aber muss man die Wahrheit wirklich lieben – und das bedeutet, man muss unter einer Unwahrheit wirklich leiden. Tut man dies nicht, dann liebt man die Wahrheit noch nicht tief genug... Wenn man die Wahrheit aber liebt, wird man einer Unwahrheit auch entschlossen entgegentreten – um so entschiedener, je irreführender sie ist, also je täuschender sie der Wahrheit ähnelt, je gefährlicher sie gegen eine Erkenntnis der Wahrheit wirkt.

Vom Ernst der eigentlichen Frage

Fassen wir diesen Gedanken noch konkreter, müssen wir uns klar machen, dass es um die Frage nach dem Wesen der Anthroposophie geht. Wir beanspruchen, Anthroposophen zu sein, aber nehmen wir das Wesen der Anthroposophie wirklich ernst genug?

Stellen wir uns doch wirklich einmal konkret vor, dass eine bestimmte Schilderung das Wesen der Anthroposophie gerade verdeckt, einen undurchdringlichen Schleier verbreitet, eine täuschend ähnliche Illusion aufbaut – oder auf irgendeine andere Weise auf tragische Abwege führt. Würden wir uns dann nicht dazu aufgerufen fühlen, etwas dafür zu tun, dass das Wesen der Anthroposophie erkannt werden kann und die Irrtümer aufgedeckt werden?

Noch einmal: Nehmen wir die Anthroposophie ernst genug? Stellen wir uns genügend klar vor Augen, wie die geistige Welt auf den Menschen wartet – darauf wartet, dass er die Anthroposophie verwirklicht? Gibt es etwas Wichtigeres? Nein, es gibt nichts Wichtigeres als das! Und die geistige Welt wartet und schaut auf den Menschen...

Die Anthroposophie ist das Geheimnis des Menschen. Solange sie nicht im, vom einzelnen Menschen wahrgemacht wird, ist der Mensch noch nicht wahrhaft Mensch. Der Mensch findet sich erst, wenn er die Anthroposophie verwirklicht, wenn er das Tor zur geistigen Welt in sich realisiert.

Auf diesen Schritt kommt heute alles an. Es ist also nichts wichtiger, als diesen Schritt zu verstehen, seine Bedeutung zu erkennen; diesen Schritt verständlich zu machen, seine Bedeutung aufzuzeigen.

Was das Verständnis für diesen Schritt verhindert oder erschwert, muss ebenfalls deutlich werden, und es sind oft gerade die Halbwahrheiten, die die schlimmsten Täuschungen schaffen.

Oft wehrt sich das Verständnis dagegen, Halbwahrheiten als Täuschungen zu durchschauen – zumal wenn dann der Gedanke dazukommt: „Wir streben doch alle; kann man es nicht so stehen lassen?“ – Aber gerade wegen dieses inneren Widerstandes, eine Halbwahrheit als ganze Irreführung zu erkennen – zumal wenn sie „gut gemeint“ war – muss die Tatsache um so deutlicher werden!

Kein Gesetz über der Wahrheit. – Wenige verstehen diesen Grundsatz. Die meisten sind damit zufrieden, wenn sie sich sagen können, ich habe das Bewußtsein, daß es wahr ist, und wenn es falsch ist, so habe ich mich geirrt.
7.12.1905, GA 54, S. 225, „Innere Entwicklung“.

Und der Geheimschüler muß wissen, daß es hierbei nicht allein auf die „gute Absicht“, sondern auf die wirkliche Tat ankommt. Denke und sage ich etwas, was mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt, so zerstöre ich etwas in meinem geistigen Sinnesorgan, auch wenn ich dabei eine noch so gute Absicht zu haben glaube.
GA 10, S. 122, „Wie erlangt man...“.


Die Frage nach dem wahren Wesen des reinen Denken, nach dem wirklichen Tor zur Anthroposophie, ist eine Frage um Leben und Tod. Es geht um das tote oder das lebendige Denken, um Existenz oder Nicht-Existenz dieses lebendigen Denkens, damit aber auch des höheren Menschen, der erwachen muss. Von diesem Schritt hängt wirklich alles ab, das Schicksal der ganzen Menschheitsentwicklung. Wir stehen längst an einem alles entscheidenden Scheidepunkt, und es ist – auch in diesem umfassendsten Sinne – eine Frage um Leben und Tod...

Von Menschenbrüdern und Wahrheitssuchern

Es geht dabei ganz und gar nicht um die Person, sondern um die brennende Frage: Wird es Menschen geben, die das Wesen der Anthroposophie erkennen? Erkennen wollen? Auch die Halb- und Viertelwahrheit als solche durchschauen wollen?

Oder ist das Wesen der Anthroposophie weniger wichtig als der „arme, kritisierte Ziegler“? Könnte er nicht auch halb recht haben? Auch wenn er den Weg noch nicht so weit gegangen ist? Und so weiter... Diese Fragen tauchen immer wieder auf, immer wieder. Aber was liegt dabei vor? Man kreist um seine eigene Vorstellung vom „christlichen Gutmenschen“ und wagt es eigentlich nicht, mit der realen Frage nach der Anthroposophie ernst zu machen. Man könnte auch sagen: Man wagt es nicht, die reale Frage der geistigen Welt zu hören. Denn diese Fragen kann Angst machen. Lieber bewegt man sich in dem guten Gewissen, das man haben kann, wenn man niemanden kritisiert, niemandem zu nahe tritt. Man bemerkt nicht, dass man dann auch der Anthroposophie nicht näher kommt...

Mit tiefem Ernst ertönt die unhörbare Frage der geistigen Welt – man könnte sie hören, man könnte sein inneres Ohr öffnen, aber dann müsste man mit seiner Wahrheitsliebe ernst machen, dann würde man sich einer großen Verantwortung gegenübersehen... Es geht dann nicht nur um die Verantwortung, einen anderen Menschen zu „schonen“ oder ihm zu „helfen“, seinen Irrtum einzusehen. Es geht darum, selbst ganz und gar wahrhaftig diesen Irrtum einzusehen und so sehr wie möglich dabei zu helfen, dass die Wahrheit erkannt wird. Es geht nicht darum, demjenigen zu helfen, dessen Darstellungen die Wahrheit verdunkeln, sondern darum, allen Menschen zu helfen, sich dadurch nicht irreführen zu lassen. Um nichts anderes geht es – das ist Handeln im Dienste Michaels.

Wenn der Andere, dessen Anschauungen entgegenzutreten man sich genötigt fühlt, wirklich ein Wahrheitssucher ist – wenn er es wirklich ist! –, dann wird er keine Probleme haben (auch wenn es sehr schmerzen mag), seinen Irrtum einzusehen und fortan der Wahrheit zu folgen. Ja, der Wahrheitssucher wird demjenigen, der seine bisherige Anschauung bekämpfen musste, sogar dankbar sein – im Gegensatz zur äußeren Welt, die in dem entschiedenen Streiter für die Wahrheit etwas Unchristliches zu erblicken meint.

Christus und Michael sind keine Gegner. Michael kämpft im Dienste des Christus. Das entschlossene, unerschütterliche Hinweisen auf die Wahrheit und auf die Stolpersteine, Gefahren, Ablenkungen, Seitenwege und Irrtümer ist der treueste Dienst für die Wahrheit – die erkannt werden will. Das Wesen dieser Wahrheit aber ist gerade das Wesen des Christus. „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“, es sind Seine Worte. Und man findet Ihn auf dem anthroposophischen Erkenntnisweg, der zum reinen Denken führt. Dieses Denken ist nicht einfach das „sinnlichkeitsfreie“ Denken. Es ist ein Denken, was wirklich das Tor zur geistigen Welt ist, was in die reale geistige Welt hineinführt. Und der Christus hat auch gesprochen: „Ich bin die Tür“...

Es ist nicht unchristlich, scharf dasjenige zurückzuweisen, was den Weg zu Christus verdeckt...

Unchristlich ist es, die Menschen im Irrtum zu lassen und sei es aus falscher Rücksicht auf einen Menschenbruder. Ist er wirklich ein Wahrheitssucher, wird er auch scharfe Kritik nicht nur dankbar „verzeihen“, sondern fortan selbst wünschen, dass der Irrtum schonungslos richtiggestellt wird. Auch ihm wird es nicht um seine Person gehen, und es wird ihm nichts ausmachen, dass die Kritik notwendigerweise mit seiner Person verbunden ist, er wird sich vielmehr heiß schämen – und dies wird ihm sehr viel ausmachen! –, dass er zum Irrtum beigetragen hatte...

Blicken wir also auf das wahrhaft Christliche, blicken wir auf die Frage des Christus an den Menschen: Was ist das Wesen der Anthroposophie?