28.11.2010

Vom weihnachtlichen Geheimnis der Zeit

Eine Besinnung.


Niemand hat Zeit. Jedenfalls nicht viel. Oft immer weniger. Wenn wir das Geheimnis der Zeitnot herausfinden wollten und keine Zeit hätten, uns verschiedenen Fragen zuzuwenden ... wenn wir uns für eine Frage entscheiden müssten: Was wäre dann die wichtigere? Warum haben die Menschen keine Zeit? Oder wofür haben die Menschen keine Zeit?

Nehmen wir an, dass uns auf die erste Frage nach dem „Warum“ die üblichen Antworten und hilflosen Nicht-Antworten einfallen werden, so ist die Frage nach dem „Wofür“ doch vielleicht die aufschlussreichere. Vielleicht enthält sie gerade auch die Antwort auf das Warum...

Wofür haben die Menschen keine Zeit? Für die Abholung eines Lotto-Hauptgewinnes? Für eine Begegnung mit ihrem Traumpartner? Oder dafür schon? Und wie ist es mit Träumen überhaupt? Haben wir Zeit für unsere Träume? Nein? Haben wir Zeit für die Wirklichkeit? „Muss ja“? Aber eben wenig – weil die Wirklichkeit so vielfältig auf uns zustürzt wie ein Spiegelkabinett? So wie es in der Redewendung heißt: „Wie geht’s?“ – „Muss ja“. Man lebt so dahin. Lebt man oder wird man gelebt? Hat man keine Zeit, weil man von der Zeit gehabt wird? In den Klauen der Zeit, die wie der Adler dem Prometheus die Leber, so uns das Leben und die Ruhe aus dem Leibe reißt, indem sie unzählige kleine Pflichten auf uns abschießt?

Wofür haben wir keine Zeit? Für die Pflichten? Oder für die Muße? Oh, heilige Pflicht, für Dich habe ich immer Zeit? Ist die Pflicht unsere holde Geliebte oder ist sie der verhasste Herrscher, der uns unterdrückt? Wofür haben wir keine Zeit? Für die Pflicht, die hunderte von Pflichten, haben wir doch wohl Zeit. Jedenfalls immer gerade noch so. Nur manchmal nicht, aber dann schon ein schlechtes Gewissen. Nur nach allen Pflichten bleibt doch keine Zeit mehr, nicht wahr? Der Herrscher, der uns unterdrückt, hat also seine Fron bekommen – und wofür haben wir keine Zeit mehr?

Wann haben wir Zeit für die wahre holde Geliebte? Wer ist das überhaupt – von wem spricht er? Wenn ich jetzt einmal sage, dass wir alle eine holde Geliebte haben, die wir so behandeln, dass sie sich unser bitterlich schämen müsste, wenn sie es könnte... Von wem hält uns der Herrscher der Pflichten fern, der uns von einem Ereignis und Termin zum nächsten jagt? Wo jagt er uns denn hin? Hierhin und dorthin. Beliebig in Zeit und Raum. Für ihn ist nur wichtig, dass wir uns in Zeit und Raum so viel wie möglich zerreißen. Unsere Zeit zerreißt, unsere Aufmerksamkeit zerreißt, unsere Nerven zerreißen, unsere Ruhe zerreißt, unsere Gefühle, die gar nicht hinterherkommen, nur noch atemlos immer unbeteiligter bleiben, ja sich vielleicht sogar in ihr Gegenteil verkehren, weil sie immerhin unbewusst spüren, dass etwas falsch ist.

Auf dass sie sie nicht finden...

Von wem hält uns dies alles also fern? Die Pflichten rufen hierhin und dorthin, zu jeder Tageszeit. Dort fehlt etwas, dort werden wir zerrissen. Wo also ist jener Punkt, den wir nicht finden sollen? Er ist gerade dort, wo das Gezerre der Pflichten nie hingelangen kann. Das Spektakel der Pflichten soll unseren Blick ablenken, damit wir diesen Punkt nie finden. Er muss also das Gegenteil von alledem sein. Nichts hier und dort, jetzt und nachher. Er ist ganz innen. Räumlich und zeitlich innen. Das Zentrum. Das Vergessene. Man kann es die holde Geliebte nennen. Sie müsste sich bitterlich schämen, denn wann gedenken wir ihrer? Es ist die Seele.

Schauen wir einmal voll warmer Ruhe, jenseits aller Zeit, auf die Seele und wenden wir unseren Blick nicht wieder von ihr ab, so können wir bemerken, was geschieht. Wenn der Herrscher der Pflichten uns hierhin und dorthin befiehlt, so ist es die Seele selbst, die zerrissen wird. Wir vergessen sie, aber sie ist immer bei uns – und wehrlos wird sie von uns geopfert, auf dem Altar der Pflichten, wo sie zerrissen wird, weil wir ihrer nicht gedenken, ihrer nicht bewusst sind.

Und genau das will der dunkle Herrscher der Pflichten, der sogenannte Fürst dieser Welt – er will unsere Seele. Nicht unsere Zeit. Unsere Seele. Und wir opfern sie ihm, weil wir es gar nicht bemerken. Weil wir sie gar nicht bemerken. Wir bemerken nur die Zeit, die wir opfern müssen – und wir glauben, das muss so sein. Aber wir bemerken nicht, wie wir unsere Seele opfern. Sie bleibt unbewusst und daher vollkommen wehrlos. Und während sie dann die Foltern ertragen muss – worin diese bestehen, darüber kann man nachdenken –, schaut sie traurig zu uns zurück und sieht, dass wir ihr Schicksal nicht einmal bemerken, sondern bereits zur nächsten Pflicht eilen...

Der Fürst dieser Welt gewinnt seinen Kampf nicht erst dann, wenn er uns zur Sünde verführt. Sondern schon dann, wenn wir etwas tun, was wir gar nicht als Sünde erkennen. Denn es ist doch die Sünde schlechthin, wenn wir unsere Seele opfern – denn nichts anderes als sie will er ja haben... Und genau das geschieht: Er hat sie, wenn wir uns in die Pflichten treiben lassen, ohne ihrer zu gedenken.

Und warum? Weil sie, die Seele, die holde Herrscherin sein sollte, die in die Welt hineingeht und die Welt mit ihrem holden Licht durchstrahlt. Wann tut sie das? Wann tut sie das jemals? Wenn wir von einem Termin zum nächsten jagen, schleifen wir sie wie eine Gefangene mit, und der Fürst dieser Welt, der die Macht über die Zeit hat, blickt sie bei jedem Termin höhnisch an, weil er sieht, wie sie gequält wird und wie ihre Krone herabgeschlagen ist, unauffindbar...

Wo sind wir jemals so anwesend, dass unsere Seele selbst Königin sein kann? Wann jemals strahlt sie in ihrer ganzen Würde und edlen Schönheit durch unsere Augen, spricht durch unseren Mund, leuchtet in unseren Gesten und Taten? Wann sind wir mit unserem ganzen Wesen an-wesend, mit unseren ganzen Hoffnungen, unserem ganzen Glauben, unserer ganzen Liebe? In solchen Augenblicken ist die Seele Königin. Sonst ist sie Dienerin oder sogar Getriebene, Gefangene...

Dienerin des Höchsten

Die Seele will Dienerin sein – aber nicht die Dienerin des Fürsten dieser Welt, sondern die Dienerin dessen, dessen Reich nicht von dieser Welt ist... Die Seele will dem Geiste dienen. Denn der Geist ist die Quelle all dessen, was die Seele vom Fürsten dieser Welt unterscheidet. Die Seele kann diesem Fürsten auch verfallen, wo sie sich dunklen Impulsen, Instinkten, Fanatismen, Hass und so weiter hingibt. Sie kann sich auch in ihrem eigenen Reich verirren, indem sie sich fortwährend nur den unverwandelten seelischen Regungen von Sympathie und Antipathie hingibt. Wahrhaft Königin, strahlende edle Königin in ihrem eigenen Reich wird sie erst, indem sie sich mit dem Geist vermählt. In dem Maße, in dem dies geschieht, ziehen Weisheit und Liebe in ihr Reich ein. Wenn dies geschieht, hat der Fürst dieser Welt eine Seele verloren...

Die Suche, das Rufen der Seele nach dem Geist – es kann zunächst nur in jenen stillen Momenten stattfinden, in denen die Seele mit sich allein ist. Das nannte man, je nach Tiefe des Geschehens, schon immer Besinnung, Kontemplation, Meditation... Die Seele ist niemals vollkommen. Aber der allergrößte Schritt besteht bereits in der Erkenntnis, wie unvollkommen sie ist. Je mehr sie dies erlebt, desto mehr erblickt sie von dem Reich des Geistes und von dem Weg, der sich vor ihr eröffnet – und den sie gehen kann, wenn sie es will. Auf diesem Weg findet sie aber immer zugleich wahrhaft zu sich selbst, denn sie findet ihre wahre Heimat.

Dann lernt sie immer mehr, dasjenige, womit sie sich in diesen stillen Stunden verbindet, auch in die „lauten Stunden“ hineinzutragen, in die Welt. Dann verliert sie sich selbst immer weniger, dann kann sie immer mehr ihr edles Königtum hinausstrahlen lassen. Der Fürst dieser Welt verliert seine Macht über sie – sie aber erlebt sich immer mehr als edle Dienerin eines ewigen Reiches, als eine bescheidene Trägerin des Christophorus-Geheimnis.

Und was hat dies mit der Zeit zu tun? Die Zeit, die Zeitnot, die Not der Zeit – das ist eine Kategorie dieser Welt. Vermählt sich die Seele mit etwas, was nicht von dieser Welt ist, was diese Welt überwunden hat, so ist auch die Zeit und ihre Not überwunden. Nicht völlig, denn so wie Christus die Steine nicht in Brot verwandelt hat, so leben wir in dieser Welt, in der die äußere Zeit dahinfließt. Aber im Innersten überwunden ist doch ihr Zwang, der die Seele misshandelt und ihrer Königswürde entkleidet hat.

Wo die Liebe herrscht, ist die Zeit als Not und als Zwang überwunden. Jeder Augenblick ist der richtige, jeder Mensch, der mir begegnet, ist der richtige. Und wenn der Augenblick nicht richtig ist, wenn ich etwas tue, was nicht richtig ist, dann muss ich etwas anderes tun – dasjenige, was in diesem Augenblick richtig ist... Es gibt keine Pflicht, nur dasjenige, was ich als gut erkannt habe, was ich von ganzem Herzen bejahe, was ich mit aller Kraft will. Was ich jetzt nicht schaffe, muss warten – und es kann warten und wird warten... Wichtig ist nicht, dass ich alles schaffe, wichtig ist, dass in allem die Liebe lebt und die Seele in all ihren Taten durch ihre edle Würde bescheiden vom Geheimnis dessen zeugt, mit dem sie sich verbunden hat.

Die Zeit des Mittwinters war schon immer eine Zeit heiliger Besinnung. Im Christentum wird Weihnachten als das Fest der Menschwerdung Gottes – als der Beginn dieses Mysteriums – gefeiert. Dieses Geheimnis ist nicht nur ein historisches. Die Mystiker wussten, dass es sich seit dieser Zeitenwende in jeder Menschenseele ereignen will. Das Geheimnis selbst sucht den Menschen. Die Weihnachtszeit ist jene, in der sich die Seele wohl am tiefsten und innigsten auf dieses Geheimnis besinnen und es suchen kann. Und so kommen sich beide entgegen: Die Seele und das Mysterium... Advent bedeutet für die Seele Besinnung – aber wörtlich bedeutet es Ankunft...

Die Zeitnot wird überwunden, wenn die Seele ihre Not erkennt und in innerster Suche überwindet. Was sie auf diesem Weg findet, ist ein Mysterium, ein Wunder. Der Mensch lebt danach weiter in der Welt, er hat äußerlich gesehen nicht mehr Zeit als vorher, und dennoch hört die bisherige Bedeutung all dieser Begriffe vollkommen auf. Denn die Zeit gewinnt eine vollkommen andere Qualität. Es strahlt etwas in sie hinein, was alle Not überwindet, weil es aus dem Reich der Ewigkeit strömt. Wo Zeit zu Liebe wird, herrscht keine Not...