07.12.2010

Die Kontroverse Ziegler - Mosmuller in der "Gegenwart"

Renatus Zieglers "Besprechung" von Mieke Mosmullers Buch "Das Tor zur geistigen Welt" und ihre Antwort in "Gegenwart" Nr. 4/2010, S. 55-61.


Renatus Ziegler: Realität des Geistes: Ausgrenzung oder Vereinnahmung?
Mieke Mosmuller: Philosophie der Freiheit als Gesetzbuch


Realität des Geistes: Ausgrenzung oder Vereinnahmung?

Renatus Ziegler 

Jenseits von Ausgrenzung oder Vereinnahmung

In jüngerer Zeit erscheinen vermehrt Untersuchungen über verschiedene Zugangsformen zur Realität des Geistigen. In der Rezeption derselben ist oft eine Tendenz zu verzeichnen zu entweder enthusiastischer Begrüssung bis hin zur Vereinnahmung für die eigenen Ziele und Zwecke. Oder es herrscht eine ablehnende Abgrenzung bis hin zur Ausgrenzung aus dem eigenen Erkenntnisgarten. Von einer differenzierten Auseinandersetzung mit verwandten oder gar andersartigen Erkenntnisanschauungen ist leider selten etwas zu hören oder zu sehen. Dabei ist bei einigem Nachsinnen und Innehalten schnell zu merken, dass die Scheinalternativen[1] von Ausgrenzung oder Vereinnahmung die Erkenntnismöglichkeiten eher behindern als ihre Entwicklung fördern. Im Folgenden geht es vor allem um Strategien der Ausgrenzung, die jedoch, wie man sehen wird, nicht ohne Vereinnahmungen (und umgekehrt) auskommen.

Es scheint, dass die vieldiskutierten und immer wieder zitierten Weltanschauungen und Weltanschauungsstimmungen von Rudolf Steiner[2] ihre fruchtbare Wirkung noch wenig entfalten konnten. Sie werden vielleicht verstanden und rezipiert, sind aber noch kaum zur Fähigkeit geworden.

Die grundsätzliche Perspektivität des Erkennens, sowohl hinsichtlich des jeweiligen Wahrnehmungsumfeldes als auch des individuellen Ideenvermögens, scheint ebenfalls noch wenig ins Bewusstsein aufgenommen worden zu sein.[3] Diese Einsicht steht nicht im Widerspruch zur Universalität des Erkenntnisprinzips, zur unbeschränkten Erkennbarkeit der erfahrenen Welt. Denn dieses betrifft die grundsätzliche Ausrichtung, die unbeschränkte Steigerbarkeit der Erkenntnisfähigkeit. Nichts desto trotz ist jeder konkrete Erkenntnisakt an subjektive Perspektiven des ausführenden Menschen gebunden, die zwar immer wieder überwunden und variiert werden können, aber notwendigerweise Teil der sich aufs Konkrete richtenden Verwirklichung des Erkennens selbst sind.

Im weiteren legt Steiner grossen Wert darauf, dass es nicht nur einen Weg zur Anthroposophie, nicht nur einen Weg zur Anerkennung der geistigen Welt gibt, sondern mehrere verschiedene, je nach den Anlagen, Fähigkeiten und Bedürfnissen geistoffener Menschen.[4]

Rechtfertigungen und Ausgrenzungen

Vor kurzem erschien von der niederländischen Autorin Mieke Mosmuller ein Buch zur Thematik der Geisterkenntnis.[5] Mit dem Titel Das Tor zur geistigen Welt wird der Anspruch verbunden, den Weg in die geistige Welt darzustellen, wie wenn es selbstverständlich wäre, dass es nur einen einzigen Weg gibt. In ihren kritischen Ausführungen bezieht sie sich neben der Diskussion von Schriften von Michael Muschalle (S. 95–185), die hier nicht zu besprechen sind, vor allem auf das Buch von Ziegler Intuition und Ich-Erfahrung[6] (S. 187–308).

Im Rahmen einer Darstellung des persönlichen Lebenweges beansprucht Mosmuller ein tiefgehendes Erleben der geistigen Natur des tätigen Denkens. Im gleichen Atemzug (das heisst im gleichen Buch) spricht sie Ziegler ein Erleben des Denkens, das über ein verstandesmässiges, gedächtnisgebundenes Räsonnieren hinausgeht, rundweg ab (S. 209, 256f.). Wie auch immer die Tatsachen liegen mögen und auf welche Weise das überhaupt beurteilt werden kann, es wird nicht einmal diskutiert, dass ähnliche Erlebnisse verschiedener Menschen von diesen selbst auf durchaus unterschiedliche Weisen interpretiert (verstanden, erkannt, …) werden können oder unterschiedlich mit ihnen umgegangen werden kann. Da Ziegler nicht schreibt und darstellt, was die Autorin als ihr Erleben auffasst, kann er nichts dergleichen erlebt haben – so der Schluss von Mosmuller. Wie aber, wenn er den Schwerpunkt der Verarbeitung anders setzte, oder auf Dinge aufmerksam machen will, die Mosmuller weniger wichtig sind? Anstatt die durchaus unterschiedlichen Gesichtspunkte sorgfältig herauszuarbeiten, setzt sie die eigene Auffassung wort- und zitatenreich dagegen, verbunden mit einschlägigem anthroposophisch erweitertem explizitem Ausgrenzungsvokabular (das im Übrigen zum Teil schon gegen Carl Unger eingesetzt wurde): verstandesmässig (S. 223, 243f., 268), mineralische Erkenntnisart (S. 239, 273, 283),  verstandesseelig (S. 282), dekadent (S. 294), arabistisch (S. 269), averroistisch (S. 297). Verbunden mit einer ganzen Palette von Unterstellungen im Sinne von Verunmöglichung, Verlust oder Leugnung der Anthroposophie (S. 209, 230, 256, 262, 277) gibt es auch implizite Ausgrenzungen im Umkehrschluss durch die Technik der Vereinnahmung der eigenen Anschauung als dem „Licht-Ich“ zugehörig (im Gegensatz zum „Schatten-Ich“, S. 309–315) oder als „christlich“ (S. 316–319).

Keim und Entfaltung

Wo immer Mosmuller ihren eigenen Zugang zum tätigen Denken beschreibt, auf dessen Bedeutung und Tragweite aufmerksam macht, positive Beispiele darstellt und bespricht, hat man – von hier nicht zu diskutierenden Einzelheiten abgesehen – wenig Schwierigkeiten, erlebnismässig und gedanklich nachzuvollziehen und zu bejahen, wovon sie schreibt. Man braucht zu diesen Exkursen und Ergebnissen im Wesentlichen nichts einzuwenden, auch wenn Zieglers Art der Darstellung solcher Erlebnisse durchaus von der ihrigen abweicht. Wo Mosmuller auf Zieglers eigene Darstellungen zu sprechen kommt, kann man feststellen, dass Mosmuller versucht, Ziegler gewissermassen mit sich selbst zu widerlegen. Denn zu all den von ihr beanstandeten Darstellungen, die sie fast ausschliesslich aus den ersten hundert Seiten seines Buches entnimmt, finden sich meist in den hinteren Teilen desselben erweiternde Gesichtspunkten, die sie offensichtlich kaum zur Kenntnis genommen hat. Sie stimmen mit ihren eigenen Ausführungen so hinreichend zusammen, dass aus ihnen kein Widerspruch zwischen den beiden Autoren abgeleitet werden kann. Es ist so, dass Ziegler das, was Mosmuller gegen seine Darstellungen einwendet, in aller Regel selbst vollständig bejaht – es gibt eben gar keine inhaltlichen Gründe, Ziegler ihre eigenen Erlebnisse, ihre Zitate Steiners oder ihre Zitate aus ihren eigenen Werken entgegenzuhalten, da er auf entsprechende Einsichten in seinem Buch (aber an anderen Stellen als an den von ihr explizit herangezogenen) aufmerksam gemacht hat. Es werden, was den Inhalt anbetrifft, durch die Autorin fast durchgängig offene Türen eingerannt.

Was liegt hier vor? Mosmuller legt grossen Wert auf das Urerlebnis des tätigen Denkens, auf die Ursprünglichkeit der individuellen Ich-Kraft im Denken, auf die Einheit des denkenden Ich mit der geistigen Welt, insbesondere mit der Ideenwelt und im Erleben der eigenen Denktätigkeit. Das ist tatsächlich entscheidend und kann nicht oft genug betont werden. Vielleicht hat Ziegler das tatsächlich nicht oft genug wiederholt. Man kann jedoch auch sorgfältig, Schritt für Schritt, über verschiedene Klippen und Widerstände hinweg, zu diesem Erleben hinführen, ohne schon beim ersten und zweiten Schritt gleich das fertige Ergebnis anzuführen; man kann verschieden Stufen oder Schritte des Erlebens unterscheiden, kann die Erlebnisinhalte selbst differenzieren und deren Entfaltung bestimmen etc., ohne ständige Wiederholung des genannten entscheidenden Punktes.

Mosmuller argumentiert dagegen wie eine Naturliebhaberin, die immer wieder und wieder auf die schon alles enthaltende Keimkraft des Samens (hier: das Erleben des tätigen Denkens) aufmerksam macht und betont, dass aus und durch diese Kraft, wenn man sie wirklich verinnerlicht, eben alles weitere wie aus einem Keim hervorspriessen wird. Es scheint dann wie eine Sklerotisierung des Erkenntnisstromes, wenn auf einzelne Entwicklungsstadien dieser Entfaltung hingewiesen wird. Es tut jedoch weder diesem ursprünglichen Naturerleben (noch dem Erleben des tätigen Denkens) einen Abbruch, sondern kann es bereichern, wenn dies ergänzt wird durch Unterscheidungen zwischen Same, Wurzel, Stengel, Keimblätter, Laubblätter, Kelchblätter, Blütenblätter, Fruchtknoten, Staubgefässe, Frucht etc. Ja, natürlich, wenn bei diesem Differenzieren das Erleben und Ernstnehmen der ursprünglichen Keimkraft verloren geht, vergessen oder gar ignoriert wird – und das ist eine reale Gefahr –, dann ist etwas schief gelaufen. Ebenso schief (das heisst einseitig) ist es jedoch, allein auf diese Keimkraft zu blicken und deren gegliederte Entfaltung, Bestimmung und differenzierte Bewusstwerdung nicht ins Auge fassen zu wollen. Persönlich mag man diese Vorgehensweise durchaus unterschiedlich gewichten – aber ist das ein hinreichender Grund für eine Ausgrenzung bis hin zum „Gegner“ der Anthroposophie, oder gar zum Autor einer „Anti-Philosophie der Freiheit“?[7]

Ausnahmezustand

An zentraler Stelle steht bei Mosmuller die Diskussion der Bedeutung und Tragweite des Ausnahmezustandes aus dem 3. Kapitel des Werkes Die Philosophie der Freiheit von Rudolf Steiner. Wo liegen die Differenzen in der Auffassung desselben bei Mosmuller und Ziegler? Bei Mosmuller ist der Ausnahmezustand Quelle und Methode aller bewussten gegenwärtigen und zukünftigen Geistanschauungen, Erfüllung und Ziel geistiger Erkenntnis zugleich; es kann und muss nichts darüber hinaus geben, da er bereits zu allem hinführt, alles in ihm im Prinzip enthalten ist.

Für Ziegler ist der Ausnahmezustand ein Üb- und Durchgangsraum, ein Entwicklungsschritt, der in mehreren Schritten bis zur Intuition in umfassenderem Sinne hin weiter entwickelt werden kann; er ist das notwendige Übfeld, der Erkenntnisacker, der unabdingbare Ausgangs- und Rückkehrpunkt aller geistigen Erkenntnis der gegenwärtigen allgemein-menschlichen Bewusstseinskonstitution. So wie nach Steiner im und durch den Freiheitsakt die gesamte Anthroposophie gefunden werden kann[8], der Freiheitsakt aber nicht die gesamte entfaltete Anthroposophie ist, so liegen nach Ziegler im Erüben und Praktizieren des Ausnahmezustands die Keime zukünftiger Erkenntnisentwicklungen – sind jedoch in ihm nicht in bereits entfalteter Form vorhanden: Er muss zu umfassenden Stufen des unmittelbaren Erlebens und Erkennens von Formkräften weitergebildet werden.

Diese beiden Auffassungen müssen sich nicht widersprechen, wenn man zwischen Keim und Ausgangspunkt einerseits und Entfaltung und Ausgestaltung andererseits unterscheiden mag. Sowohl geistige Erkenntnis selbst als auch ihre Methodik sind keine Zustände, sondern Stufen einer fortschreitenden Entwicklung. Das weiss natürlich auch Mosmuller; aber warum berücksichtigt sie im vorliegenden Falle nicht, was das konkret bedeutet?

Erleben und Differenzieren

Die tieferen Anliegen von Mosmuller und Ziegler sind sich näher, als die Autorin glauben machen will. Es bleiben jedoch noch genügend Unterschiede, um eine gegenseitige Vereinnahmung auszuschliessen. Die von Mosmuller selbst in Anspruch genommene Erlebnisintensität angesichts der Auseinandersetzung mit dem Werk Die Philosophie der Freiheit mag in tiefere und weitere Dimensionen reichen als diejenige von Ziegler – aber muss deshalb die Darstellung des letzteren falsch oder gar irreführend sein? Natürlich hat sich Ziegler eher der gedanklich-ideellen, der rational-analytischen als der beschreibend-phänomenologischen Methode verschrieben (wobei erstere nota bene die Ganzheit des zu Analysierenden als Vorbedingung hat) – aber eben einer Methode und nicht einer weltanschaulichen Ausrichtung. Tatsächlich gibt es bei vielen gegenwärtigen (und auch historischen) analytischen Philosophen durchaus nominalistische und agnostische, ja anti-spirituelle Tendenzen; das ist jedoch keine notwendige Bedingung oder gar Folge der analytischen Methode (dazu gibt es mancherlei Gegenbeispiel).

Was man Ziegler nicht vorwerfen kann, sind Nominalismus, Agnostizismus oder Naturalismus. Er berichtet von der erlebten Geist-Wirksamkeit sowohl in Form der angeschauten Ideen, als auch hinsichtlich der Denk- und Ich-Tätigkeit. Diese Erlebnis-Basis mag, von aussen beurteilt, schmal sein, ist aber das feste Fundament aller seiner Ausführungen. Da ihm die erkenntnisbegründenden und freiheitsermöglichenden Qualitäten des Werkes Die Philosophie der Freiheit besonders am Herzen liegen, hat er versucht, diese seiner Ansicht nach hauptsächlichen Komponenten des genannten Werkes in begriffstechnisch-analytischer Weise näher auszuarbeiten und in einer Synthese (eben dem ganzen Buch) in bewusster Weise explizit zugänglich zu machen. Wen das nicht wirklich interessiert, oder wem das als zu weltfremd oder zu abstrakt erscheint (weil er oder sie es für sich nicht verlebendigen können), der muss sich ja nicht darauf einlassen. Die in Zieglers Buch entfaltete Zugangsweise mag einem in intensiven und weiträumigen Erlebnissen verweilenden Menschen zu eng und zu differenziert sein, ja ihm vielleicht als Ablenkung, Behinderung oder gar Irreführung erscheinen – sie hat jedoch nur das eine Ziel, dieses Steinersche Grundlagenwerk auch in dem Sinne erkenntnispraktisch fruchtbar zu machen, dass seine philosophische Differenziertheit und methodische Spezifität sichtbar werden. Erlebnisintensität und philosophisch-begriffliche Ausdifferenzierung können sich ergänzen, wenn deren Vertreter denn dazu bereit sind, sich aufeinander einzulassen.

Ziegler behauptet nirgends, dass er etwa die Tiefen des Ich weitgehend oder gar ganz ausgelotet habe – wer kann das schon von sich sagen? Im Gegenteil, er schreibt klar und deutlich, dass nur ausgewählte, eben philosophisch-ideell erfassbare Aspekte desselben diskutiert werden. Warum ihm daraus einen Strick drehen (S. 291–308)?

Wäre es nicht auch dem Geist der Steinerschen Rätsel der Philosophie näher und angemessener, sowie für eine konkrete Erkenntnisauseinandersetzung zwischen aktuell denkenden Menschen fruchtbarer, einige Mühe darauf zu verwenden, herauszufinden, welchen Gesichtspunkt der Andere einnimmt, und diesen dann auf den eigenen zu beziehen, anstatt unter dem scharf fokussierten Lichtstrahl des eigenen Gesichtspunktes nur die Dunkelheit eines anderen, dadurch gar nicht ausgeleuchteten Erkenntniswinkels zu konstatieren?[9]

Fußnoten


[1] Siehe dazu Stefan Brotbeck, Geist in Platznot? – Scheinalternativen. In: Das Goetheanum 2006, Nr. 19, S. 8–9. Auch die Aufmerksamkeit auf die Gesten von Ausgrenzung und Vereinnahmung verdanke ich Stefan Brotbeck.

[2] Rudolf Steiner: Der menschliche und der kosmische Gedanke (1914). Dornach: Rudolf Steiner Verlag 1990 (GA 151, 6. Auflage).

[3] Siehe dazu Rudolf Steiner, Anthroposophie – Ein Fragment (1910). Dornach: Rudolf Steiner Verlag 2002 (GA 45, 4. Auflage), Kapitel I: Der Charakter der Anthroposophie, insbesondere S. 11–20 und den ersten Vortrag in einer Reihe über Anthroposophie in Berlin am 23. Oktober 1909 in Anthroposophie – Psychosophie – Pneumatosophie, Dornach: Rudolf Steiner Verlag 2001 (GA 115, 4. Auflage), insbesondere S. 15–19.

[4] Rudolf Steiner: Theosophie und gegenwärtige Geistesströmungen, in: Lucifer-Gnosis (1903–1908), Dornach: Rudolf Steiner Verlag 1987 (GA 34, 2. Auflage), S. 286–298.

[5] Mieke Mosmuller, Das Tor zur geistigen Welt: Seine Riegel und Scharniere. Baarle Nassau: Occident Verlag 2010.

[6] Renatus Ziegler, Intuition und Ich-Erfahrung. Erkenntnis und Freiheit zwischen Gegenwart und Ewigkeit. Stuttgart: Freies Geistesleben 2006. – Da es mir in den folgenden Betrachtungen, ebenso wie in Mosmullers Ausführungen zu Ziegler, nicht um bestimmte Personen geht, schreibe ich auch von mir nur in der dritten Person. Ich empfinde mich weder persönlich noch sachlich (siehe weiter unten) in irgendeiner Weise angegriffen. Meines Erachtens werden nur die von mir vertretenen Sachverhalte nicht Ernst, ja nicht einmal zur Kenntnis, geschweige denn ins Verstehen aufgenommen – trotz des gegenteiligen Anscheins anhand mannigfacher Zitate aus dem genannten Buch.

[7] Siehe Mieke Mosmuller, Der lebendige Rudolf Steiner: Eine Apologie, Baarle Nassau: Occident Verlag 2008, 1. Auflage, S. 197. Dort wird dies als „erste Art innerer Gegnerschaft der Anthroposophie in heutiger Zeit“ abgehandelt; diese „richtet sich gegen das Wesen der Umwandlung der Erkenntnis von einer Verstandes-Erkenntnis in eine Geist-Erkenntnis“ (ebenda). – Als Nebenbemerkung kann festgehalten werden, dass auf diese Art der Ausgrenzung als Gegner der Anthroposophie (die auch Michael Muschalle betriftt) in keiner der mir bekannten (meist sehr enthusiastischen) Rezensionen dieses nun schon in 3. Auflage erscheinenden Buches substantiell eingegangen wurde.

[8] Gespräch Walter Johannes Steins mit Rudolf Steiner während des Haager Hochschulkurses vom 7. bis 12 April 1922. In: Thomas Meyer (Hrsg.), W. J. Stein / Rudolf Steiner: Dokumentation eines wegweisenden Zusammenwirkens (Dornach: Verlag am Goetheanum 1985), Das ‚Haager Gespräch’, S. 293-300.

[9] Es soll hier nicht unausgesprochen bleiben oder nur durch die Blume gesagt werden, dass Mosmullers Buch neben seinen inhaltlichen Ausführungen, formal auch als eine exemplarische Studie zur Strategie der Ausgrenzung und Vereinnahmung einer Denkart unter dem Deckmantel eines Wahrheitsanspruchs gelesen werden kann. Das umfasst selbstverständlich nicht die Hauptintention des Buches von Mosmuller, ist aber eine so wohl nicht bewusst beabsichtigte aber dennoch nicht zu übersehende Nebenwirkung.

Philosophie der Freiheit als Gesetzbuch

Antwort auf den Aufsatz von Renatus Ziegler „Realität des Geistes: Ausgrenzung oder Vereinnahmung?“

Mieke Mosmuller


Obwohl es mir fast unmöglich scheint, diesem Aufsatz von Renatus Ziegler etwas Sinnvolles entgegen zu halten, werde ich doch einen Versuch wagen.

Eigentlich wird gesagt, dass meine Kritik an Zieglers Darstellungen in seinem Buch Intuition und Ich-Erfahrung überflüssig sei, weil er darin dasselbe beschrieben habe wie ich, nur in einer anderen Art, nämlich gedanklich-ideell, rational-analytisch. Ich hätte sein Buch nicht gründlich und objektiv gelesen, auch nicht ganz gelesen, sonst hätte ich die Übereinstimmung  gefunden. Faktisch beschränkt sich Zieglers Entgegnung bezüglich des Inhalts meines Buches Das Tor zur geistigen Welt. Seine Riegel und Scharniere, darauf.

Der übrige Teil des Aufsatzes enthält eine Diagnose meiner seelischen Beschaffenheit. Diese wird in philosophische Begriffe gehüllt, wodurch sie doch ‚durch die Blume gesprochen wird’ (siehe Fußnote 9 in Zieglers Aufsatz). Dadurch klingt es nicht so hart, wie es aber doch gemeint ist. Denn man sollte die Begriffe, die so freundlich verwendet werden, Ausgrenzung und Vereinnahmung einfach so nennen, wie sie gemeint sind. Es sind bestimmte Bewegungen der Seele, die auf niederen Trieben beruhen: egoistische Antipathie und Sympathie, unverblümt ausgedrückt: Hass und Gier.

Nur eine hasserfüllte Seele möchte ausgrenzen, nur eine gierige Seele vereinnahmen. Es wäre die anti-christliche Seele an sich, die überhaupt keinen Trieb fühlt, sich hinzugeben und sich von etwas anderem als sich selbst erfüllen zu lassen. Dann aber wären meine Darstellungen über die Erfahrungen am Tor der geistigen Welt einfach Lügen, denn so weit könnte eine solche Seele nie kommen, sie würde es auch nicht wollen.

Ziegler unterstellt, ich hätte ein explizites Ausgrenzungsvokabular, das auch bereits gegen Carl Unger vorgebracht worden sei. Da wird suggeriert – es steht nicht da, aber man könnte es so lesen –, dass ich solche Urteile über Carl Unger hätte. Ich benutze die Gelegenheit gerne, um zu erklären, dass ich die Arbeit von Carl Unger sehr schätze und sie nie als verstandesmäßig, abstrakt, dekadent, arabistisch bezeichnen würde.

Es erscheint im Aufsatz von Ziegler eine seelische Gestalt (meine Gestalt), die darauf aus ist, unter Missbrauch der Wahrheit sich selbst zu vermehren und alle anderen zu verringern. Da haben wir alles Gedanklich-Ideelle und Analytisch-Rationale verlassen. Was kann ich darauf sagen?

Was war nun mein wirkliches Anliegen? Das Buch Die Philosophie der Freiheit von Rudolf Steiner bildet das Tor zur geistigen Welt. Sie ist nicht die voll ausgestaltete geistige Welt, sie ist das Tor, und in diesem Sinne enthält sie die geistige Welt bereits, nur nicht voll ausgestaltet. Es gibt nur ein Tor der geistigen Welt – das ist keine Ausgrenzung und ebenso wenig eine Vereinnahmung –, aber es gibt viele Wege, die dieses Tor bilden können. Das Tor öffnet sich in dem Ausnahmezustand. Dieser ist also auch nicht die voll ausgestaltete geistige Welt, sondern er ist der Tor-Öffner, der Pförtner. Die volle geistige Welt ist er zwar, aber nicht ausgestaltet, er ist die Tür, nur durch sie können wir die Schwelle überschreiten. Das Tor öffnet sich, wenn der Suchende sich in die Lage bringen kann, in der er das Denken als Tätigkeit zugleich einsetzen wie auch anschauen kann. Der verwirklichte Ausnahmezustand ist sowohl die geistige Welt in ihrem Umfang, wie auch nur der Ausnahmezustand. Denn die da erlangte Intuition muss sich noch zu immer weiter reichender Geist-Erkenntnis ausgestalten. Wird nun „ein Gesetz eingeführt“, worin steht, dass dieser Zustand nicht eingenommen werden kann, so kann sich das Tor nicht mehr öffnen.

In der Philosophie der Freiheit liegt eine Kraft, die mit Hilfe von philosophischen Begriffen die Philosophie überwindet, überflüssig macht. Sie ist eigentlich gar nicht schwierig zu verstehen, wenn man sie nur einfach so nimmt, wie sie ist. Das bedeutet nicht, dass ich dazu auffordere, das gedanklich-ideelle und analytisch-rationale Element zu verlassen. Das könnte man ja gar nicht, denn die Philosophie der Freiheit bewegt sich ganz in diesem Element, führt durch ihr eigenes Wesen erst darüber hinaus. Ein Üben der Philosophie der Freiheit muss also immer ein Üben in diesem Element sein, das man ja auch tief lieben kann.

Der Unterschied liegt also nicht darin, sondern in der Tatsache, dass man sich mit diesem gedanklichen Element vermählen kann, es ganz werden kann – oder dass man sich ihm gegenüberstellen kann. Im zweiten Fall kommt man nicht hinein, bleibt außerhalb, und muss immer nach Bedeutungen fragen. Man kann doch verstehen, dass das gerade die ausgrenzende (nämlich antipathisch intellektuelle) und vereinnahmende (den Text in die eigenen Bedeutungen und Begriffe hineinnehmende) Tätigkeit ist.

Renatus Ziegler hat ein Gesetzbuch zur Philosophie der Freiheit geschrieben. Es wurde im Verlag Freies Geistesleben herausgegeben, was seine Richtigkeit unterstreicht. Die lebendigen Begriffe der Philosophie der Freiheit, in die der Leser sich hineinbegeben muss, als ob er sich in eine fremde, neue Weltanschauung hineinbegäbe, werden im Buch von Renatus Ziegler zu Gesetzen gemacht. Das ist eine Vereinnahmung, denn ein Gesetz lässt keine andere Bedeutung mehr zu. Alles wird festgelegt, es wurde ein Lehrbuch geschaffen, mit den Bedeutungen, wie Renatus Ziegler sie versteht, als Gesetze darin.

Wenn es wirklich um Geisteswissenschaft geht und um die Wege dahin, so muss es doch dazu eine inhaltliche Polemik geben dürfen, wie sie überall in der Wissenschaft üblich ist. Dass bei einer Auseinandersetzung auf dem Gebiet der Anthroposophie viel mehr ins Spiel kommt als nur Begriffe und Erkenntnisse, hängt damit zusammen, dass hier immer auch moralische Hintergründe mitsprechen. Dadurch ist sie schwieriger zu führen. Jene sollten jedoch nur im Allgemeinen mitsprechen, nicht zur Beurteilung der seelischen Entwicklung der Beteiligten.

Die Anthroposophie ist nicht nur eine Erkenntnisform, sie ist ein Erkenntnisweg, der neue Fähigkeiten im Erkennen entfalten kann. Gerade diese Möglichkeit zur Entfaltung wird durch ein Gesetzbuch gelähmt, paralysiert.

Mit dem Buch Das Tor zur geistigen Welt… will ich ein Gegengewicht bilden gegenüber der Macht der in anthroposophischen Kreisen herrschenden Konsenspraxis. Es wird ein Konsens angestrebt in Fragen, die nur die Individualität sich stellen kann. Was ist Anthroposophie? Wie soll sie in der Welt tönen? Wie übt man reines Denken? Was ist anthroposophische Meditation? Was steht in der Philosophie der Freiheit, wozu führt sie? Was ist die Bedeutung des Ausnahmezustands? Und so weiter.

Unser  heutiges ‚Paradigma‘ ist das der Toleranz, die auf eine rationale Verständigung beruhen soll, und diese Verständigung soll unser Handeln tragen. Es ist das Paradigma des kommunikativen Handelns, so hervorragend beschrieben von Jürgen Habermas.[1] Dasjenige, was im Kommunismus  angestrebt wurde, hat sich in diesem kommunikativen Handeln über die rationale Verständigung in das Gebiet des Geistigen erhoben. Es ist mit der Freiheit des Geistes nicht vereinbar.

Durch kommunikatives Handeln wird nach Konsens über die Wahrheit, die Authentizität einer Äußerung, die normative Richtigkeit einer Tat gestrebt. In anthroposophischen Kreisen könnten diese drei Kriterien noch weiter differenziert werden, im Sinne einer sozialen Dreigliederung.  Diese Dreigliederung würde dann jedoch unmittelbar das kommunikative Handeln als etwas Unmögliches erscheinen lassen. Das kommunikative Paradigma hat sich auch in anthroposophischen Kreisen zum führenden erhoben.  Doch Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der zum Tor der geistigen Welt führt. Dieser Weg heisst: Freiheit.

Aus dieser Freiheit heraus habe ich die Motive zum Schreiben meiner Bücher geschöpft, durchschaue ich meine Motive, und wähle ich die Art meines Vokabulars.

Die eigenen ausgrenzenden und vereinnahmenden Tätigkeiten werden demjenigen vorgeworfen, der aus eigener Einsicht frei etwas sagen will. Diese eigene Einsicht muss dann immer zur luziferischen Karikatur gemacht werden. Luzifer wird aber gerade im Ausnahmezustand, im Anschauen der eigenen Tätigkeit, mit angeschaut – und ist dann nicht mehr Luzifer.

Wenn Renatus Ziegler argumentieren würde, dass eine Gleichzeitigkeit des Ausübens der Tätigkeit des Denkens und des Anschauens derselben nicht möglich sei, dass meine Ausführungen nicht stimmen, dann wäre eine Kommunikation möglich. Ziegler ist aber gar nicht auf den Inhalt meiner Darstellungen eingegangen, er ist nur auf mich eingegangen. In meinem Buch habe ich das nicht so gemacht: ich habe mich zu den Inhalten seines Buches und zu der Ausgrenzung des Geistes geäußert, habe seine Vereinnahmung der ausschließlich richtigen Art des Übens (Gesetzbuch) kritisiert. Über die Person Renatus Ziegler habe ich kein Wort gesagt.

Fußnote


[1] 1998 erschien das Ergebnis meines Studiums dieser Arbeit von Jürgen Habermas: Ethisch individualisme versus kommunikatief handelen, een kritiek op Habermas’ theorie (deutsch noch nicht erhältlich).