Helmut Zanders Missverstehen der sozialen Dreigliederung

Strawe, Christoph: Helmut Zanders Missverstehen der sozialen Dreigliederung. Sozialimpulse, 4/2007. [o] | Hervorhebungen H.N., Fußnoten neu numeriert.


Inhalt
Dreigliederung des sozialen Organismus: auf „Politik“ verengt?
Wichtige Quellen der sozialen Dreigliederung verkannt?
Innere Zusammenhänge des Dreigliederungskonzepts ausgeblendet?
Zusammenhang von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten in der Dreigliederung ignoriert?
Steiners Kritik am Machtstaat – Prinzip unterbewertet?
Rolle der Ökonomie in der Dreigliederung schief interpretiert?
Freies Geistesleben als hegemoniales Steuerungsorgan missverstanden?
Sinn des Vergleichs von menschlichem und sozialem Organismus nicht erfasst?
Verhältnis von Esoterik und sozialer Dreigliederung fehlgedeutet?
Aktuelles Potenzial sozialer Dreigliederung übersehen?


Dreigliederung des sozialen Organismus: auf „Politik“ verengt?

Zander handelt das Thema Dreigliederung im Band 2 seines Werks unter dem Obertitel „Praxis“ und dem Untertitel „Politik“ ab (S. 1239–1356). Durch diese Reduktion versucht er sich einerseits zu entlasten und „große Teile der ökonomischen Theorie“ auszuklammern (S. 1239), andererseits kommt sie seinem Versuch entgegen, Steiners Konzeption des Geisteslebens machtpolitisch zu deuten. Steiners aus der sozialen Dreigliederung abgeleiteter Politikbegriff wird dabei nicht diskutiert.[1] [...] Vor den beiden „Memoranden“ von 1917 hat sich Steiner nach Meinung Zanders kaum mit gesellschaftspolitischen Fragen beschäftigt. Dagegen spricht manches, unter anderem die von Zander immerhin erwähnte Aufsatzserie „Theosophie und soziale Frage“ (1905/06), die offenbar nur wegen des mangelnden Interesses der Leserschaft der Zeitschrift Lucifer-Gnosis an sozialen Fragen nicht fortgeführt worden ist. Spuren dieses Ringens mit dem sozialen Desinteresse in der eigenen Anhängerschaft finden sich bis in die Bemerkungen über die theosophischen Salons, die mit von Kindern geförderter Kohle geheizt wurden [2] und die Publikumsschelte in den Vorträgen des Jahres 1918, wo eine direkte Beziehung zwischen diesem bourgeoisen Unverständnis und dem Heraufkommen des Bolschewismus hergestellt wird.[3]

Zander konstatiert, in der Anthroposophischen Bewegung sei der dreigliedrige „Gesellschaftsentwurf heute randständig geworden“ (S. 1239). Dem vermag man schwer zu widersprechen. Die am Rande existierenden praktischen Ansätze beurteilt er im übrigen milder als Steiners Dreigliederungskonzept. Gönnerhaft bemerkt er, die praktischen Folgen von Anthroposophie seien nicht „immer in der erwarteten Weise zwingend konservativ, die anthroposophischen Wirkungen auf die Ökologie- oder Plebiszitbewegung oder die Grünen“ stünden exemplarisch dafür (S. 1356). Das heutige Wirken des Leiters der dm drogeriemarkt GmbH, des Anthroposophen Götz W. Werner wird wohlwollend kommentiert – sein Name allerdings zu Werner Götz verballhornt (S. 1355). Das ändert aber nichts an einem Grundverständnis, das „hochautoritäre(n) Strukturen“ in anthroposophischen Einrichtungen – welcher Dreigliederer würde bestreiten, dass es so etwas geben kann! [...] – fälschlich als Folge der sozialen Dreigliederung und nicht als Folge des Verstoßens gegen sie betrachtet.

  • [1] Siehe etwa: R. Steiner: Ist die „Dreigliederung des sozialen Organismus“ Politik? – geisteswissenschaftlich beantwortet. Vortrag Dornach, 31. Januar 1920. In GA 196, Dornach 1966, S. 120ff. [...]
  • [2] Z.B. GA 192, S. 23f.
  • [3] GA 186, S. 50f.

Wichtige Quellen der sozialen Dreigliederung verkannt?

Für Zander wird die klassische „Theorie der ‚Dreigliederung des sozialen Organismus‘“, in deren Zentrum die „Forderung nach Trennung von Wirtschaft, Recht und ‚Geistesleben‘“ stehe, erst im Frühjahr 1919 sichtbar. (S. 1239) [1] [...]

Die Schwäche von Zanders Darstellung der Memoranden besteht vor allem darin, dass sie den Kontext ignoriert, in dem diese mit früheren Denkansätzen Steiners stehen. So ist das 1898 formulierte soziologische Grundgesetz konstitutiv für die Dreigliederung als Keimzelle von Steiners Auffassung über die Freiheit des Geisteslebens und die Schutz- und Förderfunktion des modernen Staates für sie.[2] Ebenso wichtig ist das soziale Hauptgesetz (1904/1905) für die spätere Behandlung der „Kardinalfrage“ und der assoziativen Gestaltung des Wirtschaftslebens in den Jahren ab 1918/19. Dass Zander diese Texte nicht als Quellpunkte der Dreigliederung erkennt, ist um so merkwürdiger, als er beide immerhin erwähnt. Das ebenfalls bedeutsame sogenannte „soziale Urphänomen“ (1918) dagegen wird nirgends auch nur gestreift.[3]

  • [1]  Der Begriff „Trennung“ ist nicht glücklich, da „Gliederung“ und „Teilung“ nicht dasselbe sind.
  • [1a] Zanders Aussage, die Dreigliederung sei kein transhistorisches Strukturprinzip, sondern in der tagespolitischen Debatte entstanden (S. 1286) ist mit seiner Behauptung, ihr Subtext sei religiös kodiert (S. 1321), nur schwer in Übereinstimmung zu bringen. Zanders Haltung zur der einschlägigen methodisch und inhaltlich höchst angreifbaren Arbeit von Körner-Wellershaus, in der von der triadischen und organologischen Grundstruktur der Dreigliederung als einer Heilslehre die Rede ist, wird nicht ganz klar, einerseits bezeichnet er sie als die wichtigste bisherige Untersuchung zur sozialen Dreigliederung, andererseits distanziert er sich auch von ihr.
  • [2] Dargestellt in den beiden Aufsätzen „Die soziale Frage“ und „Freiheit und Gesellschaft“ im Magazin für Literatur, Freiheit, Demokratie, Menschenrechte.
  • [3] Zander wäre über dessen Bedeutung besser unterrichtet, wenn er Dieter Brülls Buch „Der anthroposophische Sozialimpuls“ nicht für „binnenreferenziell“ und damit für sein Vorhaben unbrauchbar erklärt hätte. Zum Verständnis des „sozialen Urphänomens“ ist im Binnenkontext der Erste Anhang zur Neuauflage der „Philosophie der Freiheit“ (1918) wesentlich, in dem es um das Problem der Erkenntnis des Fremdpsychischen geht.

Innere Zusammenhänge des Dreigliederungskonzepts ausgeblendet?

Zander hat sichtlich Mühe, in der Fülle des Stoffs den roten Faden zu finden. Notfalls müssen eigene Konstruktionen übersehene Zusammenhänge ersetzen. Analogien zu zeitgenössischen Quellen – zuweilen sogar höchst vager Art – genügen ihm, um bestimmte Auffassungen aus ihrem Kontext zu erklären. Der innere Kontext dagegen, in dem die Begriffe im Werk Steiners stehen, wird als Erklärungsquelle nicht herangezogen. [...]

Für Zander können Ideen nur aus Kontexten übernommen und kombiniert, nicht aber anhand von Kontexten selbstständig geschöpft sein. Eine solche Auffassung ist nicht durchzuhalten, ohne den Tatsachen Gewalt anzutun. Ihr muss rätselhaft bleiben, wie eine Idee in mehreren Köpfen zugleich auftauchen kann. In der Dreigliederungsbewegung gibt es ein schönes Beispiel dafür: Der Mitunterzeichner des „Aufrufs an das deutsche Volk und an die Kulturwelt“, der auch von Zander erwähnte Staatsrechtler Wilhelm von Blume, eröffnete seine Rede bei der öffentlichen Präsentation des Aufrufs in Stuttgart, bei der Steiner nicht zugegen war, mit der Bemerkung, er sei kein Anthroposoph und habe Steiner nie gesehen, um dann darzulegen, wie er aufgrund seiner eigenen Erfahrungen und Einsichten zur Übereinstimmung mit dem Aufruf gelangt sei.[1]

Zander sieht zuweilen platte Widersprüche, wo es in Wirklichkeit um Aspekte der Betrachtung oder verschiedene Entwicklungs- und Klärungsstufen des Konzepts der Dreigliederung geht. Die Inhalte der Dreigliederung glichen „umetikettierbaren Containern auf einem Verschiebebahnhof“ (S. 1295). So sei der Rechtsbereich erst 1919 zu einem eigenen „Segment“ aufgestiegen (S. 1300). Das lässt sich so nur behaupten, wenn man nicht zur Kenntnis nimmt, dass im Begriff „Rechtsleben“ bei Steiner Politik, Staat und Recht – im Sinne der Gesetzgebung – zusammenfasst werden. Insofern repräsentiert das politische Parlament der Memoranden durchaus die staatlich-rechtlich-politische Sphäre.

  • [1] Die Szene schildert der auch von Zander als Gewährsmann herangezogene Hans Kühn.
  • [1a] Das vor allem auch von Woodrow Wilson propagierte „Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ bekämpft Steiner in den Memoranden mit ähnlichen Argumenten, wie sie unabhängig von ihm Ralf Dahrendorf in den 80er Jahren vortrug (Ralf Dahrendorf: Nur Menschen haben Rechte. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist ein barbarisches Instrument. In: „Die Zeit“, 28.4.89). Die Entwicklung in Ex-Jugoslawien hat Steiner wie Dahrendorf Recht gegeben, weil der Primat des Rechts auf den eigenen Staat gegenüber dem individuellen Menschenrecht in Gebieten mit hoher ethnischer und religiöser Durchmischung schließlich in der ethnischen Säuberung gipfeln kann.

Zusammenhang von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten in der Dreigliederung ignoriert?

Zanders Kernthese in Sachen Dreigliederung lautet, diese erscheine bloß auf den ersten Blick „als liberales und pluralismuskonformes Gesellschaftskonzept. Analysiert man jedoch ihre fundamentalen Strukturen, erweist sie sich als das genaue Gegenteil, als autoritär und antipluralistisch.“ „Der Angelpunkt des autoritären Prinzips der Dreigliederung ist das in die Politik übernommene hierarchische Denken der theosophischen Esoterik, in deren Tradition Steiner das ‚wahre‘ Wissen im Arkanbereich (das können je nach Phase geheime Meister, die Akasha-Chronik, Eingeweihte oder die Erkenntnisse ‚höherer Welten‘ sein) situierte. Diese geistesaristokratische Konstruktion liegt auch der Dreigliederung zugrunde.“ (S. 1350) Zander kann diese Behauptung nur aufrechterhalten, weil er entscheidende Quellen ausspart oder in seinem Sinne umdeutet.

Zanders Methodenproblem lässt sich an seiner Rezeption der zitierten Aufsätze von 1898 studieren: Den individualistischen Anarchismus, den Steiner darin bekennt, wertet Zander als „literarische Übung“, „die aber einmal mehr sein Unverhältnis gegenüber politischen Institutionen durchblicken“ lasse (S. 1245). Zitiert wird nur ein Passus, der den Staat als Hindernis im freien Konkurrenzkampf der Individuen bezeichnet. Ausgeblendet wird dagegen die Darstellung der neuen Rolle des Staates als Schutz- und Förderraum für den individuellen Menschen. Hier ist von Steiner die individuell-menschenrechtliche Fundierung des Staatshandelns in für die damalige Zeit zukunftsweisender Form vorgedacht, wie sie später in vielen Verfassungen, so in Artikel 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, formuliert wird. Steiners „soziologisches Grundgesetz“ – die Sicht der Geschichte als Prozess der Individualisierung und der Emanzipation des Einzelnen aus der Herrschaft der Kollektive („Verbände“) – formuliert zu einer Zeit, wo revolutionär war, was heute Gemeinplatz der Soziologie geworden ist – findet bei Zander keine Würdigung. Die Bedeutung der Aufsätze für die Rekonstruktion von Steiners Demokratieverständnis wird nicht gesehen.

Sonst hätte Zander bemerkt, dass Steiner hier die Frage nach dem Verhältnis des Mehrheitsprinzips zu dem menschenrechtlich begründeten Prinzip der gleichen Freiheit jedes Einzelnen behandelt – und herausarbeitet, dass – in der heute gebräuchlichen Terminologie – individuelles Menschenrecht den Einzelnen auch vor Staat und Mehrheiten schützt.[1] Zander dagegen deutet Steiners Kritik am Mehrheitsprinzip – und am Missbrauch der Demokratie als Fassade von elitärer Herrschaft – als prinzipielle Demokratie- und Parlamentarismus-Kritik, ohne andere Interpretationsmöglichkeiten auch nur zu erwägen. Radikaldemokratische Äußerungen Steiners sind zahlreich – „Herrschen muss heute das Volk, eine Regierung darf nur regieren“ heißt es z.B. lapidar in einem Vortrag von 1919 [2] – sie finden sich aber in Zanders Darstellung nicht wieder. Zander konzentriert sich dagegen vornehmlich auf vereinzelte missverständliche oder in der Tat zweideutige Aussagen Steiners über die „Demokratiesüchtigkeit“ der Zeit, um das Konzept der sozialen Dreigliederung in Bausch und Bogen als autoritär, antipluralistisch und hierarchisch in Misskredit zu bringen.[3] Wenn Steiner davon spricht, dass Geistesleben und Wirtschaftsleben aus dem demokratischen Staat ausgesondert werden müssten, dann wird die Ergänzung, „wenn volle Demokratie werden soll“, zwar zitiert (S. 1315), aber zugleich als irrelevant betrachtet. [...]

Günther Röschert hat in seiner Zander-Rezension darauf aufmerksam gemacht, dass es für den Begriff der Bewusstseinsseele kein theosophisches Gegenstück gibt (vgl. Kasten). Charakteristisch für die Bewusstseinsseelenentwicklung ist das erwachende Selbstbewusstsein und mit ihm der Mündigkeitsanspruch des Einzelnen, der sich nicht länger von der Gemeinschaft die Regeln seines Lebens vorgeben lassen will. Der Arbeitsansatz der „Dreigliederung des sozialen Organismus“ ist nichts anderes als der Versuch einer Antwort auf die Fragen, die durch diesen Umbruchpunkt der Mündigkeit des einzelnen für die gesellschaftliche Entwicklung aufgeworfen werden.[4]

Die Vollendung der Demokratie, das ist die Pointe der Kritik an ihrer Reduktion auf das Mehrheitsprinzip, erfordert volle Anerkennung des mündigen Menschen und seiner Freiheit, aus eigener Einsicht zu handeln. Sonst tritt an die Stelle von Gleichheit Gleichmacherei. Demokratie als Mündigkeitsimpuls verkehrt sich ins Gegenteil – Entmündigung –, wenn der Einzelne mit seinen Impulsen gegenüber der Mehrheit als Bittsteller auftreten muss – in jenen Bereichen, in denen die direkteste Form der Demokratie eben die Bestimmung der Verhältnisse durch den Einzelnen ist oder die Verständigung zwischen Einzelnen im modernen Vertragswesen. Dass die Mehrheit nicht zur neuen Obrigkeit werden darf, dass die Menschenrechte dem Einzelnen nicht von der Gemeinschaft verliehen und deshalb irreversibel und im Wesensgehalt unantastbar sind, – das ist heute ein Grundkonsens im modernen demokratischen Rechtsstaat, wenn auch bei der Umsetzung nach wie vor „Gliederungsbedarf“ herrscht: was ist majoritär entscheidbar und was nicht?

Zanders Deutung blendet diesen Zusammenhang von Demokratie, Menschenrechten und sozialer Dreigliederung leider nahezu vollständig aus.[5] Er verkennt, dass es in „politiktheoretischer Perspektive“ in der Dreigliederung gerade nicht um Unterwerfung unter die volonté générale geht, sondern um die Begrenzung ihrer Wirksamkeit durch den durch die Menschenrechte geschützten ethischen Individualismus. Die Durchlässigkeit des sozialen Organismus für in Verantwortung gelebte Freiheit ist der thematische Faden, der sich von der Philosophie der Freiheit über das soziologische Grundgesetz, das soziale Hauptgesetz und die Dreigliederungsdarstellung der „Kernpunkte“ 1919 bis zum Nationalökonomischen Kurs 1922 zieht. Zander behauptet, „Gesellschaftsstruktur als Gegenstand der freien Vereinbarung von Bürgern“ gebe es bei Steiner nicht, die „vertragstheoretische Tradition“ sei ihm fremd (S. 1324). Steiner hat sich zwar nicht näher mit der Staats- bzw. Gesellschaftsvertragsthematik auseinandergesetzt. Es gibt jedoch zahlreiche Stellen, an denen es um die Entstehung des Rechts aus dem Miteinander freier Menschen geht.[6] Schon weil er vom Einzelnen und seiner Entwicklung ausgeht, kann die immanente Logik seines Ansatzes nur eine Radikalisierung des Vertragsgedankens sein: Nicht sind dem Einzelnen seine Rechte von der Gemeinschaft verliehen, sondern die Gemeinschaft lebt von der Freiheit des Einzelnen. [...]

Ähnliche Missverständnisse führen ihn zur Behauptung, die soziale Dreigliederung berufe sich zu Unrecht auf den Gedanken der Gewaltenteilung, den sie in Wahrheit ebenfalls radikalisiert, weil sie nicht nur die Balance der Gewalten thematisiert, sondern darüberhinaus die Frage, wie und an welchen Stellen im sozialen Gefüge Machtstrukturen generell aufgelöst werden müssen.[7]

Unrichtig ist auch Zanders Behauptung, dass Steiner „demokratische Verfahren auf das Rechtsgebiet beschränkte und nicht einkalkulierte, dass es auch in Wirtschafts- und Geistesleben umstrittene und mit jeweils guten Argumenten untermauerte Positionen geben könnte, die, bei aller Eigenlogik, im Horizont widerstreitender Positionen und unter Zugrundelegung demokratischer Verfahrensweisen entschieden werden müssen.“ (S. 1315) [...] Steiner selbst hat in solchen Fragen den demokratischen Entscheid nicht nur für möglich gehalten, sondern selbst praktiziert: Beispiele sind Abstimmungsprozeduren bei der „Zettelwahl“ für die Findungskommission für den Verwaltungsrat der ersten Waldorfschule und die drei Lesungen der Statuten der Weihnachtstagung.[8]

Zander ist des Weiteren der Auffassung, dass der Staat im Dreigliederungskonzept nicht der Ort sei, „wo divergierende gesellschaftliche Interessen zusammengeführt und grundlegende Entscheidungen des Gemeinwesens getroffen würden. Vielmehr lag die Macht dazu, folglich auch über die Ökonomie, für Steiner im ‚Geistesleben‘“. (1307 f.) Dass das ein Missverständnis ist, lässt sich bereits an Steiners Wort von den Gesetzgebungen als „Grundlage für die Struktur der sozialen Verhältnisse“ ablesen.[9] – Zander verbohrt sich so sehr in seine Idee, in der Dreigliederung solle der demokratische Prozess zugunsten einer Hegemonie des Geisteslebens ausgehebelt werden, dass ihm Folgendes unterläuft: Er zitiert einen Vortrag Steiners vom Februar 1919, in dem davon die Rede ist, Arbeitsregelungen sollten durch ein „vom Wirtschaftsleben unabhängiges Leben“[10] getroffen werden und setzt hinzu: „also durch das Geistesleben“ (S. 1307). Er tut dies, ohne zu bemerken, dass in dem gleichen Satz, aus dem er seinen Schluss ableitet, kurz zuvor eindeutig das staatliche Rechtsleben als dieses vom Wirtschaftsleben unabhängige Leben benannt ist.[11]

  • [1] „Der Staat und die Gesellschaft, die sich als Selbstzweck ansehen, müssen die Herrschaft über das Individuum anstreben, gleichgültig wie diese Herrschaft ausgeübt wird [...] Sieht sich der Staat nicht mehr als Selbstzweck an, sondern als Mittel, so wird er sein Herrschaftsprinzip auch nicht mehr betonen. Er wird sich so einrichten, dass der Einzelne in größtmöglicher Weise zur Geltung kommt.“ Aus seiner eigenen Einsicht an anderer Stelle, dass Wahrheitsfragen als Fragen individueller Erkenntnis in einem Spannungsverhältnis zum Mehrheitsprinzip stehen (S. 1320), zieht Zander leider nicht die sich daraus für die Bewertung der sozialen Dreigliederung ergebenden Schlüsse.
  • [2] GA 331, S. 69.
  • [3] Die „demokratiekritische Haltung“ habe Steiner aus der theosophischen Tradition übernommenen (S. 1249). Die Funde, die Zander in Bezug auf diese Tradition präsentiert, zeigen eher, wie erstaunlich weit sich Steiner mit seiner Dreigliederung von ihr entfernt.
  • [4] Die folgende Aussage Steiners bestätigt den Zusammenhang: „Daher darf ich sagen, dass in einem gewissen Sinne die Ergänzung zu meiner ‚Philosophie der Freiheit‘ meine ‚Kernpunkte der sozialen Frage‘ sind. Wie meine ‘Philosophie der Freiheit’ untersucht, woraus beim einzelnen Menschen die Kräfte zur Freiheit kommen, so untersuchen meine ‚Kernpunkte der sozialen Frage’, wie der soziale Organismus beschaffen sein muss, damit der einzelne Mensch sich frei entwickeln kann. Und das sind im Grunde genommen die beiden großen Fragen, die uns im öffentlichen Leben der Gegenwart beschäftigen müssen.“ (GA 334/1983/S. 105).
  • [5] Nur an einer Stelle gesteht er im Hinblick auf die Wesensgehaltsgarantie der Grundrechte ein: „Strukturell liegen hier Analogien zu Steiners Ansatz.“ (S. 1320). [...]
  • [6] Man vgl. z.B. die Darstellung in GA 332a, Dornach 1977, wo geschildert wird, wie die Menschen in solche Beziehungen kommen, „dass sie diese Beziehungen in Rechten festlegen, festsetzen“ (S. 83f.), und in diesem Zusammenhang das demokratische Prinzip als „elementare Forderung der neueren Menschheit“ dargestellt wird (S. 85). Steiner kritisierte die historische Rechtsschule, weil sie dem Menschen die Fähigkeit abspreche, Recht schaffen zu können (GA 220, 1982, S. 186).
  • [7] Das ist um so verwunderlicher, als sich Stefan Leber in seinem Buch „Selbstverwirklichung, Mündigkeit, Sozialität. Eine Einführung in die Dreigliederung des sozialen Organismus“, Stuttgart 1978, recht gründlich mit dem Thema Dreigliederung und Gewaltenteilung auseinandersetzt, während Zander meint, die Darstellung sei für Thema ohne Wert (S. 1242).
  • [8] GA 300b, S. 239.
  • [9] GA 182, 32f.
  • [10] GA 328, 212.
  • [11] Der vollständige Satz bei Steiner (GA 328, 212) lautet wie folgt: „Wenn nicht diese Warenzirkulation bestimmt Entlohnung, Arbeitszeit, Arbeitsrecht überhaupt, sondern wenn unabhängig von der Warenzirkulation, von dem Warenmarkt, auf dem Gebiet des staatlichen Rechtslebens (Kursivsetzung CS), bloß aus den menschlichen Bedürfnissen, bloß aus rein menschlichen Gesichtspunkten heraus die Arbeitszeit festgesetzt werden wird, dann wird es so sein, dass einfach eine Ware so viel kostet, als das Notwendige kostet zu ihrer Aufbringung der Zeit, die für eine bestimmte Arbeit notwendig ist, die aber geregelt ist durch ein vom Wirtschaftsleben unabhängiges Leben (Kursivsetzung CS), während zum Beispiel das Wirtschaftsleben heute von sich aus regelt das Arbeitsverhältnis, so dass nach den Preisen der Ware sich vielfach im volkswirtschaftlichen Prozess regeln muss Arbeitszeit, Arbeitsverhältnis.“  

Steiners Kritik am Machtstaat – Prinzip unterbewertet?

Weil Zander keinen Blick für den Charakter der Dreigliederung als Strategie zur Zurückdrängung des Machtprinzips und der Öffnung von Initiativ- und Verantwortungsräumen hat, verblasst in seiner Darstellung auch die Überwindung von Machtstrukturen in Steiners Behandlung des Mitteleuropa-Themas. Zanders Beschreibung von „Steiners Beschäftigung mit politischen Themen bis 1917“ (S. 1242ff.) hebt sehr stark dessen positive Haltung gegenüber dem kulturellen Beitrag des Deutschtums für die Weltkultur hervor, den Zander im Sinne eines nationalistisch gefärbten Anspruchs auf kulturelle Hegemonie deutet. Die dafür herangezogenen Belege – z.B. eine in der Tat eher peinliche Lobeshymne des jungen Steiner auf Kaiser Wilhelm den Zweiten anlässlich seiner Thronbesteigung – machen aber eben auch um so deutlicher sichtbar, wie weit sich Steiner in seinen späteren Jahren von der zeitüblichen Deutschtümelei entfernt hatte.

Tatsächlich werden Steiners Reden über die deutsche und mitteleuropäische Kultur in den Kriegsjahren zunehmend stärker von einer Kritik am Machtstaat-Gedanken in der Tradition von Nietzsches Wort von der 1871 erfolgten Extirpation des deutschen Geistes zugunsten des deutschen Reiches geprägt. Steiners Mahnung, „die weltgeschichtliche Sendung der Deutschen wiederzufinden“ (Zander S. 1296) sieht diese Sendung gerade durch den Machtstaatsimpuls des Kaiserreiches gefährdet. 1919 fasst er zusammen: „Das deutsche Reich war in den Weltzusammenhang hineingestellt ohne wesenhafte, seinen Bestand rechtfertigende Zielsetzung. Diese Zielsetzung hätte nicht so sein dürfen, dass nur militärische Macht sie zu tragen hatte, konnte überhaupt nicht auf Machtentfaltung im äußeren Sinne gerichtet sein. Sie konnte nur auf die innere Entwicklung seiner Kultur gerichtet sein.“[1] Steiners Bild der Aufgaben Mitteleuropas ist geprägt von den mitteleuropäischen Dichtern und Denkern, die kosmopolitisch in den Nationalkulturen gleichwertige und unverzichtbare Beiträge zur Weltkultur erblickten: Herder, Goethe, Schiller und Wilhelm von Humboldt.[2] Einer der Schlüsselsätze des von Zander kritisch kommentierten „Volksseelenzyklus“ (S. 1254 f.) besagt, dass die nächste Zukunft die Menschheit immer mehr zu einer gemeinsamen Menschheitsmission zusammenführen werde und hierfür ein besseres gegenseitiges Verständnis der Völker nötig sei (GA 121, S. 13). Wenn Völkerverständigung nicht etwas ganz Abstraktes sein soll, dann muss sie die wesenhafte Prägung von Sprachen und Kulturen in ihrem Reichtum und ihrer Vielfalt einbeziehen.

  • [1] Einleitungen zu Helmuth von Moltkes „Gedanken und Erinnerungen“/1919, in: Aufsätze zur Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage, GA 24, Dornach 1961, S. 382.
  • [2] Dass manche Urteile Steiners zum Zeitgeschehen aus heutiger Sicht kritisch hinterfragt werden können, wird durch diese generelle Bemerkung nicht bestritten. In dieser Hinsicht hat bereits Christoph Lindenberg mit seiner historisch-kritischen Steiner-Biografie die Diskussion eröffnet. Ich halte aber Zanders Pauschalurteil, dass Steiner im deutschnationalen Fahrwasser gesegelt sei, für unhaltbar. Bei Zander verwischt sich durch solche Deutungen der tiefe Gegensatz zwischen dem anthroposophischen Sozialimpuls und jenen Strömungen, die direkt oder indirekt an der Zerstörung der Weimarer Republik beteiligt waren. [...]

Rolle der Ökonomie in der Dreigliederung schief interpretiert?

Ebenso wenig wie seine Behandlung der Aufsätze von 1898 vermag Zanders Betrachtung der Aufsätze von 1905/06 zu überzeugen, in denen das „soziale Hauptgesetz“ entwickelt und eine Trennung von Arbeit und Einkommen gefordert wird. Damit wird eine Seite der sozialen Frage betrachtet, die Steiner 1898 noch nicht deutlich im Blick hatte. Zander fällt hier im Wesentlichen nur auf, dass der Unterschied zwischen Unternehmern und „kleinen Handwerkern“ egalisiert werde, von dem jedoch an der fraglichen Stelle überhaupt nicht die Rede ist. Dort geht es vielmehr um das Problem der Ausbeutung. Steiner stellt – indirekt in Kontrastierung zur verbreiteten marxistischen Ausbeutungstheorie – dabei die Preisfrage in den Mittelpunkt: unfaire und zu niedrige Preise sind Ausbeutung und zwar unabhängig davon, welcher Schicht jemand angehört, der sie bezahlt. Dieses Thema ist auch heute höchst aktuell und wird unter den Überschriften „fairer Handel“ und „solidarische Ökonomie“ in der Zivilgesellschaft breit diskutiert. [...]

Die Geldtheorie Silvio Gesells wird zur Forderung nach Abschaffung des Zinses[1] simplifiziert (S. 1330), um diese dann zur vermutlichen Quelle von Steiners Auffassungen über den Zins zu erklären. Besonders die Idee des Schenkungsgeldes sei wohl von Gesell. Das ist nun ganz sicher nicht der Fall, weil sich Gesell zu diesem Thema ausschweigt und die Lösung aller großen sozialen Probleme vom Mechanismus der Umlaufsicherung des Geldes und einer neue Bodenordnung erwartet. Natürlich gibt es Bezüge – Gesell und Steiner sprechen über alterndes Geld und eine grundlegende Reform der Geldordnung –, wobei die jeweils vorgeschlagenen geldtechnischen Lösungen ein gutes Stück voneinander entfernt sind.[2] Im übrigen: Können Übereinstimmungen nicht auch auf Kongenialität hindeuten und müssen nicht notwendig auf Adaption beruhen? Beim Schenkungsgeld verheddert sich Zander dann weiter: Aus Steiners Ansatz, dafür zu sorgen, dass Gewinne als Schenkung frei werden können, macht er die Forderung nach Abschaffung von Gewinnen (S. 1306). Wie aber soll man verschenken, was man gar nicht übrig hat?

  • [1] Gesell weist in seinem Werk „Die natürliche Wirtschaftsordnung“ wiederholt darauf hin, dass Zinsverbote das Geldproblem nicht lösen, es kommt vielmehr auf die Umlaufsicherung des Geldes an, die dann auch den Zins auf Null bringt.
  • [2] Im Nationalökonomischen Kurs von 1922 schlägt Steiner ein Geld mit Verfalldatum vor, während es bei Gesell nur eine sukzessive Abzinsung gibt.

Freies Geistesleben als hegemoniales Steuerungsorgan missverstanden?

Zanders Missverstehen der sozialen Dreigliederung kulminiert, wie bereits angedeutet wurde, in der Fehldeutung des Begriffs des „freien Geisteslebens“. Diese wiederum wurzelt in seiner Rezeption der Philosophie der Freiheit in Band 1 seines Werkes. Zander hat Steiners philosophische Kritik der Wahlfreiheit als der gängigen Begründung der Willensfreiheit und seinen Ansatz, die Freiheitsfrage auf die Ebene der bewusst gewordenen und aus individueller Einsicht geschöpften Motive des Handelns zu verlagern, offenbar schlicht nicht verstanden. In Band 2 führt ihn das zu der Aussage: „Zur Freiheit als Voraussetzung politischen Handelns hatte Steiner ein gebrochenes Verhältnis, weil es in der diesseitigen Welt keinen freien Willen gebe.“ (S. 1250)[1] Das unterlegt er mit einem Zitat, welches aber nur beweist, dass als frei nur Handeln aus Erkenntnis bezeichnet werden kann, Erkenntnis aber – als Synthese von Wahrnehmung und Begriff – hat mit der aktiven Teilhabe an der geistigen Welt der Ideen zu tun. Zanders Schlussfolgerung, frei und fähig zur Gesellschaftsgestaltung sei also nur der Esoteriker[2], ist schlicht bizarr. Steiner geht es mit der Idee des freien Geisteslebens um die Durchlässigkeit des Sozialgefüges für den ethischen Individualismus – das erkenntnisgeleitete, durch die individuelle Vernunft gesteuerte und auf individueller Kompetenz beruhende Handeln des einzelnen Menschen. Bei Zander hingegen liest es sich so: „In Steiners Konzeption drängte [...] die Hegemonie des autoritären Geisteslebens die demokratischen Werte und Regeln in Randbereiche ab. Mit der Struktur der Dreigliederung hielt Steiner nach dem Untergang des Kaiserreichs an einer Art konstitutioneller Monarchie fest, in der nun die ‚Eingeweihten‘ und ‚Hellsichtigen‘ die Oligarchen stellten und demokratische Entscheidungen an ihr Placet banden“ (S. 1354) [3]

Wie kann man die Idee, dass Schulen, Universitäten und alle anderen Einrichtungen des geistig-kulturellen Lebens autonom und selbstverwaltet sind, also in jeder Hinsicht geistig miteinander in Wettbewerb treten – auf dem Boden der Anerkennung der Menschenrechte[4] – als „hegemonistischen Übergriff des Geisteslebens in Recht und Wirtschaft“ (S. 1314) missverstehen, durch den eine demokratischer Legitimation entzogene Geistesaristokratie von außen die Politik und die Ökonomie steuert?

Was könnte denn pluralistischer sein als ein freies geistiges Leben? Innerhalb desselben wäre doch jeder Hegemonieanspruch – sofern das Selbstverwaltungsprinzip intakt bleibt – undurchsetzbar. Und die relative Verselbständigung der gesellschaftlichen Subsysteme würden doch jeden Übergriff gerade verhindern und nur die Möglichkeit der Verständigung und Koordination offenlassen, die Steiner 1917 an einen gemeinsamen Senat verweist und die heute am ehesten durch Formen der aktuell diskutierten „trisektoralen Partnerschaft“ umgesetzt werden könnte.

Es ist schlicht unwahr, wenn Zander schreibt: „Zur Steuerungsinstanz für den Zusammenhang und Zusammenhalt des Organismus bestimmte Steiner das Geistesleben“ (S. 1313). Auch die von ihm selbst angeführten Zitate zeigen nur, dass es Steiner um die Überwindung der Fremdbestimmung des Geisteslebens durch Staat und Wirtschaft geht. Indem das Geistesleben sich als selbständige Sphäre der Gesellschaft frei entwickeln kann, kann es seine Kraft und damit, wenn man so will, auch Macht entfalten. Aber es handelt sich dabei eben nicht um politische Macht, sondern um „cultural power“ (Nicanor Perlas), der alle Instrumente hoheitlicher Gewalt ebenso fehlen wie jegliches ökonomische Druckmittel. – Auf S. 1347 wird das Steiner sogar angekreidet, als „naiver Glaube an die Kraft der besseren Argumente“. [...]

  • [1] Zander kommt offenbar mit dem Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit nicht zurecht. Auf geschichtliche Notwendigkeiten kann es für Zander augenscheinlich keine freien Antworten geben, weshalb er unter Verweis auf eine Aussage Steiners über geschichtliche Notwendigkeiten diesem unterstellt, er habe dem Individuum eine freie Willensbildung nur in engen Grenzen zugebilligt. In demselben Verständnisproblem liegt auch begründet, dass er den Hinweis auf „karmische“ Notwendigkeit des Gewordenen als Apologie des Bestehenden auffasst (mit Hinweis auf GA 35, 88). [...]
  • [2] „Im geistigen Gebiet waltet eine über das materielle Außenleben hinausgehende Wirklichkeit, die ihren Inhalt in sich selber trägt.“ (GA 23, S. 82). Aus diesem Steiner-Zitat will Zander einen Beweis für die angebliche Überordnung des geistigen Lebens über die anderen gesellschaftlichen Bereiche und eine damit verbundene Aushebelung der Demokratie gewinnen: „Dahinter stand eine Hierarchisierung, die der gleichberechtigten Koexistenz der drei Funktionsbereiche der Dreigliederung zuwiderläuft und die Frage nach deren Zuordnungsverhältnis scharf aufwarf.“ (S. 1309) [...]
  • [3] Was Zander Steiner gerade noch zugestehen mag, ist, dass er „nicht zum äußersten Antidemokraten wie Hitler“ wurde, „aber er stellte der Demokratie ohne Demokraten auch keine überzeugten Verfechter an die Seite“ (S. 1354). [...]
  • [4] Dies schließt eine solidarische Finanzierung ein, für die im Hinblick auf das Schulwesen Steiner in den „Kernpunkten“ ein durch die Allgemeinheit aufzubringendes Erziehungseinkommen fordert (GA 23, S. 127f.).

Sinn des Vergleichs von menschlichem und sozialem Organismus nicht erfasst?

Zanders Missdeutung der Rolle des Geisteslebens als hegemoniales Steuerungsorgan in der Dreigliederung hängt zutiefst mit zwei weiteren grundlegenden Missverständnissen zusammen. Das eine bezieht sich auf das Verständnis des Organismus-Begriffs, das andere auf das Verhältnis von Esoterik und Dreigliederung. Beides hängt eng zusammen: Das Geistesleben als Kopf des sozialen Körpers steuert für Zander den übrigen sozialen Leib, und damit können die „Eingeweihten“ als Träger eines höheren exklusiven Wissens die Steuerleute sein.[1] [...]

Zander ist offenbar entgangen, dass Steiner sich ausdrücklich gegen die Interpretation des Geisteslebens als „Kopf“ oder „Kopfsystem“ des sozialen Organismus gewandt hat. Er hat vielmehr betont, dass – wenn man überhaupt einen Vergleich ziehen wolle –, das Wirtschaftsleben „Kopf“, das geistige Leben hingegen der Ernährungs- und Innovationspol des gesellschaftlichen Lebens sei, also mit dem Stoffwechselsystem, dem unteren Funktionssystem des menschlichen Organismus verglichen werden müsse. Dies deshalb, weil die geistige Produktion, in der sich die Fähigkeiten der einzelnen Menschen ausleben, das gesellschaftliche Ganze permanent erneuert und neue Sinnhorizonte des gesellschaftlichen Lebens erschließt. [...]

Am menschlichen natürlichen Organismus lässt sich studieren, wie Subsysteme lebendig zusammenwirken, wie an jeder Stelle und in jedem Teil Nerven-Sinnesprozesse, rhythmische Prozesse und Stoffwechsel-Gliedmaßen-Prozesse ineinander spielen und sich durchdringen und wie sie doch jeweils im Haupt, in Gliedmaßen und Unterleib sowie in Herz und Lunge ihre respektiven Organzentren haben. Organe sind dabei aus den Prozessen abzuleiten und zu verstehen, denen sie dienen und aus denen heraus sie geschaffen wurden.

Von dieser Durchdringungsproblematik her beantwortet sich auch die auf einen scheinbaren Widerspruch hinauslaufende Frage Zanders, ob es denn möglich sei, „das Wirtschaftsrecht vom ‚Wirtschaftsleben‘ präzise [zu] trennen oder ob sich die ökonomischen Fundamente des ‚Geisteslebens‘“ auslagern lassen“ (S. 1314). Sie müssen nicht ausgelagert werden, sondern durch die relative Verselbständigung der Subsysteme wird erst ihre vom Menschen selbst gestaltete Zusammenarbeit möglich. Der lebensgemäß gestaltete soziale Organismus dient den Menschen, ihren Impulsen und Bedürfnissen.

Die Subsysteme – Geistesleben, Rechtsleben, Wirtschaftsleben – müssen nicht aus einem Zentrum gesteuert werden, sondern wirken lebendig zusammen. „Das erste System, das Wirtschaftssystem, hat es zu tun mit all dem, was da sein muss, damit der Mensch sein materielles Verhältnis zur Außenwelt regeln kann. Das zweite System [das Rechtsleben, CS] hat es zu tun mit dem, was da sein muss im sozialen Organismus wegen des Verhältnisses von Mensch zu Mensch. Das dritte System [das Geistesleben, CS] hat zu tun mit all dem, was hervorsprießen muss und eingegliedert werden muss in den sozialen Organismus aus der einzelnen menschlichen Individualität heraus.[2] [...]

Subjekt des Geisteslebens ist also jeder Mensch aufgrund seines individuellen Fähigkeitspotenzials und nicht etwa eine geistesaristokratische Elite!

Jede einzelne Einrichtung im sozialen Ganzen hat eine vorwiegend geistig-kulturelle, politisch-administrativrechtliche oder ökonomische Aufgabe und ist danach dem Geistes-, Rechts- oder Wirtschaftsleben zuzuordnen. Das ändert nichts daran, dass überall geistige, rechtliche und ökonomische Aspekte miteinander in den jeweils aufgabengerechten Zusammenhang gebracht werden müssen. [...]

Ja, man könnte sagen, dass es geradezu die Bedingung moderner Sozialgestaltung ist, in jeder einzelnen sozialen Frage die Gesichtspunkte der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität in sachgemäßer Weise auszutarieren. So wird in der Dreigliederung für das Schulwesen die Freiheit des Lehrens und der Wahl der Schule gefordert, zugleich aber der Zugang zu Schule als allgemeines Menschenrecht gefasst, das deshalb materiell-wirtschaftlich von der Allgemeinheit zu gewährleisten ist.

  • [1] [...] Zander erwähnt R. Steiners Abgrenzung von Platos Ständestaatsidee, doch wird zugleich dem Gedanken, die moderne Dreigliederung sei das Gegenteil der Platonschen die Spitze genommen. Steiner ersetze die horizontale Klassenschichtung durch die vertikale Anordnung der gesellschaftlichen Subsysteme (S. 1303). Das ist nur dann richtig, wenn man das Geistesleben wie Zander als Kopf des sozialen Körpers auffasst. Steiner ersetzt in Wahrheit die vertikal hierarchische Gliederung der Gesellschaft durch eine horizontale. Die einzige Vertikale ist nun der einzelne Mensch als Mitgestalter der drei Subsysteme, der durch seine Kreativität und sein Ideenvermögen individuell „von oben“ herunterholen muss, was in den alten vormundschaftlich strukturierten Gemeinschaften von einer Elite hierarchisch verordnet wurde.
  • [2] GA 23, S.63. 13

Verhältnis von Esoterik und sozialer Dreigliederung fehlgedeutet?

Zander thematisiert an vielen Stellen den Zusammenhang von Esoterik und sozialer Dreigliederung, setzt sich dabei jedoch mit dem Begründungszusammenhang zwischen beidem, den man in vielfacher Variation aus Steiners Werk entnehmen kann, nicht auseinander. Dieser Zusammenhang ergibt sich aus der Auffassung, die Menschheit sei ins Zeitalter der Bewusstseinsseele eingetreten, in dem alles von der Mündigkeit und Selbstverantwortlichkeit des Einzelnen abhängig wird. In diese Zeit fällt ein unbewusster „Schwellenübertritt“ der ganzen Menschheit. Das heißt in der sozialen Welt wie im menschlichen Innenleben wird die bisherige ohne bewusste Beteiligung der Masse der Menschen erfolgende Koordination der psychischen Kräfte des Denkens, Fühlens und Wollens ebenso brüchig wie die bis dahin gültige Form der Koordination von geistigem, politischen und ökonomischem Leben durch eine von oben nach unten organisierte (hierarchische) Einheitsform. Daher bedarf es nun der bewussten Koordination: der sozialen Kräfte wie der individuellen. Gelingt dieses nicht, kommt es zur Chaotisierung bzw. zu sozialen und psychischen Pathologien.[1]

Dies wird – im Anschluss an Humboldts Staatsschrift, Schillers Ästhetische Briefe und Goethes Märchen – auf die Analyse der Französischen Revolution angewendet, bei der die axialen Prinzipien gesellschaftlicher Gestaltung durch die Menschen selbst zwar artikuliert, jedoch zugleich chaotisch durchmischt worden seien und deshalb am falschen Ort gewirkt hätten.[2] Gleichheit am falschen Ort bewirkt Gleichmacherei, aus Freiheit wird Willkür und aus Brüderlichkeit Korruption. Die Schwächen der Revolution hingen so betrachtet essentiell damit zusammen, dass die freimaurerisch-aufklärerischen Kreise, die die Leitgedanken von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit propagiert hatten, nicht zugleich mit der Geheimhaltung esoterischen Wissens brachen. Sie verzichteten bewusst darauf, Wege zur Selbstschulung des Menschen öffentlich zu machen, die es dem Menschen ermöglichen, sich zum Koordinator seiner eigenen Seelenkräfte zu machen, d.h. – im Bilde von Goethes Märchen – den „gemischten König“ in sich selbst überwinden und die eigene Entwicklung in die Hand nehmen. Goethes öfters von Steiner zitierter Satz: „Alles, was unseren Geist befreit, ohne uns die Herrschaft über uns selbst zu geben, ist verderblich“, macht das Problem deutlich, auf das Steiner die doppelte Antwort der Entwicklung der Anthroposophie und der sozialen Dreigliederung gibt. Zander zitiert immerhin noch an anderer Stelle den Satz aus dem Werk „Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten“, dass „in jedem Menschen Fähigkeiten schlummern“, die in die höheren Welten führen, verkennt aber, wie einschneidend eine solche Formulierung und die Veröffentlichung des „Schulungswegs“ mit dem alten Arkanprinzip bricht. Zentrale Äußerungen Steiners wie die, das alte Mysterienwesen sei aristokratisch, das neue demokratisch[3], werden nicht zur Kenntnis genommen. [...]

  • [1] Vgl. z.B. GA 192, 61 ff.
  • [2] Vgl. z.B. GA 200, 66ff., GA 174a, 180f., GA 285a, S. 215.
  • [3] GA 219, S. 129. [...]

Aktuelles Potenzial sozialer Dreigliederung übersehen?

Die soziale Dreigliederung ist kein inhaltliches Programm, sondern eine Beschreibung von Strukturen, die es Menschen ermöglichen, ihre Verhältnisse selbst zu ordnen. [...] Wesentlich ist die Methode, die hilft, Antworten auf die Fragen der Gegenwart zu finden. Dieses Potenzial der Dreigliederung in den großen Auseinandersetzungen der heutigen Zeit wird aus dem Blickwinkel Zanders nicht erkennbar. Aus diesem Blickwinkel ist es auch unmöglich, Dreigliederung als Versuch einer Antwort auf die Fragen zu behandeln, die sich aus der Individualisierung einerseits, der Globalisierung andererseits ergeben und deren Beantwortung unter anderem auch ein neues Rollenverständnis des Staates notwendig macht. Zander entgehen die verborgenen Dreigliederungsmotive in den großen zivilgesellschaftlichen Bewegungen der letzten Jahrzehnte gänzlich. Doch sowohl die Bürgerbewegungen von 1989 gegen den Staatssozialismus als auch die heutige Bewegung für eine gerechtere Form der Globalisierung haben mehr mit sozialer Dreigliederung zu tun, als ihren Akteuren bewusst sein muss. Geht es doch bei beiden Wellen des Engagements um das Aufbegehren gegen die Vormundschaft eines Subsystems über alle anderen und seine dadurch hervorgerufene eigene Verformung. 1989 handelte es sich um die Vormundschaft des totalitären Staates über Kultur und Wirtschaft, seit 1999 um das Diktat der global agierenden Konzerne, die die Demokratie und die Diversität der Kultur bedrohen. [...]