19.05.2011

Zander und wie er die Welt (bzw. Steiner) sah

Alle Zitate aus: Helmut Zander: Rudolf Steiner. Die Biografie. Piper Verlag, 2011. | Seitenangaben in eckigen Klammern.

 

„Und heute leben wir ganz unaufgeregt mit dem Wissen, dass es keine Erkenntnis jenseits von Biologie und Kultur gibt.“ (Zander, S. 21)


[016:] Was dort geschah, hört sich im gestelzten Stil von Steiners später Lebensrückschau so an [...]

[017:] Fragt man sich, wo die Wurzeln von Rudolf Steiners autoritärem Anspruch auf Wissen und höchste Einsicht liegen [...]

[019:] Und Rudolf, das kluge Köpfchen, wurde ein sehr guter Schüler.

[028:] Doch wie sich kindliche Phantasie und die Erinnerung des gut fünfzigjährigen Steiner zueinander verhalten, bleibt undurchschaubar.

[041:] Dieser Dürrkräutler mag Steiner beeindruckt haben, selbst wenn es dafür keinerlei zeitnahen Belege gibt.

[046:] Er schwamm mit auf der Welle der erkenntnistheoretischen Neuformulierung der Philosophie.

[048:] Aber Wahrnehmung und Denken sind bei Steiner abstrakte Prozesse [...].

[051:] Fünfzehn Jahre, von 1882 bis 1897, lebte Steiner im Bannkreis Goethes, fünfzehn lange Jahre dauerte diese erste große und dann doch schnell alternde Liebe.

[061:] Mitten auf dem Weg zum Naturalismus, [...] der ihn in immer größere Distanz zu allem brachte, was „Idee“ und „Geist“ hieß [...].

[078:] Und schließlich auch seine Rosa Mayreder, die sich ganz vielleicht mit ihm eine Romanze ersehnt hatte [...].

[083:] Diese Dissertation war [...] in ihrer Argumentation die konsistenteste Publikation, die Steiner je verfasst hat.

[089:] Er nahm sich jedenfalls alles andere als Zeit, um die Philosophie der Freiheit sorgfältig zu komponieren [...].

[094:] Steiner lässt keinen Zweifel daran, dass er sich zu dieser Elite von Herrenmenschen zählt.

[096:] Dieser Haeckel liefert Steiner die Funktionslogik von Natur und Kultur.

[103:] Schon die 1892 in Weimar bekundete Liebe für „Frankfurter Würste und Cognac“ zeigt Steiners Lust an alkoholischen Freuden, die sich in Hartlebens Entourage nicht verflüchtigt haben dürfte.

[120:] [...] tut man gut daran, hier die Leseanweisung des Anthroposophen zu sehen, der die bitteren Jahre als didaktisches Exerzitium, nicht jedoch als existenzielle Krise zu deuten anordnet.

[126:] Und deshalb lautete das große Dogma der Theosophie: „Keine Religion ist höher als die Wahrheit.“

[143:] Das deutschnational sozialisierte Kind aus dem Wiener Becken, das die deutsche Sprachinsel in Mitteleuropa bislang nicht verlassen hatte [...].

[149:] Zwei suchende Seelen waren in das Magnetfeld der Theosophie geraten, und bald würden sie nicht nur die Suche [...] teilen, sondern auch Tisch und Bett [...].

[153:] Die Konstruktionsvorlage der Mysteriengeschichte entnahm Steiner jedoch anderen Quellen, denn er war bereits in den theosophischen Maelstrom geraten.

[156:] Erstmals in seinem Leben fühlt er sich bemüßigt, über das Christentum aus einer gewissen inneren Verbundenheit heraus zu schreiben.

[ebd:] Wissen wir etwas Verlässliches über den historischen Jesus? Hat er überhaupt gelebt? Bis zu seinem Lebensende sollte diese schwarze Sonne der Angst Steiner umkreisen.

[162:] Zugleich relativiert all das seine später überspitzte Behauptung seiner Eigenständigkeit und allemal seinen Anspruch, keine theosophischen „Dogmen“ zu lehren.

[165:] Zum einen hielt er die ganze Reinkarnationssache für vernünftig, andernfalls hätte er davon nicht [...] berichtet.

[171:] Die Hingabe an die große Mutter Besant war eine zeitlich befristete Ausnahmeliebe.

[172:] All das klingt doch sehr nach gehässigen Halbwahrheiten, aber dass Steiner mit Marie von Sivers möglicherweise geschlafen hat, ist deshalb nicht auch gleich eine Falschmeldung.

[178:] Denn die Hüllenanthropologie bot einen Mehrwert gegenüber der Lehre von Leib und Seele.

[179:] Hinter dieser Konzeption der Perfektion des Menschen steht ein zentrales Dogma der Theosophie: die Reinkarnation.

[191:] Kritische Leser fragten schon damals sehr viel spitzer: Wo hat der Steiner das abgekupfert.

[208:] Steiner ist nun Anthroposoph, er bleibt aber in seinem Herzen Theosoph.

[213:] Über diese Schiene findet Steiner zu der Vorstellung von Jesus als dem besonderen Menschen.

[216:] Zu Ostern deutet Steiner den „Opfertod“ des „Jesus Christus“ als Hilfe für das „Karma der ganzen Menschheit“, er montiert also den Topos der theosophischen Reinkarnationsvorstellungen in die Figur eines Erlösers.

[220:] Dabei verlegt sich Steiner auf ein spirituelles Handelsgeschäft, das etablierte Elemente des theosophischen Denkens so refiguriert, dass ein strategisches Angebot zur Vermeidung eines Weltenlehrers dabei herauskommt.

[223:] In dieses Bermudadreieck von Bibelkritik, antiken Quellen und Wahrheitsfrage, in dem alle Sicherheiten des Lebens vom intellektuellen Radar zu verschwinden drohten, geriet auch Steiner, als er sich auf „den Christus“ einließ.

[225:] Die Bibel war nicht die Grundlage seines Wissens, sondern das Objekt seiner Korrekturen.

[226:] Der kosmische Christus hingegen garantierte Steiner die Widerlegung der Behauptung, dass der Geist nichts sei als eine Camouflage der Materie. Aber von solchen philosophischen Schrauben hat Jesus keine einzige gedreht.

[229:] 1911 aber beginnt er, an dieser Stellschreibe zu drehen, indem er eine Art Arbeitsteilung zwischen dem Menschen und Christus vorsieht. „Der Christus“ solle für die Erlösung all derjenigen Bereiche zuständig sein, die den Einzelnen überfordern.

[231:] Doch vermutlich ist die Rede vom „Gestanden-Haben“ vor einem „Mysterium“ ein Konversionsbekenntnis mit Nebelkerze.

[236:] Kritiker und Wissenschaftler haben sich auch gefragt, welche psychische Disposition Steiner besaß, ob er, polemisch gefragt, „geisteskrank“ war oder, seriöser, an Schizophrenie litt.

[237:] Mit dem Schnupftabak, den er liebte, könnte er auch Kokain [...] zu sich genommen haben, vielleicht bewusst, vielleicht auch ohne es zu wissen.

[244:] Aber Steiner und Freud waren näher beieinander, als Steiner es sich zugestand.

[246:] Unter diesen Umständen darf man keinen geschlossenen Meditationsweg erwarten, keine von tiefer Erfahrung untermauerte und durch lange Selbstprüfung purifizierte Anleitung.

[248:] Denn so viel er auch den freien Menschen forderte, so demütig hatte dieser den steinigen Weg der Unterordnung im Schulungspfad zu gehen.

[249:] Darin [„Die Stufen der höheren Erkenntnis“] versuchte er sich an einer systematischen Grundlegung der Meditation, indem er die Stufen von Imagination, Inspiration und Intuition neu einführte – natürlich nur als erste der „höheren“ Stufen.

[268:] [Zanders Persiflage:] Steiner entdeckt das Christentum. Ein Totengespräch. [...] Erst die Entdeckung des in diesem Kapitel abgedruckten, in der Akasha-Chronik aufgezeichneten Gesprächs zwischen Steiner und Ludwig Graf von Plzer-Hoditz hat Licht in diese Wende von Steiners Leben gebracht.

[276:] Der Preis, den Marie von Sivers und andere theosophische Frauen für ihre Karriere bezahlten, ist eine eigene Geschichte.

[282:] [...] malte er auch Hunderte von „Wandtafelzeichnungen“ zu seinen Vorträgen, die den trockenen Stoff durch Illustrationen zwischen kindlicher Kritzelei und faszinierender Abstraktion auflockerten.

[286:] Und so überzog er Jahr für Jahr [...] Deutschland und die Schweiz mit einem Spinnennetz von Reiserouten [...].

[288:] Die „heiligen“ Texte, mit blauer Tinte gedruckte Schriften, im gleichen kosmischen Blau eingebunden, bildeten die Basis für die Transformation der Hörergemeinde in eine Lesereligion.

[292:] Vielleicht hielt er die Dominanz Schurés nicht aus, vielleicht war er auch auf den Geschmack gekommen, selbst ein Theaterstück zu schreiben. [Mysteriendrama!].

[302:] Zusätzlich unterlegte er seiner Tanztheorie theosophische Ideen: Das Geistige soll in der getanzten Sprache erscheinen, Eurythmie soll getanzter Geist sein.

[310:] Das war auch ein Schritt in die organisatorische Unabhängigkeit von Annie Besant, denn Mysterienbauten waren immer zugleich Vereinspolitik.

[314:] Schnell erwarb man in einer Undercover-Aktion weitere Parzellen, noch ehe die Dornacher Bürger bemerkten, was gespielt wurde.

[320:] Zehn Jahre später wird Steiner – wieder tief verliebt – erneut das Walten des Karma bemühen, um eine „illegitime“ Amoure, nun mit Ita Wegman, zu begründen.

[326:] Hingegen hat Steiner an die sich um 1910 gerade entwickelnde Avantgarde der Kunst keinen Anschluss gefunden.

[332:] Die Klugen, die schon damals wussten, dass die Nationen keine Seele hatten, schon gar nicht im Singular, sondern dass Ideologen die Völkerpsyche mit Gewalt konstruierten, fanden kaum Gehör [...].

[335:] Nur wenige fanden noch während des Krieges zu der Überzeugung, dass dieser zu viele sinnlose Opfer gefordert hatte oder überhaupt absurd war. Steiner gehörte nicht zu ihnen.

[342:] Steiners Begründung klingt nach einer neuen Marketingstrategie für die Anthroposophie.

[353:] Wie so oft, ist das Hilfsverb „müssen“ bei Steiner verräterisch, denn es unterstellt eine Einsicht, über die man nicht mehr verhandeln kann.

[355:] Und so nimmt es nicht wunder, dass er als autoritärer Führer [...] regierte, und [...] warum er hoch über der Dreigliederung mit den Einsprengseln demokratischer Verfahren die Eingeweihten thronen ließ.

[366:] Es wundert nicht, dass er fast reflexartig auf das zurückgriff, was er im weltanschaulichen Gepäck hatte [...].

[373:] Steiner hatte das Bild einer großen Lebensgemeinschaft vor Augen, 120 Schüler pro Klasse schienen ihm gerade richtig.

[379:] Deshalb finden sich wie in einem Patchwork nicht nur theosophische und sozialdarwinistische und herbartianische Elemente, sondern vieles mehr, etwa [...] die „Temperamentenlehre“. [...] Steiner war eben ein pädagogischer Laie, der Kreatives und Abgestandenes miteinander verschmolz.

[383:] So gebieterisch, wie er sich gegenüber dem Lehrerkollegium verhielt [...], so selbstverständlich regierte er mit der Autorität eines Übervaters gegenüber den Kindern.

[385:] Der Steiner, der die Waldorfpädagogik bis zu seinem Tod im Jahr 1925 begründete, bekam letztlich seine autoritären Zumutungen nie in den Griff.

[399:] Hingegen ordnete er Heilung dem Ätherleib zu [...]. Aber Steiner muss gespürt haben, dass dieses Modell mit der Komplexität körperlicher Vorgänge hoffnungslos überfordert war.

[412:] Wegman und Steiner sind bis über beide Ohren verliebt.

[421:] [Goetheanum-Brand:] In einer Mischung aus Pflichtbewusstsein und Verdrängung zeigt sich Steiner als Heros in der Katastrophe [...].

[428:] Es ist kaum zu entscheiden, ob er von den Erwartungen der Mitglieder getrieben war, ob er sich nicht entziehen wollte oder konnte, ob er Herr seiner Entscheidungen oder Gefangener des Gefühls seiner Unersetzlichkeit war, ob ihn Kokain zu diesen Höchstleistungen aufputschte oder nicht, ob er sich aus eigenem Impuls durch die Monate hetzte, oder ob ihn die Angst vor der zerrinnenden Lebenszeit trieb – wir wissen es nicht.

[436:] In gewisser Weise war sie eine ungewollte Schwangerschaft, die Christengemeinschaft.

[446:] In der Christengemeinschaft sollte der göttliche Christus präsent sein, der menschliche Jesus war dem alten Steiner zu wenig.

[449:] Die Anthroposophie war der Königsweg zur Erkenntnis übersinnlicher Welten [...], und die Christengemeinschaft war die Krücke für den Rest, der in der spirituellen Evolution zurückgeblieben war.

[455:] Und auch der Feind war identifiziert, natürlich die Materialisten, diejenigen Bauern und „kindischen“ Agrarwissenschaftler, die auf Chemie vertrauten.

[462:] Aber Ende September war seine Batterie leer.

„Das verringert unser Wissen über ihn, erweitert aber die Freiheit, sein Leben und sein Werk zu deuten.“ (Zander, S. 470).