25.05.2011

Zander entschleiert

Oder: Das Unfassbare denken.


Inhalt

Eine unbezweifelbare Autorität – nach 15 Jahren
Die Normalität der Absurdität
Zwei wahre Aussagen, bevor die Luft wegbleibt
Das volle Menschentum und sein größter Gegner
Zanders buchstäblich erschütternde Missverständnisse (?)
Welchen Kräften dient Zander?
Immer weiter: Eigene Widersprüche, Unverständnis und Entstellungen
Zanders grundlegender Irrtum
Fazit


Eine unbezweifelbare Autorität – nach 15 Jahren

Da beschäftigt sich ein Historiker und Theologe 15 Jahre lang mit der Anthroposophie und ihrem Begründer Rudolf Steiner und legt dann ein 2.000-Seiten-Werk vor: „Anthroposophie in Deutschland. Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis 1884-1945“. Wie wird die Öffentlichkeit wohl auf so etwas reagieren? Richtig: Wenn man von dem Werk überhaupt erfährt und sich für das Thema irgendwo interessiert, wird man staunen – und dem Wissenschaftler vertrauen. Man wird den Mann einladen zu Interviews, ihn anhören, sich von ihm vielleicht sogar eigene Vorurteile bestätigen lassen – und das Kapitel dann für sich abschließen.

So geschah es dann auch. Helmut Zander durfte seit Erscheinen seines „opus magnum“ im Januar 2007 durch die Lande tingeln und in verschiedenen Radio- und Fernsehsendungen sprechen. Das Gleiche wiederholte sich dann in prägnanterer Form seit Anfang 2011, als seine für „normale Leser“ verfasste Steiner-Biografie erschien, die er – nicht unbescheiden – „Die Biografie“ nannte.

Jeder, der Zander irgendwo hörte oder sein Buch las, glaubte sich hinterher gut informiert ... über diesen Rudolf Steiner.

Nur wenige lesen das Kleingedruckte. Etwa, dass Zander im Nachwort zugibt: „Jede Lebensbeschreibung ist Fabel und Faktum zugleich – und selbst bei den ‚Fakten’ schwächelt die Wissenschaft“. Was er dann noch schreibt, werden die meisten Leser kaum richtig deuten können: „Die vorliegende Biografie versucht, den bis dato erarbeiteten Wissensstand über Rudolf Steiner zusammenzutragen und in eine Deutung zu überführen, die den Anspruch Steiners, Hellseher zu sein, nicht aus der Perspektive ewiger Wahrheiten erklärt, sondern aus der Lebenswelt des 19. Jahrhunderts.“

Immerhin haben sie beim Lesen des Buches das Ergebnis dieser Deutung hautnah erfahren: Rudolf Steiner wird dargestellt als ein Mann mit einem ungeheuren Anspruch (auf übersinnliche Erkenntnis), der aber nicht eingelöst werden kann. Stattdessen begegnet uns auf Schritt und Tritt ein Mensch, der versucht, seine eigentlichen Quellen zu verschleiern, um alles als Ergebnisse eigener Geistesforschung präsentieren zu können. Ein Mann der fortwährend abkupferte, veränderte, Spuren verwischte, und der überall mit dem autoritären Anspruch des Eingeweihten auftrat.

Wer Zanders Bild einmal aufgenommen hat, der wird es nicht mehr los, zumal er ja dem Wissenschaftler und den „Fakten“ vertraut. In Einzelheiten mag man sich ja irren, aber im Großen und Ganzen?

Die Normalität der Absurdität

Nun, was nicht gesehen wird, das ist die ungeheuerliche Bedeutung der Grundannahmen gerade in einem solchen Fall. Man mache einmal folgendes Gedankenexperiment: Wir studieren das Leben von Mutter Theresa. Wir gehen davon aus, dass es keine spirituellen Impulse gibt, da wir alles psychologisch erklären können und wollen. Wir kommen zu dem Schluss, dass hier ein bis ins Unendliche gesteigertes „Helfersyndrom“ vorliegt, kombiniert mit einem sehr subtilen und sehr geschickt versteckten Geltungstrieb. Beraten wir uns mit unserem Kollegen, einem befreundeten Fachmann und Psychoanalytiker, wird dieser uns sicher noch weitere Hinweise geben können, die unsere Analyse stützen und verfeinern.

So absurd wie dieses Szenario für die meisten Menschen (hoffentlich!) sein wird, so verhält es sich auch mit Rudolf Steiner. Die Grundannahme von Helmut Zander ist: Es gibt keine übersinnliche Erkenntnis – jedenfalls nicht bei Steiner. Mit dieser Grundannahme dekliniert Zander Steiners Leben durch, mit der unumschränkten Deutungsmacht eines „Wissenschaftlers“ betrachtet Zander alle Fakten durch diese Brille, die er sich aufgesetzt hat.

Und wie passt alles so herrlich zusammen! Natürlich, wenn Steiner keine Geistesforschung betrieben hat, sind seine Ergebnisse „geklaut“. Zander macht sich auf die Suche nach Ähnlichkeiten – und findet sie, wo er will. Da wird z.B. Steiners Aufruf, das Denken solle wirklich innerlich erlebt werden, zu einer Verwandtschaft mit der „lebensphilosophischen Strömung“ am Ende des 19. Jahrhunderts. Das klingt gut, das klingt wissenschaftlich. Schon die Zeitangabe ist exakt – aber welche sollte es auch sonst sein, Steiner hat ja nun einmal damals gelebt. Über das, was diese „lebensphilosophische Strömung“ ausmacht, braucht Zander nicht aufklären; ebenso wenig braucht er zu vertiefen, was Steiner mit seinem Aufruf meint. Die Analogie ist festgestellt und bewiesen, und damit die Abhängigkeit, natürlich die von Steiner.

Man will es zunächst nicht glauben, man denkt natürlich immer noch, Zander sei doch ein Wissenschaftler (und, nun gut, auch katholischer Theologe, aber dennoch). Aber mit genau dieser Methode geht Zander fort und fort – über 1.800 Seiten lang.

Da werden Zitate aus dem Zusammenhang gerissen, entscheidende Sätze unterschlagen und dann selbst noch die Bruchstücke fehlgedeutet. Man will es wirklich noch immer nicht glauben, aber es ist so. Je länger man sein „opus magnum“ studiert, desto klarer wird einem: Es ist so. Es handelt sich um einen vollkommenen „error magnum“. Helmut Zander ist der eindrückliche Beweis, wie tief die Wissenschaft gesunken ist. Man kann 15 Jahre lang mit einer völligen Fehldeutung, ja Entstellung verbringen. 15 Jahre, in denen man seine Grundhypothesen nicht in Frage stellt, sondern – offenbar immer entschiedener, ja blinder (um nicht anzunehmen: kaltblütiger) – versucht, die „Fakten“ mit der eigenen Grundannahme, d.h. aber mit den vorausgenommenen Ergebnissen, in Übereinstimmung zu bringen.

Und weil alle Menschen diesem großartigen Wissenschaftler, der eineinhalb Jahrzehnte etwas erforscht hat, natürlich grenzenlos Glauben schenken, darf er eine allgemeinverständliche Biografie („Die“ Biografie!) in einem sehr bekannten, namhaften Verlag veröffentlichen. Tausende von Menschen lernen nun Rudolf Steiner so kennen, wie Zander ihn sieht und sehen will. Tausende von Menschen lernen nicht den größten Eingeweihten der Neuzeit kennen, sondern eine Art Monster.

Zwei wahre Aussagen, bevor die Luft wegbleibt

Es wird höchste Zeit, dass wir einige Zeitzeugen zu Wort kommen lassen, um nicht dennoch immer wieder zu vermuten, dass der „Wissenschaftler“ doch nicht ganz unrecht gehabt haben könne...

Der damals in Berlin führende protestantische Theologe Friedrich Rittelmeyer schreibt:

„Dieses Buch sucht Menschen, die sich für die Frage interessieren: Wie war Rudolf Steiner als Persönlichkeit? – und die darüber lieber von einem Augenzeugen etwas hören wollen als von Fernstehenden und Gegnern. Ihnen wird erzählt, wie ein Mensch mit protestantisch-theologischer Vorbildung aus der Geistesgeschichte unserer Zeit heraus zu Rudolf Steiner kam und was er an ihm erlebte. [...] Jahre hindurch hatte ich gesagt: Wenn ich an das Schicksal einen Wunsch freihabe, so ist es dieser, daß ich an dem Größten, was in meiner Zeit geistig geschieht, nicht vorübergehe.“

Was Rittelmeyer dann in seinem Buch „Meine Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner“ alles schildert, kann hier nicht wiedergegeben werden. Nur ein Erlebnis von unzähligen:

„Ein Berliner Konzertbüro hatte ihn zu einer großen Vortragsreise durch Deutschland verpflichtet. Damals hätte Rudolf Steiner der Mann des Tages werden können – wenn er gewollt hätte. Aber es kam anders. Ich habe die Berliner Versammlung in der Philharmonie miterlebt. Der große Saal voll bis auf den letzten Platz. Draußen rissen sich die Menschen um die Eintrittskarten und zahlten Preise angeblich bis zu hundert Mark. [...] Wußte Rudolf Steiner, was er tat? Daß er diese seltene, für Sensationen aufgeschlossene Versammlung – langweilte? Kein Mensch, der Rudolf Steiner kannte, vermochte daran zu zweifeln, daß er sich ganz bewußt war, was er tat. Verlegenheit vor der großen Versammlung? Unvermögen zum Volk zu sprechen? Das alles kam gar nicht in Betracht für den, der wußte, wie donnernd zum Erbeben Rudolf Steiner reden konnte. Für wen redete er eigentlich? Ich rechnete mir während des Vortrags damals aus, wie viele Menschen jetzt einigermaßen zu folgen fähig und geneigt sind. Die Anthroposophen abgerechnet, schätzte ich fünf bis zehn. Für diese redete er, vollkommen bewußt. Geradezu grausam unterdrückte er alles, was ihn hätte zur Sensation des Tages machen können. Kein Flackerschein des Imponierenwollens huschte über die Versammlung hin. Den zehn, vielleicht zwanzig Menschen hoffte er durch den sachlichen Ernst, durch die ausführliche Gründlichkeit, mit der er über Gebiete sprach, die den meisten Menschen fremd sind, das geistige Interesse wachzurufen...“

Und dann sei ein weiteres Zeugnis gebracht, von Günter Wachsmuth:

„Jedes ehrliche Streben, selbst wenn es seinen Anschauungen noch so diametral entgegengesetzt war, konnte man ihn so unantastbar objektiv darstellen hören, dass man miterlebte, wie er diesen Andersartigen jede nur erdenkliche Möglichkeit gab, sich selbst auszusprechen, so dass ihm dies dann manchmal von unaufmerksamen Zuhörern sogar als sein eigenes Urteil missdeutet wurde. Ob er über Haeckel oder Laotse, Nietzsche oder Gregor IX. oder sonst wen sprach, immer stand mit einem unabdingbaren Gerechtigkeitssinn, zunächst die betreffende Individualität und ihre eigene Sphäre in ihrer Wesenheit vor den Zuhörern, bevor er ihren Wert und Sinn im Auf und Ab der Weltgeschichte aufzeigte. Ja, er ließ später manche seiner erbittertsten Gegner in ausführlichen Zitaten sich erst selbst darstellen, zum Staunen mancher Hörer, bevor er Unwahres sachlich zurechtrückte oder dann auch allzu menschlichen Eigenheiten, oft verstehend und verzeihend, ihren Namen gab.“

Das volle Menschentum und sein größter Gegner

Rudolf Steiner war geradezu der Eingeweihte des vollen Menschentums – eines Menschentums, das sich, seiner Seelen- und Geisteskräfte bewusst und diese zu ihrer vollen Blüte entwickelnd, erkennend bis in die geistige Welt erheben kann, aus der das Menschenwesen stammt und in die es wieder zurückkehrt zwischen Tod und neuer Geburt... (Aber genau damit hat Zander Probleme: Mit der Tatsache der Reinkarnation, die dazu führt, dass wir nicht mehr einen sinnlos-materialistischen oder aber kindlich-naiven Menschen- und Gottesbegriff haben, sondern eine wahrhaft und zutiefst christliche Idee, die – weit entfernt auch von der östlichen Vorstellung der „Seelenwanderung“ – erstmals in der Menschheitsgeschichte den durch und durch positiven Entwicklungsgedanken mit der vollen Bedeutung der Individualität in Einklang bringen kann).

Rudolf Steiner war Begründer der Waldorfpädagogik, die bewusst mit der vollen Individualität eines jeden Kindes rechnet. Er war Begründer einer Landwirtschaft, die den Betrieb wieder als einen Organismus verstand und Schluss damit machte, auf einseitige Massenproduktion, auf Mineraldünger und Pestizide zu setzen. Er war Begründer einer Medizin, der eine spirituelle Menschenkenntnis zugrundelag und deren Mittel (z.B. von Weleda) bis heute erfolgreich angewendet werden. Er initiierte die Dreigliederungs-Bewegung, die mit ihrem Impuls, wäre er aufgegriffen worden, die Katastrophe, die sich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges anbahnte, hätte verhindern können. Adolf Hitler wurde der größte Gegner von Rudolf Steiners Impulsen. Die Schließung der Waldorfschulen, heilpädagogischen Heime usw. erlebte Rudolf Steiner nicht mehr mit, 1925 starb er...

Und so kann man es nicht anders als infam nennen, wenn Helmut Zander zunächst ein Monster aufbaut, weil er Steiner von Anfang an niedere und niederste Motive unterstellt – um ihn dann für jeden sichtbar vollkommen zu vernichten. Wodurch? Indem das geschaffene, hoch-autoritäre Monster nun in nächste Nähe gestellt wird zu ... Adolf Hitler! Wie das!? Ganz einfach: Durch ein völliges Missverstehen von Steiners Dreigliederung.

Die Idee der Dreigliederung ist: Drei Bereiche der Gesellschaft müssen stärker voneinander unabhängig werden, als es heute der Fall ist. Steiner nennt sie das Wirtschaftsleben, das Rechtsleben und das Geistesleben. Das Rechtsleben umfasst alles, wo mit Recht jeder Mensch gleich ist. Das Geistesleben umfasst alles, wo es auf die individuellen menschlichen Fähigkeiten ankommt. Heute wirkt das Wirtschaftsleben unheilvoll viel zu sehr in alle anderen Bereiche hinein. Aber auch das Politische hat sich mehr Macht genommen, als es haben dürfte – und regiert mit gleichmacherischen Vorgaben z.B. in den Bildungsbereich hinein, wo es doch gerade darauf ankäme, der Individualität gerecht zu werden! Aber auch andererseits in das Wirtschaftsleben, indem z.B. per Gesetz die „Krümmung der Banane“ normiert wird.

Die Nazi-Zeit wiederum war ein grauenvolles Extrembeispiel, wie eine Sphäre, die politische, sich alles andere unterworfen hat, geleitet von einer völlig pervertierten Ideologie. Wäre die Idee der Dreigliederung verstanden und aufgegriffen worden, hätte Hitler niemals aufsteigen können...

Zanders buchstäblich erschütternde Missverständnisse (?)

Zander versteht nun diese zentrale Idee Rudolf Steiners völlig falsch, indem er von Anfang an davon ausgeht, Steiner wolle die „Herrschaft der Eingeweihten“ begründen und das „Geistesleben“ (in diesem Sinne bereits missverstanden) würde alles bestimmen wollen, was vollkommener Unsinn ist! Durch diese wirklich krasse Fehldeutung kann Zander Steiner fortwährend anti-demokratische Impulse unterstellen. Man ist erstaunt, wie sehr Zander hier ohne jeden Beleg auskommt, blind für die tatsächlichen Aussagen Steiners bleibt bzw. noch diese – unverstanden – zerpflückt und dann entstellt.

Rudolf Steiner wollte einen Staat, der nicht dem Individuum im Wege steht und dieses nach seinem Willen formt, sondern dessen Ideal die Herrschaftslosigkeit wäre. Zander nennt dies „Unverhältnis gegenüber politischen Institutionen“ und „Ausdruck seiner midlife-crisis“ (des bei diesem Zitat 27-jährigen Steiner!).

Sodann versucht Zander die bereits „erwiesene“ „demokratie-kritische“ Haltung Steiners als „theosophisches Erbe“ hinzustellen, indem er zum Beweis eine tatsächlich autokratisch tingierte Aussage einer Theosophin bringt. Ist damit irgendetwas über Steiner ausgesagt? Für den „Wissenschaftler“ Zander offenbar schon...

Völlig sinnwidrig behauptet Zander, Steiner wollte mit der Dreigliederung die horizontale (!) Schichtung in Klassen oder Stände durch eine vertikale ersetzen, in der das Geistesleben (für Zander also: die Eingeweihten) an der Spitze stehen. Zander bemerkt gar nicht, dass er sich 50 Seiten später stillschweigend selbst korrigieren muss: „nur ist die vertikale Ordnung einer horizontalen Differenzierung gewichen.“ Man hat das Gefühl, Zander spielt mit Steiner Katz und Maus: Egal, was Steiner sagt, er verliert immer, denn die (Miss- und Um-)Deutungsmacht hat Zander.

An anderer Stelle identifiziert er in der Dreigliederung „naturale Metaphern“ (da Steiner von einem „sozialen Organismus“ spricht), nur um daraufhin festzustellen, dass „organologische Vorstellungen in der Politik meist autoritär strukturiert“ seien – und nur um hinzuzufügen, dass es auch Ausnahmen wie Rudolf Virchow gebe. Das soll dann nach einem „Beweis“ dafür klingen, dass Steiners Modell autoritär ist.

Rudolf Steiner wollte, dass allgemein-menschliche Angelegenheiten im Rechtsleben geregelt werden würden – einschließlich der Arbeitszeit und weiterer Fragen der Menschenwürde, die eben nicht im Wirtschaftsleben bestimmt werden dürften! Zander zitiert, dass „bloß aus rein menschlichen Gesichtspunkten heraus die Arbeitszeit festgesetzt werden wird, [...] geregelt ist durch ein von dem Wirtschaftsleben unabhängiges Leben“, nur um hinzuzufügen: „also durch das Geistesleben“. Obwohl unmittelbar davor Steiner ausdrücklich „Rechtsleben“ sagt!

Welchen Kräften dient Zander?

Überhaupt bildet sich in einem bei vielen weiteren Entstellungen und Kommentaren Zanders die Frage, welchen reaktionären Kräften Zander eigentlich dient – ob ihm das bewusst ist oder nicht. Rudolf Steiner ist mit seinen Ideen und Aussagen hochaktuell, beängstigend aktuell. Er skizziert vollkommen andere Zusammenarbeitsformen zwischen den Arbeitern und den Organisatoren der Arbeit (z.B. Direktoren), um das reine Profitinteresse in die Schranken zu weisen und jedem Einzelnen den gerechten Anteil an der gemeinsamen Arbeitsleistung zukommen zu lassen. Zander jedoch entgeht dies alles, er führt wesentlichste Aussagen gar nicht an, sondern ist stattdessen nur immer auf der Suche, nach Ähnlichkeiten, Kontexten etc.

Ihm entgeht auch, dass heute längst namhafte Staatsrechtler von einer „Scheindemokratie“, einer „Plutokratie“ u.a. sprechen. Und Rudolf Steiner sagte schon damals: „Zwei Gebiete können niemals im Menschenleben demokratisch entschieden werden: das eine Gebiet ist dasjenige des Geisteslebens und das andere Gebiet ist dasjenige des Wirtschaftslebens. Gerade, wer es ehrlich meint mit der Demokratie, der muß sich klar darüber sein: Wenn volle Demokratie werden soll, dann muß aus dem Gebiete des bloß demokratischen Staates ausgesondert werden auf der einen Seite das Geistesleben, auf der anderen Seite das Wirtschaftsleben.“

Während Zander Bezüge zu Silvio Gesell herzustellen versucht, geht er wiederum unglaublich mit Steiners Worten um und sagt: „Am 2. April 1919 äußerte Steiner, daß er ‚partiell’ mit ‚der Freiland-Freigeld-Bewegung’, ‚mit dieser Bewegung’, ja sogar ‚ganz mit dieser Bewegung einverstanden’ sei (GA 329,140) – Steiners selbst in einem einzigen Vortrag divergierende Bewertungen lassen sich nicht auf einen Nenner bringen.“ – Was hatte Steiner aber gesagt?

„Das ist dasjenige, was [...] partiell, einzeln angestrebt wird von der Freiland-Freigeld-Bewegung; deshalb habe ich in einem solchen Falle gesagt: Ich bin ganz mit dieser Bewegung einverstanden – weil ich immer versuche, die einzelnen Bewegungen in ihrer Berechtigung einzusehen, und [...] eben nicht glaube, daß ein Mensch, oder selbst eine Gruppe von Menschen das Richtige finden kann, sondern weil ich demokratisch glaube, daß die Menschen zusammen in der Wirklichkeit, im Zusammenwirken, allein richtig organisiert, erst das Rechte finden werden.“

Zander jedoch resümiert – wirklich blind und stur bleibend:

„Steiner war nicht demokratisch sozialisiert. [...] Steiner blieb den aristokratischen Vorstellungsstrukturen aus seiner Wiener Zeit treu. [...] In seinen Vorstellungen einer reformierten Staatsordnung finden sich triadische Strukturen, die Steiner in seine Dreigliederung, die er in den ersten Monaten des Jahres 1919 entwickelt hat, übertrug. Woher die zentralen, aber nachgetragenen organologischen Elemente der Dreigliederung stammen, ist unklar, sie korrespondieren aber mit damals weit verbreiteten Vorstellungen. Über die systematischen Konsequenzen dieser Entscheidung, die bei ihm auf eine autoritäre Leitungsfunktion des „Kopfes“, des Geisteslebens, hinausläuft, hat sich Steiner keine kritischen Gedanken gemacht, sie entsprachen vielmehr den geistesaristokratischen Grundannahmen seines theosophischen Weltbildes.“

Immer weiter: Eigene Widersprüche, Unverständnis und Entstellungen

Auch hier bemerkt Zander nicht einmal den krassen Widerspruch zu sich selbst, wenn er wiederum nur 16 Seiten weiter zugeben muss, dass es Steiner nirgendwo um Macht ging, ja dass ihm solche Vorstellungen ganz fremd waren:

„Steiner rechnete offenbar damit, daß sich die Dreigliederung aufgrund der besseren Argumente „einfach“ Geltung verschaffen würde. Daß auch ein (vermeintlich) konkurrenzloses Programm im Machtgefüge der gesellschaftlichen Gruppen durchgesetzt werden muß, entsprach nicht seinem Politikverständnis.“

Und selbst die Verhinderung von Konflikten (!) zwischen den gesellschaftlichen Sphären wird bei Zander noch etwas Schlechtes, wie er dann durch einen falschen Gegensatz und eine entsprechend aggressive Sprache suggerieren will:

„Während in einer Demokratie Konflikte kommunikativ bearbeitet werden sollen, weil wechselseitige Kontrolle nur unter der Voraussetzung eines diskursiven Umgangs funktioniert, versuchte Steiner, Konflikte durch die Trennung in drei gesellschaftliche Segmente schon vor ihrem Aufbrechen zu verhindern. Konflikte sollen, zugespitzt formuliert, nicht moderiert, sondern eliminiert werden.“

Es ist, wie wenn Zander sagt, dass Demokratie nur dann besteht, wenn drei schreiende Kinder sich in einem Zimmer streiten – und nicht dann, wenn jedes sein eigenes Zimmer haben darf. Er realisiert nicht, dass viele Konflikte heute nur dadurch auftreten, dass wir noch keine volle Demokratie haben!

Zander hat unerbittlich die fixe Vorstellung im Kopf, Steiner würde einer „Herrschaft der Eingeweihten“ das Wort reden, die Demokratie verteufeln und den Staat bekämpfen. Über dieses selbstgeschaffene Monster nun darf er am Ende das Verdikt sprechen:

„Angesichts des Scheiterns der Weimarer Republik muß man die Frage stellen, wie Steiners Dreigliederung in die damaligen politischen Debatten einzuordnen ist [...]. Steiner in diesem Zusammenhang zu nennen, heißt nicht, ihm (oder der Anthroposophie) kurzschlüssig die Schuld am Nationalsozialismus oder dem Untergang der Weimarer Republik zuzuweisen, wohl aber ihn auch im Kontext einer Geschichte zu lesen, die in diese Katastrophe geführt hat. Steiner gehört meines Erachtens in die Tradition des im Kern nichtdemokratischen Denkens in der ersten deutschen Republik. [...] Mit der Struktur der Dreigliederung hielt Steiner nach dem Untergang des Kaiserreichs an einer Art konstitutioneller Monarchie fest, in der nun die „Eingeweihten“ und „Hellsichtigen“ die Oligarchen stellten und demokratische Entscheidungen an ihr Placet banden.

Die Wurzeln dieser Tradition liegen sowohl für Steiner wie für den 18 Jahre jüngeren Hitler in Österreich, näherhin in Wien. Um auch hier keinen falschen Zungenschlag aufkommen zu lassen: Steiner war kein Hitler und auch nicht sein Parteigänger, neben manchen Übereinstimmungen gibt es tiefe Unterschiede. Aber beide waren vermutlich strukturell ähnlichen Sozialisationserfahrungen ausgesetzt. [...] Steiner wurde nicht zum äußersten Antidemokraten wie Hitler, aber er stellte der Demokratie ohne Demokraten auch keine überzeugten Verfechter an die Seite.“

[Unendlichen Dank, Euer Gnaden und Herr der Wissenschaft, dass Ihr Steiner nun mutig gegen die selbst erbauten Monstrositäten verteidigt und zumindest ein klein wenig Abstand von Hitler zugesteht! Auf ewig sind wir Euch verpflichtet...] [Wenn Zander hier nicht den Tatbestand einer sozusagen umgekehrten Volksverhetzung erfüllt, dann weiß ich nicht weiter! Das Volk wird aufgehetzt, denjenigen Menschen für einen gemeingefährlichen Antidemokraten zu halten, dessen zutiefst voll-menschliche Geistesimpulse die Katastrophe hätten verhindern können!]

Zanders grundlegender Irrtum

Der grundlegende Irrtum Zanders besteht darin, dass Steiner nur einen einzigen Anspruch erhob: Dass er aus seiner übersinnlichen Geistesforschung heraus eine Idee in Worte gefasst hat, die wahr, wirklichkeits- und menschengemäß und fruchtbar wäre. Hier lag der Anspruch des Eingeweihten – nirgendwo sonst. In dem Geistesleben der Dreigliederung hatten Eingeweihte so wenig „Macht“ wie in der jetzigen Demokratie, in der die Sphären viel zu sehr vermischt sind. In einem freien Geistesleben wären den Eingeweihten noch immer die Hände gebunden – sie sind und bleiben abhängig von der freien Einsicht der Menschen. Welch ungeheures Vertrauen Rudolf Steiner in diese Einsicht hatte, zeigen folgende Worte:

„Es ist ja heute so, daß dasjenige, was sozial fruchtbar ist an Ideen, eigentlich nur gefunden werden kann von den wenigen Menschen, welche sich gewisser spiritueller Fähigkeiten bedienen können, die die weitaus überwiegende Mehrzahl der Menschen heute nicht gebrauchen will,  trotzdem sie in jeder Seele liegen, nicht bloß bewußt nicht gebrauchen will, sondern zumeist unbewußt nicht gebrauchen will.

Nach dem allgemeinen Zeitcharakter wird man natürlich solchen in die Geheimnisse der Schwelle Eingeweihten, über die sozialen Ideen Sprechenden, nicht glauben, weil das nötige Vertrauen unter den Menschen nicht da ist. Man wird jede soziale Idee, welche eigentlich keine Wirklichkeit ist, [...] man wird selbstverständlich eine solche rein verstandesmäßig zutage geförderte soziale Idee, die keine ist, für demokratisch gleichwertig halten mit dem, was der Initiierte aus der geistigen Welt herausholt und was wirklich fruchtbar sein kann. Aber würde diese demokratiesüchtige Ansicht oder Empfindung den Sieg davontragen, so würden wir in verhältnismäßig kurzer Zeit eine soziale Unmöglichkeit, ein soziales Chaos im wüstesten Sinne erleben [das war 1918 gesprochen!]. Aber [...] Ich habe es immer wieder und wieder betont: Derjenige, der sich wirklich seines gesunden Verstandes, nicht des wissenschaftlich verdorbenen [!], aber des gesunden Menschenverstandes bedienen will, der kann jederzeit, wenn er auch nicht finden kann dasjenige, was nur der Initiierte finden kann, er kann es prüfen, er kann es am Leben erproben, und er wird es einsehen können, nachdem es gefunden ist. Und diesen Weg werden für die nächste Zeit die sozial fruchtbaren Ideen zu nehmen haben. Anders wird man nicht vorwärtskommen. [...]

Damit habe ich Ihnen zu gleicher Zeit nicht irgendein Programm charakterisiert, denn mit Programmen wird die Menschheit in der nächsten Zeit sehr schlimme Erfahrungen machen; ich habe Ihnen charakterisiert einen positiven Vorgang, der sich abspielen muß. Diejenigen, die aus der Initiation etwas wissen über soziale Ideen, werden die Verpflichtung haben, diese sozialen Ideen der Menschheit mitzuteilen, und die Menschheit wird sich entschließen müssen dazu, über die Sache nachzudenken. Und durch Nachdenken, bloß durch Nachdenken mit Hilfe des gesunden Menschenverstandes, wird schon das Richtige herauskommen.“

Und im Mai 1919 sagt Rudolf Steiner:

„Heute ist die Zeit, in der man lernen muß den Unterschied zwischen herrschen und regieren. Es scheint ja allerdings so, als ob dieser Unterschied noch nicht gründlich genug erkannt worden ist. Herrschen muß heute das Volk, eine Regierung darf nur regieren. Das ist es, worauf es ankommt. Und damit ist auch gegeben, daß in einem gesunden Sinne heute die Demokratie notwendig ist. Deshalb habe ich auch keine Hoffnung, daß man mit den schönsten Ideen etwas erreichen kann, wenn man sie durch kleine Gruppen verwirklichen will und wenn man nicht getragen wird von der Erkenntnis und Einsicht der wirklichen Majorität der Bevölkerung.“

Fazit

Wir haben gesehen, wie der Wissenschaftler und Theologe Helmut Zander es geschafft hat, eine grundlegende Idee Rudolf Steiners so grundlegend zu entstellen, dass er am Ende Steiner in die Nähe dessen rücken konnte, dessen Machtergreifung gerade durch die Idee der Dreigliederung hätte verhindert werden können! Und so geht Zander in allem vor – so geht er dann auch mit der Waldorfpädagogik, der Medizin usw. um. Mehrere Veröffentlichungen haben auch seine diesbezüglichen Entstellungen bereits nachgewiesen.

Was bedeutet diese Tatsache? Sie bedeutet, dass ein „Wissenschaftler“ ungestraft das ungeheure Lebenswerk eines anderen Menschen entstellen und in sein Gegenteil pervertieren darf. Dass er, um konkret zu werden, den wichtigsten Zukunftsimpuls ungestraft derart unkenntlich machen darf, dass jeder, der Zanders Darstellung zur Kenntnis nimmt, an ihm vorübergehen wird. Dass also Plagiate in unserem Land verboten sind (siehe zu Guttenberg), viel Schlimmeres aber nicht!

Diese Tatsache bedeutet also auch, dass man sich heute mehr denn je zuvor auf sein eigenes Urteil und sein eigenes Denkvermögen verlassen muss – etwas, wozu Rudolf Steiner immer wieder aufgerufen hat. Es bedeutet aber auch, nicht mehr nur abstrakt zu denken, denn der abstrakte Verstand kann alles „beweisen“, wofür Zander ein außergewöhnliches Beispiel ist. Der Aufruf ist, immer mehr zu lernen, von innen heraus zu empfinden, erlebend zu erkennen, was vorliegt, wenn jemand etwas ganz Bestimmtes sagt. Dann erst wird man wahrhaft urteilsfähig werden – dann erst wird man sich mehr und mehr mit der vollen Wirklichkeit verbunden fühlen, in der man dann auch immer vollwirklicher als ganzer Mensch darinnenstehen wird.

Steiners Aufruf in allem, was er tat, schrieb und sprach, war letztlich: Werde immer mehr wahrhaft Mensch!