23.04.2012

Das Leid mit dem Rezensenten

Kommentar zu Bernhard Steiners Rezension meines Buches "Zeit der Entscheidung" in "Das Goetheanum" Nr. 13/14 vom 31.3.2012.


Einer der Experten für Finanzfragen, Bernhard Steiner, schrieb für das „Goetheanum“ eine Rezension meines Buches „Zeit der Entscheidung“.
Leider trägt diese nicht zu einem Urteil bei, das diesem Werk gerecht wird. Daher möchte ich hier auf zentrale Aussagen erwidern:

„Wer das Zeitgeschehen in den Medien verfolgt und sich schon etwas mit der Idee der sozialen Dreigliederung befasst hat, wird hier nicht so viel Neues finden.“

Auf 800 Seiten nicht viel Neues? Ich kann nur annehmen, dass B. Steiner das kenntnisreiche Wissen seiner Zeitgenossen wirklich stark überschätzt. Welcher Anteil aller Menschen weiß und versteht denn wirklich, wie die „Finanzkrise“ entstand, wie sie sich entwickelt, wer die Akteure sind, worüber die Politiker entscheiden, welche Bedeutung diese Beschlüsse haben, was in Griechenland geschieht und, und, und?

Ich habe das Buch für all die vielen Menschen geschrieben, die das Gefühl haben, diese teilweise sehr komplexen Prozesse und die vielen Ungeheuerlichkeiten bisher nicht wirklich durchdringen zu können. Aber selbst für Fachleute ist es eine wahre Fundgrube – so wurden z.B. zahlreiche Zitate sogar aus dem Englischen übersetzt und finden sich bisher nirgendwo im deutschsprachigen Raum!

„Dem aufmerksamen Zeitgenossen wird allerdings ein Großteil der vorgebrachten Inhalte schon aus den bekannten Zeitschriften wie ‹Der Spiegel› oder ‹Die Zeit› bekannt sein.“

Ja, der „aufmerksame Zeitgenosse“ kann auch recht gut informiert sein, wenn er regelmäßig alle Berichte des „Spiegel“ und der „Zeit“ gelesen hat. Aber welcher Anteil aller Menschen tut das? Ich habe jedoch wesentlich umfassender recherchiert – und etwa 90% der weit über 1.000 Quellenangaben beziehen sich nicht auf den „Spiegel“ oder die „Zeit“ (viele Zitate aus dem „Spiegel“ beziehen sich sogar auf die Frühphase der Entwicklung der Krise, deren umfassende Darstellung B. Steiner wiederum positiv heraushebt).

In Bezug auf den zweiten Band des Buches kommt B. Steiner dann zu demselben Urteil. Ohne den umfassenden Teil zu erwähnen, der hier von Verteilungsfragen bis hin zur völligen Dekadenz des Geisteslebens in vielen, ungeheuerlichen Aspekten die Gesellschaftskrise erlebbar macht, stört sich B. Steiner an den dann folgenden grundlegenden Begriffsbildungen zum Einkommen, zum Eigentum usw. – und schreibt:

„Auch hier wäre weniger mehr gewesen und es stellt sich die Frage: warum Steiner dann nicht direkt im Original lesen?“

Ja – jeder Mensch sollte Rudolf Steiner im Original lesen! Aber wenn es nicht getan wird!? Vor allem habe ich das Buch nicht speziell für „Anthroposophen“ geschrieben, sondern für alle Menschen, die umfassend die Krise unserer Zeit durchdringen wollen und echte Auswege suchen. Ich habe Steiner extra nicht seitenlang zitiert, sondern eigenständig die Begriffe entwickelt. Gerade darum geht es doch: Die entscheidenden, wesentlichen Begriffe immer wieder individuell zu entwickeln – und zwar auch aus einem individuellen Erleben und Betroffensein von der heutigen Realität.

„Man spürt beim Lesen die Empörung des Autors über die andauernden Ungerechtigkeiten, über die Lügen der Politiker und Wirtschaftsbosse.“

Hier wird es sehr missverständlich – und später ist sogar von meinen „Klagen“ die Rede. Dabei sind in meinem Werk gerade nicht subjektive Empörung oder gar Klagen zu finden, sondern geht es mir um ein Leiden an der Wirklichkeit auf einer viel objektiveren Ebene – nämlich gerade in einem höheren Gleichgewicht über jenen beiden Polen subjektiver Klagen und abstrakt-sachlicher Analysen, die sonst überall vorherrschen (siehe dazu auch meinen Roman „Die Wende“, der u.a. genau diese essentielle Frage berührt).

Vollkommen verwirrend wird es dann, wenn B. Steiner schreibt:

„Er sagt selbst: ‚Ja, natürlich ist dieser Aufsatz in einer oft auch polemischen Sprache geschrieben, aber er ist es, weil der Autor von einer Wirklichkeit erschüttert ist, die tatsächlich erschütternd ist.’“

Hier nämlich beziehe ich mich auf den Aufsatz eines anderen Autors – ich empfinde die polemische Nuance gerade als kritisch, und dennoch ist sie menschlich unmittelbar nachvollziehbar, weil die Wirklichkeit erschütternd ist. Wer sich in ihrem Angesicht zu dieser polemischen Nuance gedrängt sieht, besitzt mehr Herzblut als die sachlich-kalten Kommentatoren, die unsere Presselandschaft dominieren.

„...trotzdem wünsche ich mir als Leser einer solchen Schrift, weniger darüber zu hören, wie falsch alles läuft, sondern Gedanken, die sozusagen eine Oktave höher ansetzen und mir zu einer bisher noch nicht wahrgenommenen Perspektive verhelfen.“

Das mag für B. Steiner zutreffen – aber mein zweibändiges Werk möchte beide Ziele verfolgen: Es möchte einerseits ein umfassendes, tiefes Erleben der Krise(n) ermöglichen ... und andererseits den realen Ausweg erlebbar machen. Wenn B. Steiner dazu nur zu sagen hat „Weniger wäre mehr gewesen“ und „warum nicht Steiner im Original lesen?“, kann ich nur sagen: Er war der falsche Rezensent. Er hat das Buch nicht aus der Perspektive unzähliger anderer Leser gelesen, an die sich dieses Werk richtet.

Das Traurigste daran ist, dass er in dem Buch jene höhere Oktave nicht findet, die selbst einen Fachmann wie ihn berühren könnte. Denn auch wenn dieser Doppelband eine ungeheure Fülle an Fakten bietet, so ist er doch überall darauf gerichtet, zu einem tieferen Erleben der Wirklichkeit zu führen – und hier, in einem tieferen als nur rein verstandesmäßigen Erleben, liegt der einzige echte Ausweg.

Wir müssen über das heutige abstrakte Erleben völlig hinauskommen. Dies beginnt schon mit der Sprache. Wenn B. Steiner schreibt „(darüber) haben wir schon sehr viel gehört“, ist dies eine abstrakte, vereinnahmende Kollektiv-Sprache. Wenn es heißt „...wird hier gut bedient“, ist dies sprachlich ebenso abstrakt und kalt. Und dann schreibt B. Steiner sogar: „Für ein in der Materie ganz unbeschriebenes Blatt könnten die Inhalte eine Anregung sein...“. Hier spricht er von Menschen als von „Blättern“!

Wer das lebendige Wesen der Anthroposophie und den realen Ausweg aus der ungeheuren Krise unserer Zeit sucht, der kann solche Worte nur als furchtbar empfinden. Die von B. Steiner vermisste „höhere Oktave“ liegt nicht in völlig neuen Gedanken – die Gedanken Rudolf Steiners sind völlig neu und die von ihm entwickelten Begriffe weisen bereits den Ausweg. Aber „zu einer bisher noch nicht wahrgenommenen Perspektive verhelfen“ (B. Steiner) können alle Begriffe der Welt nicht, wenn das innere Erleben selbst nicht ein anderes wird. Genau dazu wollte mein Werk auch einen bescheidenen Beitrag leisten.

Es gibt bereits eine ganze Anzahl von Lesern, die mir persönlich Rückmeldungen gegeben haben, die genau dies empfinden. So schrieb z.B. ein Leser:

„Allein das Vorwort und die Einleitung ‚lohnen’ den wirklich günstigen Preis. Es herrscht da ein Duktus vor, der zu Herzen geht und in der Tat be-‚geistert.’“

Schade, dass solche Leser keine Rezensionen schreiben – und dass solche Rezensionen dann sogar bisweilen auch einfach nicht gedruckt werden...