26.05.2012

Die verlogenen Kommentare der Satten und Mächtigen

Von falschen Therapien und wirklicher Verantwortung


Inhalt
IWF-Chefin Lagarde und die Griechen
Die arrogante Blickverengung
Die soziale Krebsgeschwulst unserer Zeit
Echte Heilung statt Tötung des Patienten

IWF-Chefin Lagarde und die Griechen

In diesen Wochen, ja Tagen, offenbart sich wie unter einem Brennglas die ganze Verlogenheit unseres schrecklichen neoliberalen Zeitalters – einst wird man es wohl in einem Atemzug mit den schlimmsten Aspekten des „finsteren Mittelalters“ nennen.

Hektisch und unfähig – einige Wenige auch sehr bewusst und berechnend – stehen heute die Politiker, die „Verantwortungsträger“, vor der immer weiter anwachsenden Krise, deren Bedeutung kaum einer von ihnen auch nur annähernd erfasst. Und so kursieren in Medien, Talkshows, Interviews, Regierungserklärungen usw. Gedanken und Rezepte all(t)er Art, die einem dogmatischen, statischen, toten Denken entsprechen. Ihr Kennzeichen ist es, dass sie auf den ersten Blick „logisch“ erscheinen, einem tieferen Nachdenken jedoch ihre ganze Sinnlosigkeit, ja Zerstörungskraft offenbaren.

Christine Lagarde, die Chefin derjenigen Institution, die wie kaum eine andere geradezu ein Symbol für die neoliberale Ideologie geworden ist (der IWF), sagt – wenige Tage vor Pfingsten, dem Fest der Brüderlichkeit! – zur Griechenlandkrise:

„Ich sorge mich mehr um die Kinder in einem kleinen Dorf in Niger, die nur zwei Stunden Unterricht am Tag haben und sich zu dritt einen Stuhl in der Schule teilen. Sie brennen darauf, Bildung zu bekommen [...] Und ich sage Ihnen folgendes: Es ist manchmal härter, Länder zum Sparen aufzufordern, in denen die Menschen ein jährliches Pro-Kopf-Einkommen von 3000 bis 5000 Dollar haben. Denn ich weiß genau, was das dann für das Sozialsystem und die Versorgung der Armen dort bedeutet.“
Spiegel online, 26.5.2012.

Die arrogante Blickverengung

Genau das ist die typische neoliberale Blindheit, ja Arroganz, gekleidet in ein humanistisches Mäntelchen. Warum? Weil man unter Verweis auf die „noch Ärmeren“ alle anderen immer und immer wieder zum „Sparen“ und „Kürzen“ voranpeitschen kann.

Jeder Mensch mit auch nur einem Körnchen Weisheit hat ein tief innerlich erlebtes unmittelbares Wissen darüber, dass Bildung und soziale Sicherung das zentrale Fundament sind, welches einer Gesellschaft überhaupt ermöglicht, durch Fleiß und Arbeit zu einem allmählich wachsenden Wohlstand zu kommen. Wenn man hier „spart“, entzieht man sich den einzigen Boden, den man hat.

Lagarde sagt, die Griechen und alle anderen Europäer hätten es sich jahrzehntelang „gut gehen lassen“, nun sei „Zahltag“. Welch ein Unsinn!

Lagarde verweist mit Recht auf die Steuerhinterziehung, die in Griechenland in gewisser Hinsicht noch extremer ist als in anderen europäischen Ländern. Doch das Grundproblem ist damit überhaupt nur angerissen: Es ist die Tatsache, dass sich die Reichen und Mächtigen generell aus ihrer Verantwortung stehlen – nicht erst durch Steuerhinterziehung! Sondern auch durch die krasse Ungleichverteilung von Vermögen und Einkommen und durch die ebenso krasse Um-Verteilung! Was ist denn Hartz IV, was sind denn die Agenda 2010, die Steuer- und anderen „Reformen“ der letzten Jahre anderes als ein einziges Umverteilungsprogramm, welches die furchtbare Kluft zwischen Arm und Reich nur noch massiv vergrößert?

Jedem Einzelnen, der sagt: „Wir können uns den Sozialstaat nicht mehr leisten“, muss erwidert werden: Profitgier und Egoismus haben die Notwendigkeit eines Sozialstaates und das Elend Unzähliger erst hervorgebracht – und zugleich die Staatsfinanzen ruiniert. Dazu haben Politiker jahrelang an oft vorderster Front auch noch beigetragen!

Immer wenn der Staat kein Geld hat, muss er angeblich „sparen“. Nein – er muss sich das notwendige Geld holen, und zwar dort, wo es vorhanden ist. Europa vereint die reichsten und produktivsten Volkswirtschaften der Erde – hier existiert ein ungeheurer, unfassbarer Reichtum! Es ist alles, alles immer und immer wieder ausschließlich eine Verteilungsfrage.

Wenn die Reichen und Sich-Bereichernden nicht bereit sind, gerecht – und manchmal auch brüderlich – zu teilen, und wenn Politiker dieses System der „Umverteilung nach oben“ stützen, verteidigen und erweitern, dann muss jede Gesellschaft zusammenbrechen.

Und dann kommen Menschen wie Lagarde und spielen die Armen gegen die noch Ärmeren aus und fordern: Sparen, Sparen, Sparen. Und erheben sogar noch den moralischen Zeigefinger: Man habe es sich jahrzehntelang gut gehen lassen! Welch eine Lüge! Man hat jahrzehntelang nach oben umverteilt – und wenn dann „Staat“ und Bürger mit dem Rücken an der Wand stehen, werden sie völlig zerstört.

Einst werden sich Menschen im Rückblick auf dieses finstere Zeitalter des Neoliberalismus fragen: Wie konnte man nur so blind sein?

Die soziale Krebsgeschwulst unserer Zeit

Steuerhinterziehung ist ein politisches Problem, insofern der Staat vor der Verantwortung steht, seinen Aufgaben gerecht zu werden. Es ist ein moralisches Problem, wenn die (fast durchweg extrem reichen) Steuerhinterzieher den Staat genau daran offensiv hindern und ihm ihren Beitrag verweigern. Zusätzlich versagen die Politiker – politisch und moralisch –, wenn sie nicht nur nicht entschlossen genug die Steuerhinterziehung bekämpfen, sondern durch Umverteilung nach oben eine Gesellschaft auch noch aktiv in die soziale Katastrophe führen (nichts anderes tun die heutigen „Führungs-kräfte“!).

Es ist aufschlussreich, dass Institutionen wie der IWF überhaupt nur selten zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung auffordern, immer aber von „Sparen“ (lies: Kürzen notwendiger Ausgaben) sprechen! Und dass sie sich nie an die Reichen selbst richten, was sie durchaus könnten.

Auf diese Weise wird Steuerhinterziehung und Bereicherung in jeder Form zu etwas „Naturgegebenem“, das man allenfalls bekämpfen kann. Der Egoismus der Reichen ist aber nicht naturgegeben! Er ist vielmehr ein moralisches Problem von größter Bedeutung. Jede Politik, die diesen Namen verdienen soll, müsste fortwährend von diesen und anderen moralischen Fragen sprechen – dies ist von viel größerer Wichtigkeit als jeder technokratische Aktionismus!

Nur dadurch, dass man Steuerhinterziehung, Bereicherung und Umverteilung von unten nach oben hinnimmt und diesen sozial zerstörerischen Tendenzen auch nur die kleinste Möglichkeit lässt (ganz zu schweigen davon, dass man die Lücken oft aktiv schafft und vergrößert!), werden diese Phänomene so un-fassbar. Und nur dadurch können sie sich zu einer derart schädlichen sozialen Krebsgeschwulst entwickeln. Und auf dieser Grundlage wird dann „der Staat“, werden die Bürger zum „Sparen“ gezwungen, was einem sozialen Selbstmord gleichkommt. Es ist wirklich so: Der Krebs führt zum Tod des Patienten.

Echte Heilung statt Tötung des Patienten

Es ist wie mit der Chemotherapie und radioaktiven Bestrahlung – es sind mörderische Maßnahmen, die dem Patienten unter schrecklichen Nebenwirkungen teilweise noch einige Jahre des Überlebens ermöglichen. Auch bei der sozialen Krebsgeschwulst wird wörtlich von der zwar „bitteren“, aber wirksamen Medizin des „Sparens“ gesprochen! Das heißt, man empfiehlt die falschen Maßnahmen und man nimmt die Geschwulst als naturgegeben hin – was aber im sozialen Zusammenhang gerade der entscheidende Irrtum ist!

Gegen die soziale Krebsgeschwulst gibt es wesentlich effektivere Methoden als die mörderischen Kürzungs-Therapien. Im Gegensatz zum biologischen Krebs kann man den sozialen Krebs hoch effektiv bekämpfen, ohne das gesunde soziale Gewebe zu zerstören. Und dies geschähe, wenn man Steuerhinterziehung unmöglich machen und die Umverteilung von unten nach oben beenden würde. Beides ist möglich – es braucht nur den politischen und moralischen Willen.

Den neoliberalen Führungskräften scheint es weniger um die Krankheit als um die falsche Therapie zu gehen – sie brauchen die Krankheit geradezu, um die tödliche Therapie verordnen zu können. Jeder aber, dem es wirklich um eine soziale Gestaltung der Gesellschaft geht, muss Frau Lagardes Worte ein wenig abändern, um sie wahr zu machen:

Die Reichen und Sich-Bereichernden haben es sich jahrzehntelang gut gehen lassen (und sie wurden von den Politikern noch gefüttert!) – nun ist Zahltag.

Und Zahltag bedeutet hier nicht eine ebensolche mörderische Peitsche, wie Frau Lagarde sie schwingt, bedeutet nicht kalte Enteignung oder ähnliches, bedeutet keine soziale Katastrophe für die „armen“ Reichen, sondern schlicht und einfach nur die wirkliche, echte Beteiligung an der Verantwortung für eine wirklich menschliche, gerechte und soziale Gesellschaft – und eine entsprechende Anteilhabe jedes Einzelnen am gemeinsam erarbeiteten Wohlstand.

Eine andere Welt ist möglich – aber nur mit einem neuen Denken.