09.03.2013

Was sind die Hindernisse wirklichen Zusammenwirkens?

Von dem alten und dem neuen Menschen in uns und dem dazwischen liegenden Abgrund


Inhalt
Der alte und der neue Mensch
Sehnsucht nach Entwicklung und innere Unterscheidungsfähigkeit
Sympathien und Antipathien
Vorstellungen und der Zweifel
Angst und eigene Urteils-Macht
Stolz und innerer Hochmut
Das Nicht-Wollen – der Unwille
Der Alltag und die Schwachheit des alten Menschen
Die Grundfrage der Willensrichtung
Der neue und der alte Mensch


Der alte und der neue Mensch

Jeder Mensch, der auf einem gewissen inneren Entwicklungsweg auch die Selbstanschauung übt, wird erleben, wie sich im Menschen selbst gewissermaßen zwei Tendenzen gegenüberstehen. Die eine ist diejenige, die sich selbst in den Mittelpunkt stellt. Die andere ist eine innere Bewegung zum anderen Menschen hin. Unterscheiden wir noch feiner, so können wir sagen: Es gibt im Menschen eine selbstbezogene und eine selbstlose Tendenz.

Man muss hier allerdings im Einzelnen sehr genau unterscheiden lernen. Nicht jede „Bewegung“ zum anderen Menschen hin ist selbstlos – es gibt sehr viele selbstbezogene Bewegung! Sogar das, was man für die größte „Liebe“ hält, kann sehr selbstbezogen sein – und dennoch auch den Keim zur Selbstlosigkeit enthalten. Auch eine innere Scheu und Abneigung davor, im Mittelpunkt zu stehen, kann noch einen feineren Egoismus bzw. Selbstbezug enthalten. Es kommt für die Unterscheidung wirklich auf das innerste Erleben der jeweiligen „Färbung“ der inneren Gesinnung an. Im Innersten wissen wir, was die wirkliche Bewegung der Selbstlosigkeit ist und wo überall wir der selbstbezogene Mensch sind.

In Wirklichkeit stehen sich hier nicht zwei Tendenzen gegenüber, sondern es sind in uns im Grunde zwei ganz reale Menschen! Man kann empfinden: Der eine Mensch ist der egoistische, unverwandelte. Der andere Mensch ist der verwandelte.

Zwar durchdringen diese sich teilweise, aber unter einem anderen Blickwinkel betrachtet, stehen sie sich unversöhnlich gegenüber: Da, wo der eine Mensch herrscht, kann der andere nicht sein. Natürlich kann derselbe Mensch bei einer einzigen Handlung egoistische und selbstlose Anteile in sich haben – und so wird auch die Handlung beides haben. Doch unterschieden werden können diese Anteile im Menschen sehr deutlich. Auf diese Weise kann aber immer deutlicher auch empfunden werden: Es sind zwei vollkommen verschiedene innere Menschen in uns.

In den christlichen Strömungen, in denen man die Läuterung der Seele ernst nahm, hat man dies immer sehr stark empfunden. Und man sprach von dem „alten Menschen“ und dem „neuen Menschen“ – oder von dem ersten Adam und dem zweiten Adam.

Kehrt man wirklich in seine Seele ein, so dass die Seele innerlich ganz mit sich allein ist, so kann die Seele sich selbst anschauen. Es ist dann noch eine Instanz da, die der Schauende ist. Und man kann sich in dieser Selbstanschauung eine immer größere Objektivität – Selbstlosigkeit! – erringen. Es liegt im Menschen auch diese Sehnsucht: sich selbst unverfälscht, rein, im Lichte der Wahrheit, anzuschauen. Dieser reinste Teil der Seele ist bereits Teil des Keimes des neuen Menschen. Und dieser reine Teil vermag Hell und Dunkel zu unterscheiden, er erkennt selbstlos und rein den neuen Menschen (der zunächst nur in der Sehnsucht nach Läuterung besteht, in den allerersten schwachen Versuchen, selbstlos zu werden) – und das große, ungeheure Reich des alten Menschen.

Und dann ist die Unterscheidung in ihrer ganzen Grandiosität und Schärfe da: Hier der alte Mensch, selbstbezogen, hässlich und armselig in seiner Selbstbezogenheit – und da der andere Mensch, licht, rein, edel und gut. Und die beiden sind durch einen Abgrund geschieden...

Der Mensch, der man dann selbst ist, ist immer schon dabei, diesen Abgrund zu überbrücken, ja ist, wird eigentlich selbst die wachsende, noch ganz anfängliche Brücke – und doch weiß er, dass auch diese beiden Menschen, die die eine und die andere Seite des Abgrundes bilden, in ihm eine Realität sind. Das diesseitige Ende des Abgrundes ist der unverwandelte, alte Mensch, der man noch so unendlich stark ist – und jenseits liegt das andere Ende, jener Mensch, der man noch nicht ist, nur in den allerersten Anfängen, und der man aber im Innersten werden möchte...

Sehnsucht nach Entwicklung und innere Unterscheidungsfähigkeit

Doch wie stark diese innere Sehnsucht wirklich erlebt oder aber (noch) nicht erlebt wird, davon hängt es ab, ob und wie man den inneren Entwicklungsweg betritt. Wer die Sehnsucht nach dem neuen Menschen real hat, der entwickelt auch in derselben Realität den inneren Willen, diese geheimnisvolle innere Verwandlung und Läuterung durchzumachen, sich auf den einsamen, oft dornenvollen Pfad zu begeben, der einen zum Licht und zum wahren Wesen des Menschen und auch der eigenen Individualität führen wird. Und alle „Hindernisse“, die dazu führen, dass der innere Wunsch und „gute Wille“ nicht auch zur vollen und starken Tat wird, sind letztlich nur eine Offenbarung der Tatsache, dass der innere Wille eben noch nicht stark genug ist, noch nicht ganz da ist.

Dem möge man nicht mit (Selbst-)Vorwürfen begegnen. Denn man kann auch seine Schwäche annehmen lernen und die Hindernisse lieben lernen. Es sind ja Prüfungen für den Willen – Prüfungen, Zu-mutungen, Aufrufe... Immer weiter kann man sich aufgerufen fühlen, seinen Willen noch stärker und immer noch stärker zu machen ... bis dieser Wille sich einst wirklich in seiner vollen, grandiosen Realität aus den irdischen Fesseln erheben wird und unerschütterlich alle Hindernisse überwindet, und wenn er Berge versetzen müsste...

Wer sich so in das innere Leben der Seele und das Gebiet der inneren Selbsterziehung einlebt, der kann in der inneren Selbstbeobachtung auch sehr klar die verschiedenen Kräfte untersuchen, die einer harmonischen Begegnung und einer wirklichen Zusammenarbeit mit anderen Menschen ganz konkret entgegenstehen. Denn die Widerstände, die aus dem alten Menschen hervorgehen, sind sehr differenziert!

Wir machen uns nur selten auch nur ansatzweise klar, was alles geschieht, wenn zwei Menschen „aneinandergeraten“. In einem Konflikt ist manchmal langsam, manchmal blitzschnell die Katastrophe da – schon sprachlich drücken wir dies aus, wenn wir sagen: Auf einmal „kracht“ oder „knallt“ es. Und es ist dann nicht nur so, dass man sich „missverstanden“ hat oder dass die „Emotionen“ „hochkochen“ oder „aufeinanderprallen“. Die Geschehnisse haben Ursachen, und diese sind sehr differenziert. In der inneren Selbsterforschung kann man alle diese Ursachen und Kräfte unterscheiden lernen.

Gerade weil wir im Innersten den wirklichen guten Willen sicher kennen, können wir diese differenzierte Selbsterkenntnis haben. Auch wenn wir den guten Willen noch nicht „haben“, nicht tun können, so können wir dennoch sicher wissen, was der reale gute Wille tun würde. Wir können es nicht im einzelnen wissen (denn dafür müsste er wirklich real werden), aber wir kennen sozusagen die ganze Gesinnung, die ganze moralische „Atmosphäre“ dieses guten Willens. Und weil wir sie kennen, können wir auch wahrheitsgemäß erkennen, dass wir diese noch nicht erreicht haben, sondern noch am alten Menschen hängen... Indem wir aber die innere Sehnsucht nach dem neuen Menschen kennenlernen, erwecken wir in uns das Wissen um diesen guten Willen – und zugleich mit diesem Wissen gewinnen wir das Unterscheidungsvermögen, bis ins Einzelne erkennen zu können, was alles sich diesem guten Willen in den Weg stellen kann. Wir brauchen nur zu beobachten! Wir brauchen uns nur die einzelnen möglichen Situationen des Lebens innerlich real vorzustellen und dann unsere eigene Seele selbstlos und objektiv zu beobachten...

Was sind die Hindernisse, die der alte Mensch in sich trägt, die sich der wirklichen Begegnung und Zusammenarbeit entgegenstellen?

Sympathien und Antipathien

Da sind zum einen die gewöhnlichen Sympathien und Antipathien – all jene Abneigungen, die man gleichsam wie ein Naturereignis hinnimmt, sei es, dass sie von Anfang an empfunden werden, sei es, dass sie sich aus bestimmten Gründen einstellen.

Der Mensch betrachtet Dinge, Geschehnisse und andere Menschen unter dem Aspekt, ob sie ihm „gefallen“ oder nicht gefallen. Gefallen müssen sie seiner unverwandelten Seele – ihrem Geschmack, ihren Vorlieben, ihren Erwartungen, ihrem Egoismus. Das fängt schon im Sinnlichen an: Eine Frau, ein Mann muss „attraktiv“ aussehen, soll für die Sinne ein Genuss sein, die Sinne sollen genießen, die Hormone sollen ins Blut schießen – dann ist einem der Andere in seiner Körperlichkeit „sympathisch“. Im Seelischen: Der Andere soll das Gleiche fühlen wie man selbst, er soll das gleiche Temperament, den gleichen Charakter und die gleichen Meinungen und Anschauungen haben – dann ist er „sympathisch“. Manchmal bewundert man heimlich auch diejenigen Eigenschaften, die man selbst gerade nicht hat. Aber auch hier entsteht die Sympathie aus der Selbstbezüglichkeit.

Antipathie entsteht da, wo wir Menschen „hässlich“ finden und wo sie seelisch anders sind als man selbst – die Seele trifft auf etwas ihr Fremdes und stößt es innerlich zurück. In der Sprache verlagern wir die „Schuldfrage“ auf den Anderen: Man fühlt sich „abgestoßen“, als sie dies eine Naturwirkung. Aber die Seele stößt sich auch selbst ab vom Anderen – und stößt den anderen zurück. Absondern und Zurückstoßen – das ist das Geheimnis der Antipathie.

Die Antipathie stellt sich ebenso schnell dann ein, wenn der andere Mensch etwas anderes tut als das, was wir wollen. Doch warum einem die Handlung des Anderen nicht gefällt und warum es hier dann zur Antipathie kommt, beruht eben auf verschiedenen Faktoren, die wir weiter untersuchen wollen.

Wie schnell wird uns ein Mensch unsympathisch, bloß weil er einmal etwas gesagt oder getan hat, mit dem wir nicht „einverstanden“ waren! Vertieft man sich einmal in dieses Erleben, kann einem mit einer völlig neuen, schrecklichen Deutlichkeit klar werden, wie sehr man sich wünscht, der andere wäre wie man selbst – ganz genau so, eigentlich eine Kopie (nicht exakt, denn das wäre gruselig, aber eben annähernd, schon noch ein eigener Mensch, aber dennoch nicht mit eigenen Gedanken, Gefühlen, Willensimpulsen...).

Der alte Mensch kann andere Menschen nicht so akzeptieren, wie sie sind. Sobald sie so sind, dass er irgendwo anstößt, „Anstoß nimmt“, ist die Antipathie da – wirklich wie eine Naturkraft, und der alte Mensch lässt sie zu, genießt sie oft sogar, baut sie dann auch eifrig aus, pflegt sie und hegt sie wie ein geliebtes Kind...

Die Antipathie gewinnt eine Eigendynamik – und damit hat dann die Dynamik jeder Konflikteskalation zu tun. Denn die Antipathie führt ja auch zu eigenen Handlungen, die wiederum den anderen zurückstoßen (sollen), der andere ist dann auch ein handelnder Mensch, und so „gibt ein Wort das andere“, eine Tat die andere.

Ein wesentlicher Zug des alten Menschen ist, dass er nicht verzeihen kann. Selbst wenn er dies manchmal beansprucht, ist er dennoch nachtragend. Und er will nicht die Vergebung, sondern die Vergeltung. Der alte Mensch macht sich eigentlich hochmütig zum Ebenbild Gottes – des zürnenden Gottes des Alten Testaments. Und so wie dieser Gott der Gott des „auserwählten Volkes“ war, so glaubt jeder Mensch fortwährend, im Recht zu sein, während der Andere Unrecht habe. Der Andere hat einen verletzt, und zwar wahrscheinlich mit Absicht. Der Andere unterliegt einem Irrtum, man selbst hat Recht, sieht die Dinge richtig. Man selbst wird immer benachteiligt und ungerecht behandelt, die Anderen sind immer im Vorteil und haben Schuld...

Das ist der alte Mensch: Aufrechnen, nicht verzeihen können, sich ereifern – und Rache nehmen wollen, es dem anderen „heimzahlen“, „Gerechtigkeit walten lassen“ (aus der ganz subjektiven Sicht heraus, die man aber für absolute Wahrheit hält).

Das Gerechtigkeitsempfinden ist ein sehr feiner, zarter, genauer Sinn des Menschen. Er kann auch selbstlos gebraucht werden. Meist aber ist er ganz stark in den Fängen des alten Menschen – und wird so sehr stark verzerrt, ganz in den Egoismus hineingezogen. Das Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein, ist das eine – aber was für Ströme an inneren unverwandelten Impulsen schließen sich dem an! Eine kleine Empfindung der Ungerechtigkeit kann so schließlich zu einem reißenden Fluss der Antipathie, zu einem tobenden Orkan des Hasses anschwellen!

Vorstellungen und der Zweifel

Von außerordentlicher Wichtigkeit sind dabei nicht nur die äußeren, realen Geschehnisse, sondern auch die inneren Vorstellungen, die eine solche Eigendynamik gewinnen können, dass sie das äußere Geschehen völlig bestimmen. Eine berühmte Verdeutlichung, die nur in gewisser Hinsicht übertrieben ist, ist die „Geschichte mit dem Hammer“ (Watzlawick, Anleitung zum Unglücklichsein):

Ein Mann will ein Bild aufhängen. Den Nagel hat er, nicht aber den Hammer. Der Nachbar hat einen. Also beschließt unser Mann, hinüberzugehen und ihn auszuborgen. Doch da kommt ihm ein Zweifel: Was, wenn der Nachbar mir den Hammer nicht leihen will? Gestern schon grüßte er ihn nur so flüchtig. Vielleicht war er in Eile. Aber vielleicht war die Eile nur vorgeschützt, und er hat etwas gegen ihn. Und was? Er hat ihm nichts angetan; der bildet sich da etwas ein. Wenn jemand von ihm ein Werkzeug borgen wollte, er gäbe es ihm sofort. Und warum sein Nachbar nicht? Wie kann man einem Mitmenschen einen so einfachen Gefallen ausschlagen? Leute wie der Kerl vergiften einem das Leben. Und dann bildet der Nachbar sich noch ein, er sei auf ihn angewiesen. Bloß weil er einen Hammer hat. Jetzt reicht’s ihm aber wirklich. Und so stürmt er hinüber, läutet, der Nachbar öffnet, doch noch bevor er „Guten Morgen“ sagen kann, schreit ihn unser Mann an: „Sie können Ihren Hammer behalten, Sie Rüpel!“


Bei diesem Beispiel können wir bleiben, um die weiteren Kräfte des alten Menschen voneinander zu unterscheiden:

Da ist zum einen der Zweifel – der Zweifel an dem anderen Menschen, mangelndes Vertrauen. Der Zweifel setzt die ganze Kette der Vorstellungen in Gang. Machen wir uns einmal deutlich, was dieser Impuls des Zweifels ist! Der Zweifel steht im Gegensatz zum (vertrauenden) Glauben, aber auch zur Erkenntnis. Der Zweifel kann einem immer das Negative, ja das Schlimmste ausmalen. Natürlich auch das Gute – auf der Basis des Pessimismus kann der Zweifel auch den (sehr oft selbstgeschaffenen) Sumpf wieder ein wenig gangbarer machen: „Vielleicht ist es ja alles gar nicht so schlimm...“ In der Regel aber erweckt der Zweifel negative Vorstellungen zu Leben  und lähmt gerade das Vertrauen. In der Seele wird Zweifel gesät...

Eng mit diesen nur „im Kopf“ sich abspielenden Vorstellungen hängen diejenigen Vermutungen und gebildeten Urteile und Schlüsse zusammen, die sich zwar zunächst an irgendein äußeres Vorkommnis knüpfen – dann aber über die reinen Tatsachen weit hinausgehen, viel zu weit, immer weiter...

„Gestern grüßte er nur flüchtig“ – und wieder kann sich ein ganzes Meer von Vorstellungen, Vermutungen, Vorurteilen eröffnen! Auch hier geht es um mangelndes Vertrauen und um den Drang des (alten) Menschen, sich Vorstellungen zu bilden, aber auch um den Hochmut des Verstandes, aus realen Tatsachen diese oder jene weiteren Schlüsse ziehen zu dürfen.

Im weiteren Verlauf regt sich dann all das, was wir schon betrachtet haben: das Gefühl der Ungerechtigkeit. Dem Nachbarn wird nun Hochmut und Missachtung der eigenen Person vorgeworfen, und sofort regt sich die Antipathie und der Drang nach Vergeltung: Dir werde ich’s zeigen! Ich bin in keiner Weise auf dich angewiesen! Behalte deinen dummen Hammer nur und lass dich nie wieder blicken!

Hochmut und Bosheit kommen voll zum Ausbruch – in einem selbst bricht das heraus, dessen man den Nachbarn verdächtigt hatte, aus Mangel an Vertrauen, aus eigener Schwachheit der Seele...

Angst und eigene Urteils-Macht

Doch warum geht man nicht hin zum anderen Menschen und findet heraus, ob die eigenen Vorstellungen, Vermutungen, Befürchtungen, Gedankensprünge, Vorurteile in irgendeiner Weise wahr sind?

Dafür gibt es sehr viele Gründe! Zumeist haben sie mit früheren Erfahrungen und/oder Angst vor dem Unbekannten, aber Befürchteten zu tun.

Frühere Erfahrungen setzt der alte Mensch immer ganz selbstverständlich in die Gegenwart fort – er selbst ist nicht zu einem Neuanfang bereit, und er rechnet auch beim Anderen niemals mit einem solchen. Frühere Erfahrungen zementieren ganz und gar, was man von einem Menschen zu „halten“ und zu „erwarten“ hat... Und selbst das kleinste Vorkommnis (flüchtig gegrüßt) kann schon dazu führen, dass fortan einem Menschen „alles zugetraut“ wird. Da die Welt aber voll von kleinen Vorkommnissen ist, sind der menschlichen Phantasie über die Bosheit im Mitmenschen keine Grenzen gesetzt!

Ein weiterer Faktor ist die Angst – Angst vor Unbekanntem oder auch Bekanntem. Der Mensch scheut die Konfrontation, denn er scheut die Ablehnung, die Zurückweisung, die offene Uneinigkeit in der Begegnung. Lieber ist er ohne Begegnung uneinig, ja feindselig!

Warum ist das so? In der Konfrontation liegen Erlebnisse der Ohnmacht – Erlebnisse unmittelbarer Verletzung, der Machtlosigkeit, des Versagens. In der geschützten Zurückgezogenheit dagegen, in der man allein oder auch mit Anderen über jemanden denken, sprechen, urteilen kann, empfindet man die Macht und die Kontrolle über die Situation – und über den anderen Menschen.

Man macht sich nicht immer klar, wie sehr dies so ist. Doch solange man über einen Menschen Gedanken und Urteile bildet, übt man eine Macht über ihn aus. Man bildet seine Gedanken und seine Urteile über ihn. Er muss sich (zumindest in der eigenen Vorstellung) diesen beugen, er wird so, wie diese es vorgeben. Und wenn man seine Urteile auch noch mit anderen Menschen teilt, wird es besonders gefährlich – denn hier setzt man reale Dinge in die Welt! Ein offen ausgesprochenes Urteil über einen anderen Menschen wird eine eigene Realität. Es wirkt weiter. Es prägt das Denken auch der anderen Menschen. Es prägt auch ihr Urteil über den Anderen. Und so wird dieser allmählich eingekreist von den vervielfältigten Urteilen in den Köpfen der Menschen, welches man selbst in die Welt gesetzt hatte...

Im Grunde ist jedes nicht vollkommen und absolut wahre Urteil über einen Menschen eine Art realer „Rufmord“ – denn übersinnlich gesehen, tötet, lähmt und erstickt es ganz real etwas, was weiterleben würde, wenn dieses Urteil nicht gefällt worden wäre. Selbst positive Urteile haben diesen Aspekt – denn jedes Urteil spricht etwas aus, und etwas anderes wird nicht ausgesprochen. Die Dinge werden einseitig, sie werden festgelegt, und dasjenige, was nicht ausgesprochen wurde, „verschwindet“ gleichsam, wird weniger wichtig, weniger beachtet.

Jedes Urteil lässt eine Art einseitiges Bild erstarren – obwohl der reale Mensch nur in fortwährender Lebendigkeit und in fortwährendem Fließen erfasst werden könnte. Insofern gibt es überhaupt kein absolut wahres Urteil – denn jedes einzelne Urteil ist einseitig, und selbst wenn es in seinem einseitigen Aspekt für den Moment wahr wäre, wäre es nur eine Momentaufnahme, denn ein Mensch kann in jedem Augenblick ein anderer werden...

Stolz und innerer Hochmut

Außer der Angst gibt es noch den Impuls des Stolzes und des Hochmuts. Diesem begegnen wir schon in dem intellektuellen Verstand selbst – der sich ja berufen fühlt, Urteile fällen zu können, wann immer er es will und für richtig hält. Und seine eigenen Urteile hält er darüber hinaus natürlich immer für richtig... Das ist der größtmögliche Hochmut gegenüber dem realen Wesen der Wahrheit. Denn der Intellekt, glaubt sich mit der Wahrheit geradezu eins und hat nicht einmal ansatzweise eine Ahnung davon, wie sehr sich die Seele läutern muss, um sich allmählich, nach und nach, für die Wahrheit ... bereit zu machen.

Den Stolz finden wir aber auch überall sonst im alten Menschen. Dieser will, dass überall in der Welt nur das positivste und beste Bild von ihm existiere – und sogar in sich selbst greift der alte Mensch zu Illusionen und Selbstbetrug. Der Stolz als reale Macht will nicht, dass das glänzende Bild auch nur den leisesten Makel bekommt. Und dieser Stolz ist verletzt, wenn der schöne Schein angekratzt wird. Den Schein hält er für Realität, aber selbst wenn nicht, so ist jedes Antasten des gemachten Bildes eine tiefe Verletzung und Entehrung, die verhindert oder aber bekämpft und vergolten werden muss.

Stolz hindert den Menschen daran, zu Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit, zu Bescheidenheit und zu Ehrlichkeit gegenüber eigenen Fehlern und Schwächen zu kommen. Und derselbe Stolz führt dazu, dass Menschen, die irgendetwas von diesen Schwächen „berühren“, zurückgestoßen und angegriffen werden, dass man ihnen misstraut und sie fortan als Feinde betrachtet...

Nicht immer geschehen die Dinge so deutlich und extrem, aber wir lernen das Wesen des alten Menschen auch dadurch kennen, dass wir ihn so radikal schildern, wie er in seinem starren, unverwandelten Kern ist – dann werden wir ihn auch in seinen feineren Offenbarungen deutlich genug wiedererkennen lernen.

Und welche Tragik und welche Katastrophen löst gerade der Stolz aus! Stolz verhindert es, auf den anderen zuzugehen, ihm gegenüber den eigenen Fehler zuzugeben und ihm den seinen zu verzeihen. Stolz führt dazu, dass man stattdessen nicht ablässt von dem großen „Aber...“ – immer ist es der Andere, der mehr Schuld hatte und dem man darum nicht verzeihen kann. Weil er den eigenen Stolz so gekränkt hat, dass der alte Mensch nicht fähig ist, auch nur den kleinsten Schritt auf ihn zu zu machen. Lieber wendet er sich in hasserfülltem Sturmlauf gegen den Anderen, als einen leisen, zarten Schritt der Versöhnung zu machen. Denn dieser Schritt wäre ein Schritt über den eigenen Schatten und ein Schritt über den Stolz – und da wiegen auf einmal die Füße bleischwer, gekettet an das Blei des Stolzes, der nur die eigene Person in den Himmel heben will...

Auch die Angst vor der Konfrontation hat mit dem Stolz zu tun. Hätte der Mensch keinen falschen Stolz – er bräuchte auch keine Angst zu haben. Mag die Angst zunächst auch die Angst vor Zurückweisung, vor Ablehnung, vor mangelnder Akzeptanz und Wertschätzung sein, so knüpft sich der Stolz doch auch daran. Ganz ohne Akzeptanz könnte ein Mensch kaum leben – und doch geht es dem alten Menschen nicht nur um das innere Band zu lieben Freunden, sondern er will immer akzeptiert werden: immer und überall, von jedem und auch jedes Mal. Eine Zurückweisung und selbst schon eine leise Frage erlebt der alte Mensch gleichsam als eine Art Vernichtung seiner selbst.

Hier stehen wir unmittelbar vor der Realität des Stolzes – der Stolz lebt durch den Schein. Der alte Mensch ist in sich selbst ein Nichts, er lebt durch das, was er von außen an Anerkennung bekommt, was ihm durch die Gedanken, Urteile und Gefühle der Außenwelt entgegenkommt. Diese Außenwelt ist sein Lebensblut, wann immer sich diese Außenwelt entzieht oder auch nur nicht ganz und gar entgegenkommt, empfindet der alte Mensch dies als Lebensbedrohung – und für ihn ist es dies auch. Hätte der alte Mensch nicht die äußere Anerkennung, so hätte er nichts, keine Haut, keine Knochen, er würde wie ein leerer Sack in sich zusammenfallen.

Der Stolz führt dazu, dass sich dieser leere Sack aufbläst und für etwas hält – und derselbe Stolz erwartet, dass eben dies ihm auch von der Außenwelt entgegenkommt. Dies muss geschehen, sonst kann er sein mühsam aufgebautes Selbstbild nicht aufrecht erhalten. Oder aber er kann es, indem er sich noch stärker aufbläst und so in der Lage ist, der ganzen Welt vorzuwerfen, dass sie seinen Wert und seine Größe nicht erkenne...

Andererseits kann die Angst vor Begegnung und Konfrontation auch mit einem Mangel an Selbstwertgefühl zu tun haben. Aber auch hier ist der Stolz berührt – es ist im Grunde der im Innersten verletzte Stolz. Der leere Sack hat gleichsam schon früh einen Riss bekommen und kann sich überhaupt nicht aufblasen. Es ist eine ähnliche Realität, nur jetzt unter gleichsam negativem Vorzeichen. Durch das mangelnde Selbstwertgefühl ist die Seele erst recht darauf angewiesen, keinerlei Ablehnungen zu erfahren. Es bleibt ein Problem des Stolzes und des Mangels – und damit des alten Menschen.

Das Nicht-Wollen – der Unwille

Trotz aller Differenziertheit der bisher beschriebenen Kräfte des alten Menschen haben wir gefunden, dass alle diese Kräfte mit Stolz und Hochmut zu tun haben – im Denken, im Fühlen und in den daraus hervorgehenden Handlungen.

Und ein damit unmittelbar verbundenes Phänomen bezeichnet den Willen des alten Menschen bis ins Innerste: In Bezug auf alles, was mit wirklicher Entwicklung, mit Verwandlung, mit einem Werden des neuen Menschen zu tun hat, ist dieser Wille des alten Menschen ein Nicht-Wille.

Diesen Nicht-Willen kann man sich gar nicht konkret genug vorstellen. Er ist nicht einfach ein Mangel, eine Abwesenheit von Willen, sondern er ist ein realer Unwille. Er ist ein unendlich starker Wille, der gerade die Verwandlung nicht will – mit aller Kraft...

Und dies ist auch verständlich, denn die Verwandlung würde den alten Menschen gerade in den neuen Menschen verwandeln. Dafür aber müsste der alte Mensch sterben – und genau dagegen wehrt sich der alte Wille. Sobald irgendetwas in Betracht kommt, was diese Frage der inneren Verwandlung berührt, kommen alle Kräfte des alten Menschen in Aufruhr: der Stolz, der Hochmut, die Angst, die Sinnensucht – und sie alle gipfeln gemeinsam in dem überschäumenden Un-Willen, der jede Verwandlung bekämpft und gleichsam wie eine Hydra mit immer neuen Köpfen auf alles geifert, was nach Verwandlung strebt.

Und so gesehen sind auch die einzelnen Offenbarungen dieses alten Willens nur Phänomene dieses zugrunde liegenden Ur-Unwillens. Seine Offenbarungen sind es, wenn der Mensch nicht bereit ist, zu verzeihen, auf den anderen Menschen zuzugehen, seine Urteile und diversen Vorstellungen einmal zurückzuhalten, inneren Mut und innere Bescheidenheit zu entwickeln... All dies will der alte Mensch nicht, und all dies ist der Unwille gegenüber jeder inneren Entwicklung, denn all diese Schritte wären Schritte der inneren Entwicklung.

Der Alltag und die Schwachheit des alten Menschen

Ein anderes Problem in der Zusammenarbeit ist der Alltag. Der Alltag ist der große innere Mörder des menschlichen Zusammenlebens. Denn der Alltag ist grau, der Alltag ist langweilig, der Alltag enttäuscht unsere Hoffnungen, unsere Erwartungen, unsere Ansprüche. Schon der ihn umgebende Alltag kann einen Menschen depressiv und aggressiv machen – dies ist bereits eine starke Quelle von Streit und Disharmonie. Aber auch der andere Mensch selbst wird als Alltags-Mensch enttäuschend und unerträglich – womit der Streit ganz unvermeidbar ist! Bis in die Sprache hinein wird der Prozess beschrieben: Man „ödet sich an“, die innere Leere und die substantielle Grauheit wird gleichsam wesenhaft und sickert wie ein Gift in die Menschen ein – und dringt wieder aus ihnen heraus.

Hier werden wir real mit der Schwäche des alten Menschen konfrontiert. Auch alles, was wir bisher kennengelernt hatten, war auf Schwäche gebaut. Hochmut, Stolz, Angst – es ist eigentlich alles Schwäche. Es entsteht ein leerer Schein, weil diese Schwäche sich mitunter zur scheinbaren Allmacht aufblasen kann. An ihrem Wesen ändert sich dadurch nichts. Auch der Hochmut ist ein leerer Sack, sein Wesen ist nichtig, er hat keinen Anteil an dem, was im Lichte der Ewigkeit allein Wert haben würde. – Doch nun, angesichts des Problems des „Alltags“ stehen wir ganz direkt vor der Schwäche des alten Menschen.

Auch hier erwartet der Mensch alles von außen. Die Welt soll sich ihm zu Füßen werfen, soll ihm dienen, soll ihn ergötzen. Es ist im Grunde dasselbe Problem wie das der Attraktivität: Für den alten Menschen muss alles ein Sinnen- und ein Seelengenuss sein. Er muss voll bestätigt werden, und nicht nur das, er muss verwöhnt werden – der alte Mensch will genießen, er will in Wohlgefühl „schwimmen“, er will sich nicht anstrengen und will nicht leiden.

Aber im Problem des „Alltags“ holt die Welt den Menschen ein – der alte Mensch wird gleichsam von seinem eigenen Wesen der Nichtigkeit ereilt, von der Welle der Nichtigkeit überflutet. Nicht, dass ein hässlicher Mensch das Gesamtbild der erwarteten Welt trübe. Nicht, dass ein unverschämter Mensch es wagen würde, eine andere Meinung zu haben, als man selbst. Das wäre noch zu ertragen, dagegen könnte man sich noch empören. Nein – sondern die ganze Welt verliert alles, was ... das Leben lohnen würde! Denn selbst die attraktivste, begehrenswerteste Frau wird durch den Alltag – alltäglich. Selbst der größte Reichtum, selbst alle Macht der Welt sind für den alten Menschen nicht genug. Unvermeidlich kommt irgendwann der Augenblick, wo auch all dies ... ihn anödet.

Und selbst dann noch erwartet der hochmütige alte Mensch, dass es anders zu sein hätte. Selbst dann noch wirft er der Welt vor, dass sie alltäglich geworden sei. Mit einem Vorwurf und einem Hass gegen das Leben wird der alte Mensch neue Genüsse, neue Lüste suchen, neuen Macht- und Sinneskitzel, Designerdrogen, immer neue Frauen oder Männer – aber alles, alles wird öde und leer, immer schneller. Und der ganze Kosmos des alten Menschen implodiert, der alte Mensch steht vor dem Nichts ... vor sich selbst.

Dies ist die wahre Schwäche des alten Menschen – dass er selbst nichts ist. Und weil er aus sich heraus kein eigenes Sein hat, kann er auch das Sein der Welt nicht festhalten. Der neue Mensch, der dieses wahre Sein findet, kann in einem Tautropfen die wunderbare Schönheit der Welt sehen. Der alte Mensch verliert sie selbst in der schönsten Frau...

Der alte Mensch ist blind. Er ist süchtig nach Eindrücken, nach immer neuen Reizen, aber er ist blind. Er will gereizt werden, seinen Genuss erregen lassen – aber er vermag nicht wirklich zu sehen. Würde er wirklich aus sich heraus leben können, so hätte der Alltag überhaupt keinen Zugriff auf ihn, denn der Alltag existierte überhaupt nicht. Für den Menschen, der aus sich heraus lebt, ist jeder Augenblick neu – ein solcher Mensch lebt ein Leben, von innen heraus, aktiv. Das Leben begegnet ihm, und er begegnet dem Leben, und jeder Augenblick ist ein anderer und begegnet ihm nur ein einziges Mal... Wenn dies ein inneres Erlebnis wird, kann es keinen Alltag mehr geben!

Der alte Mensch dagegen erwartet, dass die Welt gleichsam wie auf einen Rollband an ihm vorüberrollt und dabei nur die angenehmsten Köstlichkeiten vorbeifährt. Er ist wählerisch, nörglerisch, immer schneller unzufrieden – und mag am Ende überhaupt nichts mehr sehen. Der alte Mensch übernimmt keinerlei Verantwortung für sein Leben und sein inneres Glück – denn er hat beides gar nicht, weder inneres Glück, noch inneres Leben!

Der neue Mensch trägt die Kräfte der Freude in sich. Er trägt die volle Verantwortung für sein Leben. Er erwartet nichts von der Welt, sondern das, was er in der Welt sehen möchte, trägt er in sie hinein. Und doch kann er gerade deshalb dasjenige wahrnehmen, was in der Welt selbst auch verborgen liegt. Durch seine eigene innere Kraft ist der Mensch fähig, das in der Welt verborgene Göttliche zu sehen – durch allen Alltag und sogar alles Leiden hindurch. Gleiches wird nur durch Gleiches erkannt. Der nichtige Mensch erkennt nur Nichtigkeit – der neue Mensch erkennt mit jener göttlichen Kraft, mit der er durch die innere Verwandlung begnadet wird, das Göttliche. Und dazwischen gibt es alle Stufen der inneren Entwicklung...

Die Grundfrage der Willensrichtung

Wenn alle bisherigen Hindernisse überwunden werden könnten – wenn der Mensch sich so sehr verwandeln könnte, dass er den alten Menschen hinter sich lässt, um mehr und mehr den neuen Menschen anzuziehen – wo würden die Begegnungen der Menschen immer wieder ein großartiges Geschehen werden. Ein Wunder, ein Fest...

Und doch gibt es zunächst noch ein Hindernis für ein wirkliches Zusammenwirken, das wir noch nicht besprochen haben. Und dieses Hindernis betrifft wiederum den Willen.

Die entscheidende Frage nach Überwindung aller übrigen Hindernisse ist: Wollen die zusammenwirkenden Menschen wirklich das Gleiche?

Gerade in Konflikten wird dies sehr schnell gesagt: „Wir wollen doch alle das Gleiche, wir haben doch alle ein gemeinsames Ziel.“ Aber stimmt das wirklich?

Es gibt sehr unterschiedliche Anschauungen über ein Ziel – und auch über die Wege, wie es erreicht werden soll. Und die Frage kann sich in einem menschlichen Zusammenhang mit bestimmten „Zielen“ oft stellen: Wie sehr sind dies meine Ziele – und wie sehr kann ich die Wege bejahen, die hier beschritten werden?

Auch für die geistgemäße Erkenntnis wahrer Ziele und Wege muss der neue Mensch geboren werden. Vorher wandelt der noch zu sehr alte Mensch in Nebel und in Finsternis. Er meint, die richtigen Ziele zu haben und die entsprechenden Wege zu gehen – und ist doch weit entfernt vom Ziel und den wahren und guten Wegen. In seiner ganzen Unvollkommenheit trennt ihn vom Ideal und seiner Verwirklichung noch immer ein Abgrund.

Dann tritt die Frage auf, was man tun kann, wenn der eine Mensch eine reinere, tiefere Erkenntnis hat als der andere. Und die Schwierigkeit kulminiert, wenn sich der Ur-Unwille bemerkbar macht: Der Unwille gegenüber innerer Entwicklung. Was ist, wenn die innere Entwicklung der zusammenarbeitenden Menschen auf ganz verschiedenen Stufen ist – und viele gar nicht bereit sind zu echter, entschlossener innerer Entwicklung?

An solchen Realitäten kann eine Zusammenarbeit auch in letzter Hinsicht scheitern. Denn man muss sich entscheiden, ob man gerade diese bestimmten Wege in aller Unvollkommenheit mitgeht und immer weiter versucht, die Menschen auf die Bedeutung des inneren Strebens aufmerksam zu machen und eine Begeisterung dafür zu erwecken – oder ob man zu der Erkenntnis kommt, dass man hier an absolute Grenzen stößt, über die die beteiligten Menschen offenbar zunächst nicht hinweg wollen (oder können).

Die eigentliche Frage ist dann, ob man die eigenen inneren und äußeren Kräfte nicht besser an einem anderen Ort einsetzen kann.

Wirkliche Zusammenarbeit braucht den neuen Menschen – braucht eine Verwandlung des alten Menschen, braucht ein inneres Streben. Diese innere Entwicklung ist für beides notwendig: für die gute, echte Begegnung von Mensch zu Mensch und auch für eine wahrhaft geistige Annäherung an die Ziele und Wege, die man gemeinsam erstreben und gehen will.

Eigentlich ist beides gar nicht zu trennen – die Tiefe der inneren Verwandlung offenbart sich im Miteinander ebenso wie in der Arbeit, im mitmenschlichen Handeln ebenso wie im beruflichen Handeln. Und die Frage ist, wie man sich zu den Verhältnissen stellt, in denen man sich befindet. In jeder Gemeinschaft stehen die einzelnen Menschen an einem bestimmten Punkt ihrer inneren Entwicklung – und auch die Gemeinschaft als Ganzes steht an einem bestimmten Punkt. Und man muss nicht nur den momentan gegebenen Zustand sehen, man muss hier auch empfindsam werden für die Entwicklungstendenz und für die konkreten Möglichkeiten, die Perspektiven.

Im Angesicht der geistigen Welt kann eine Gemeinschaft, deren Menschen gerade erst für die Möglichkeit bewusster innerer Entwicklung erwachen, hier aber eine tiefe Begeisterung entwickeln, unendlich viel bedeutsamer und lichtvoller sein als eine Gemeinschaft, deren Menschen um diese Notwendigkeit wissen, die aber an einem bestimmten Punkt begonnen hat, zu stagnieren, ja zu resignieren. Hier geht es um Lebensprozesse! Auch Gemeinschaften machen Vorgänge des Keimens, Sprossens, Wachsens  und des Stagnierens, des Absterbens durch... Der Einzelne vermag dies manchmal zu beeinflussen und neue Lebens- und Wachstumskraft zu entbinden – und manchmal vermag er es nicht.

Letztlich muss jeder Einzelne in eigener innerer Intuition entscheiden, wie lange er mit voller Hoffnung, vollem Vertrauen und vollem Einsatz alles ihm Mögliche tut, um das Gute zu tun, das Richtige zu unterstützen, das Beste zu versuchen. Wenn ein Punkt kommt, wo er die Hoffnung, etwas Entscheidendes zum Ganzen beitragen zu können und damit auch den von ihm gewählten Zielen dienen zu können, aufgeben muss, weil er empfinden muss, dass dasjenige, was er ersehnt, nicht möglich ist – wirklich zu wenig –, so muss er für seine Ziele und seinen Willen neue Orte auf Erden suchen, wo ein Wirken im Sinne dieser Ziele besser, kraftvoller, fruchtbarer möglich ist...

Der neue und der alte Mensch

Doch wo auch immer wir zu wirken versuchen – immer wieder werden wir auf diese Schwierigkeit treffen: auf das Sich-Gegenüberstehen des alten und des neuen Menschen. Noch finden wir überall in der Menschheit immer wieder so ungeheuer stark den alten Menschen – und immer wieder stehen wir vor der Aufgabe, uns mit ihm auseinandersetzen zu müssen. Immer wieder entsteht die Frage, was man tun kann, um dem Mitmenschen zu helfen, diesen neuen Menschen in sich zu erwecken, zu suchen, überhaupt wirklich suchen zu wollen. Und natürlich steht man auch vor der Aufgabe, diesen neuen Menschen in sich selbst immer mehr zu erwecken, immer stärker zu machen, immer reiner wirken lassen zu wollen.

Man kann dem alten Menschen nicht entfliehen – überall auf der Welt wird man ihm wieder begegnen. Und der neue Mensch stößt überall an die Grenzen, die der alte Mensch aufstellt und darstellt. Letztlich ist der neue Mensch machtlos und vollmachts-begnadet zugleich. Der neue Mensch als geistig-moralische absolute Realität ist die einzige Macht, die den alten Menschen erreichen kann, berühren kann, verwandeln kann. Und zugleich bleibt selbst er absolut ohnmächtig, wenn der alte Mensch sich nicht berühren, verwandeln lässt.

Dies ist das Ur-Geheimnis der Verwandlung, des „Stirb und Werde“. Das Alte muss sterben wollen – um in das Neue verwandelt werden zu können. Und dieser Wille zu sterben ... ist bereits der Beginn und die Essenz der Verwandlung. Aber durch dieses Nadelöhr muss das Alte hindurch. Wenn es bleiben will, wie es ist, bleibt es – das Alte, das letztlich zur Vergänglichkeit Verurteilte, das in letzter Hinsicht Nichtige. Und wenn das Alte nicht sterben, anders werden, das Neue werden will – so ist das Neue machtlos. Es kann nur auf das noch Unverwandelte warten, hoffen, vertrauen – es muss warten, bis der Wille zur Verwandlung wirklich erwacht.

Dieser Wille ist das eigentliche Geheimnis hinter allen Hindernissen. Ist er zu schwach, werden die Hindernisse zu groß. Ist er lebendig da und führt den Menschen auf dem Wege innerer Entwicklung, so können alle Hindernisse überwunden werden, selbst die allergrößten.

Der Entwicklungswille, von dem hier die Rede ist, ist mächtiger als alles Irdische – und sogar mächtiger als alle übersinnliche Mächte der Hindernisse. Denn in dem inneren Willen zur Entwicklung wirkt die reale Sehnsucht nach dem absolut Guten – und so stehen diesem Willen alle übersinnlichen guten Mächte bei, wenn man um ihre Hilfe bittet.

Wenn Menschen zusammenarbeiten wollen und wissen, dass dafür auch ein innerer Entwicklungsweg notwendig ist, dann werden sie ganz unbedingt die Wege finden, die sie zu einer immer wahreren, tieferen, heiligeren Zusammenarbeit führen werden.