16.03.2013

Vertrauen – der Lebensatem menschlicher Zusammenhänge

Über die Gerüchte-Sucht und den spirituellen Lebensquell künftiger Gemeinschaften.


Inhalt
Die wunderbare Kraft
Mit dem Vorurteil geboren
Die Befreiung vom Zwang des Urteils
Spiritueller Idealismus
Verrat oder Treue gegenüber dem Menschenbruder


Die wunderbare Kraft

In allen Lebens- und Arbeitszusammenhängen sehen wir, wie das Verhältnis von Mensch zu Mensch schwieriger wird, wie Konflikte zunehmen. Wir leben in einer Zeit, in der die Individualisierung des Menschen und die im Menschen liegenden anti-sozialen, selbstbezogenen Tendenzen einen Höhepunkt erreichen. Bewusstseinsgeschichtlich ist dieser Prozess tief notwendig, denn der Mensch soll zur vollen Freiheit finden – und dies kann er nur, wenn er sich „auf die Spitze seiner Persönlichkeit stellt“.

Und doch findet der Mensch sein wahres Wesen erst, wenn er darüber hinaus auch die wirkliche Brücke zum Mitmenschen findet. Wie findet er diese? Was ist der notwendige Ausgleich zu dem Wirken der antisozialen Impulse, die die Grundlage der Freiheit bilden, zu der der Mensch finden soll?

Die Brücke zum Mitmenschen wird nur in jenen Impulsen gefunden, die nicht den eigenen Menschen in den Mittelpunkt stellen, sondern die gerade vom eigenen Menschen ausströmen, zum Anderen hin – ihm geltend. Und zwei Impulse werden in Zukunft allem zugrunde liegen, was diese Brücke zum anderen Menschen schlagen kann: Vertrauen und Liebe. Immer weniger werden menschliche Zusammenhänge ohne diese beiden Kräfte leben können – immer erschütternder werden menschliche Zusammenhänge scheitern, wenn diese beiden Kräfte nicht vorhanden sind.

O meine lieben Freunde, was Menschen jemals auf dem Grunde ihrer Seele gefühlt haben, wenn sie enttäuscht worden sind von einem Menschen, auf den sie viel gebaut haben, alles das, was an solchen Gefühlen jemals im Laufe der Menschheitsentwickelung entfaltet worden ist, wird in Zukunft an Tragik noch überboten werden, wenn die Menschen, nachdem gerade das Vertrauensgefühl unendlich vertieft worden ist, in tragischer Weise Enttäuschungen an Menschen erleben werden. Das wird in der Zukunft das Bitterste im Leben werden, wenn man von Menschen wird enttäuscht werden. Es wird das Bitterste werden, nicht weil nicht auch bisher schon Menschen von Menschen enttäuscht worden sind, sondern weil in Zukunft die Empfindung der Menschen für Vertrauen und Enttäuschung sich in einer unermeßlichen Weise vertiefen wird, weil die Menschen unendlich viel bauen werden auf das, was in der Seele bewirkt wird aus dem Glück des Vertrauens auf der einen Seite und aus dem Schmerz des notwendigen Mißtrauens auf der anderen Seite. Ethische Impulse werden eben bis zu jenen Untergründen der Seele vordringen, wo sie unmittelbar aufsprießen aus dem Vertrauen von Mensch zu Mensch.
Rudolf Steiner, 8.10.1922, GA 217, S. 94f.


In der Sonntagshandlung der Christengemeinschaft (für die Kinder) heißt es: „Ohne die Liebe wird das Menschensein öde und leer.“ Und dies wird man in die Zukunft hinein immer stärker innerlich erleben. Man wird sich von seinem eigenen Sein wie abgeschnitten fühlen, wenn man in lieblose Zusammenhänge kommt. Wie erstickt wird man sich fühlen, wie hineingezwungen in eine Umgebung ohne Atemluft, ohne Lebensblut. Wer kann Liebe und Vertrauen entwickeln, wenn ihm nicht dieselben Kräfte auch entgegenkommen, ja, wenn diese enttäuscht werden? Diejenigen Menschen, die dies dennoch vermögen, werden die Lebens-Retter der künftigen Menschheit sein, denn durch sie wird das Lebensblut dieser künftigen Menschheit in diese einströmen können – während die Menschen langsam lernen werden, diese not-wendigen Kräfte zu entwickeln...

Mit dem Vorurteil geboren

Wie wenig Bewusstsein hat man heute noch, was die Grundlagen des Vertrauens sind – und wie leichtfertig werden diese Grundlagen heute immer wieder zerstört! Wie leicht beklagt man sich bei Dritten übereinander und wie schnell entstehen Gerüchte! Dies muss nicht einmal böswillig sein. Man braucht nur eine winzige Handlung eines Anderen beobachtet zu haben, daran seine eigene Interpretation über ihre Bedeutung und ihre Motive zu knüpfen – und schon ist das Gerücht perfekt!

Man braucht es nicht einmal auszusprechen – es gibt auch Gerüchte in einem selbst. In strengem Sinne ist alles ein Gerücht, das nicht vollkommen streng bei den Tatsachen bleibt, sondern die strengen Tatsachen mit persönlichen Urteilen, Deutungen, Wahrnehmungsweisen vermischt.

Im Grunde gehört strengste Übung dazu, sich einen reinen, unbestechlichen Tatsachensinn zu erwerben. Es ist eine ungeheure Askese notwendig, bei der reinen Wahrheit zu bleiben – und bei nichts als der Wahrheit. Dafür ist wahrhaftig „Gottes Hilfe“ notwendig! Erst wenn man dies empfinden kann – dass eine geradezu „heilige“ Anstrengung dazu gehört, der reinen Wahrheit nichts hinzuzufügen, nähert man sich eigentlich der radikalen Realität jenes Schwures vor Gericht: „...so wahr mir Gott helfe.“

Für den Geistesschüler, der wirklich nach Wahrhaftigkeit strebt, darf so etwas eben keine Redensart bleiben. Er muss ganz real das Gefühl haben, dass er seine Seelenkräfte erst in die reine Sphäre des Göttlichen zu erheben hat, bevor er hoffen darf, dass sich die Wahrheit unverfälscht in ihm widerspiegelt.

Dem Geistesschüler muss immer deutlicher werden, wie konkret und unmittelbar die reine Wahrheit durch unzählige Möglichkeiten der Verfälschung verhüllt wird. So, wie der Mensch seit dem Sturz in die Materie und der immer stärkeren Bindung an den physischen Leib konstituiert ist, ist er geradezu zum Vorurteil geboren. Gerade dadurch sind die Anschauungen der einzelnen Menschen so unendlich verschieden!

Denn wir wissen, daß das Mysterium von Golgatha deshalb auf die Erde gekommen ist, weil fernerhin der Mensch nicht das Menschenwürdige ohne dieses Mysterium von Golgatha, das heißt, ohne den Christus-Impuls hätte finden können. [...] Wir müssen die innere Ehrlichkeit suchen, müssen uns aufraffen zu der inneren Ehrlichkeit, uns zu sagen: Wir werden mit Bezug auf unsere Gedankenwelt nach dem Mysterium von Golgatha nicht vorurteilslos geboren, wir werden alle mit gewissen Vorurteilen geboren. [...]
Ich bin als ein vorurteilsvoller Mensch geboren und muß mir die Gedankenvorurteilslosigkeit im Leben erst erwerben. Und wodurch kann ich sie hier erwerben? Einzig und allein dadurch, daß ich nicht nur Interesse entwickele für dasjenige, was ich selber denke, was ich selber für richtig halte, sondern daß ich selbstloses Interesse entwickele für alles, was Menschen meinen und was an mich herantritt, und wenn ich es noch so sehr für Irrtum halte. Je mehr der Mensch auf seine eigenen eigensinnigen Meinungen pocht und sich nur für diese interessiert, desto mehr entfernt er sich in diesem Augenblicke der Weltentwickelung von dem Christus.
Rudolf Steiner, 11.2.1919, GA 193, S. 59f.

Die Befreiung vom Zwang des Urteils

Aber der Mensch hat nicht nur die ungeheure Tendenz, mit jeder einzelnen Wahrnehmung sofort zu subjektiven Urteilen und Gerüchten zu kommen – er hat auch die ungeheure Tendenz, diese einerseits mitzuteilen und andererseits den Gerüchten seiner Freunde und Kollegen unmittelbar Glauben zu schenken. Sogar da, wo die Vertrauenswürdigkeit sehr zweifelhaft ist!

Ein bestimmter Teil des menschlichen Bewusstseins liebt Gerüchte über alles. Und ein bestimmter Teil des Bewusstseins hält fast alles Gesagte zunächst für wahr. Dinge, die ausgesprochen und niedergeschrieben sind, erscheinen objektiv, nehmen sofort eine Art Wirklichkeitscharakter an. Jedes einzelne Wort verselbstständigt sich! Und ein Teil des menschlichen Bewusstseins nimmt alles, was existiert, unmittelbar als Wahrheit. Im Grunde liegt dem eine ungeheure Vertrauenskraft zugrunde.

Diese Kraft des Vertrauens sollte sich aber nicht auf Worte, nicht auf Gerüchte richten – sondern auf den realen Menschen, auf das Gute im Menschen...

Gerade wo es sich um Worte, um Behauptungen handelt, braucht diese Vertrauenskraft eine Unterscheidungsfähigkeit. Sie muss nicht in den Zweifel umschlagen, aber es muss im Menschen eine Instanz geben, die zu einem Sinn für die Wahrheit wird. Diesen reinen, realen Wahrheitssinn kann sich der Mensch nur in stärkster, energischster Selbsterziehung erringen. Er selbst muss sich eine so starke Ehrfurcht vor und Liebe zur Wahrheit erringen, dass er es allmählich ganz real nicht mehr ertragen könnte, eine Lüge, ja auch nur die kleinste Unwahrheit auszusprechen. Erst die allerstärkste Wahrhaftigkeit wird auf der anderen Seite ein Wahrheitssinn, der allmählich von allen subjektiven Vorlieben gereinigt wird.

Was bedeutet dies für die Gerüchte, die so schnell die Wirklichkeit überlagern, dass man diese durch das Gestrüpp der Möglichkeiten und Eventualitäten vollkommen verliert? Was bedeutet volle Wahrhaftigkeit, wenn mir ein lieber Kollege erzählt, dass ein Anderer dies oder jenes (Negative) getan habe?

Man müsste es innerlich erreichen, dass man dem nicht mehr und nicht weniger Glauben schenkt (d.h.: Möglichkeit einräumt), als wenn jemand sagte, heute sei der schiefe Turm von Pisa umgestürzt; oder die eigene Mutter sei bei einem Verbrechen erwischt worden. – Und dabei müsste es vollkommen egal sein, ob mir dieser Kollege, von dem etwas behauptet wird, unsympathisch ist; ja selbst, ob ich schon lange einen entsprechenden Verdacht hatte.

Der Geistesschüler müsste sich von den eigenen Sympathien und Antipathien völlig unabhängig machen! Und was er selbst an Vermutungen über manches hätte, müsste ebenso vollkommen erhaben über subjektive Verdachtsgefühle oder ähnliches sein.

Natürlich kann es sein, dass er den Aussagen eines Freundes vertraut, weil er auch dessen Wahrhaftigkeit kennt und weiß, dass dieser Freund ebenfalls über Antipathien oder Schwatzhaftigkeit erhaben ist. Aber die Grundhaltung gegenüber allen unbewiesenen Behauptungen über einen Menschen müsste im Geiste der Wahrhaftigkeit sein: „Das möchte ich aus seinem (des Betroffenen) eigenen Munde hören!“

In der Rechtssprechung gibt es ein wunderbares Bild: Die Gerechtigkeit, Justitia, urteilt über die Wahrheit mit verbundenen Augen. Sie lässt sich von nichts leiten als nur von der innersten Gewissheit, dem Gewissen – nicht von Sympathien, nicht von Antipathien, nicht von dem äußeren Schein der Menschen und der Dinge...

Und aus derselben Realität heraus lebt der Grundsatz: In dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten. Was heißt das? Solange noch irgendein Zweifel existiert, auch nur der leiseste Zweifel, dass ein Mensch etwas getan habe, solange gilt seine Unschuld!

Wir neigen heute sehr stark dazu, den Verdacht, also den Zustand des „Angeklagtseins“ bereits irgendwie mit „schuldig“ in Verbindung zu bringen. Und selbstverständlich wird jemand nur deshalb verdächtigt, weil es bestimmte Verdachtsmomente gibt, die ihn und den Verdacht in einen Zusammenhang bringen. Und dennoch kann dieser Zusammenhang falsch sein! Vielleicht hat ein Anderer die Handlung begangen – oder vielleicht waren Hergang oder die Motive des Geschehens ganz anders als vermutet.

Es besteht die ungeheure Gefahr, dass man dem „Angeklagten“ nun selbst ... Unrecht tut. In dubio pro reo, das bedeutet: mögliches neues Unrecht um jeden Preis vermeiden zu wollen. In strengem Sinne würde man diese Gesinnung nur dann verwirklichen, wenn man auch innerlich jeden Verdacht in der Schwebe halten kann. Wenn man stattdessen sagt: „Und ich glaube trotzdem, dass du es warst!“, bleibt die Verurteilung in Gedanken bestehen...

Spiritueller Idealismus

Man kann die reine Gesinnung und die Befreiung von inneren Urteilen üben, indem man sich vorstellt, dass ein innig geliebter Mensch angeklagt wäre. Bei ihm würde man Verdächtigungen bis zuletzt keinen Glauben schenken! Bei ihm würde man wirklich entschlossen sagen: „Das will ich aus seinem Munde hören!“ – und es selbst dann, wenn er etwas gestehen würde, vielleicht noch immer nicht glauben wollen...

Mit einer solchen Haltung sollten wir den Behauptungen über alle Menschen entgegentreten! „Ich will ihn selbst fragen...“

Um dies wirklich innerlich wahrmachen zu können, brauchen wir eine hohe, edle Gesinnung gegenüber jedem Menschen. Es geht gleichsam darum, in jedem Menschen das Beste zu sehen – sehen zu wollen!

Dies ist konkreter spiritueller Idealismus. Ohne diesen wird es nicht möglich sein, die in Zukunft notwendige Kraft des Vertrauens zu entwickeln. Dieser spirituelle Idealismus ist das, was Novalis „romantisieren“ nannte. Es ist das Zukunfts-Mysterium der höchsten Kunst, der sozialen Kunst. Rudolf Steiner nannte dieses Mysterium den „umgekehrten Kultus“. So, wie im Kultus das Übersinnliche im Kleid des Sinnlichen erscheint, so wird durch den spirituellen Idealismus das Sinnliche ins Übersinnliche erhoben. Im anderen Menschen wird das Höchste, das Ideale gesehen – die Begegnung wird zu einer heiligen Handlung, zu einem Sakrament...

Nur dieser reale spirituelle Idealismus kann jenes starke Vertrauen und jene Liebe hervorbringen, die auch dann immer wieder strömen wollen und können, wenn sie enttäuscht und nicht erwidert werden. Sie müssen ihre Quelle in sich finden, nicht in der Außenwelt, sondern im Zentrum der Liebe selbst.

Allein vermag der Mensch dies nicht. Diese Kraft findet der Mensch nur, wenn er sich in einem realen Zusammenhang mit jenem Wesen bringt, das das Wesen der Liebe ist und das die Worte sprach: „Ihr habt gehört ... Du sollst deinen Nächsten lieben ... Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde...“

Solange der Mensch nicht mit Kraft seine Seele läutert, kann er den Zusammenhang mit diesem Wesen nicht finden. Der Wille zur Läuterung und der reale Weg der inneren Verwandlung bringt die Seele in Zusammenhang mit Christus.

Ohne die Läuterung ist der Mensch zunächst ... allzumenschlich. Er vertraut Gerüchten, er liebt Gerüchte über andere Menschen, er liebt die Sympathie mit dem Einen und die Abgrenzung von dem Anderen – und aus beidem zieht er seine Identifikation.

Doch der Mensch muss lernen, einsam und allein für sich stehen zu können. „Die zur Wahrheit wandern, wandern allein“ (Christian Morgenstern). Der Mensch muss lernen, nicht den leisesten Genuss in irgendeiner (Vor-)Urteilsbildung zu empfinden, und er muss lernen, eine Meinung nicht einfach zu übernehmen, egal ob sympathische Menschen oder sogar große Menschenmassen sie vertreten!

Doch heute sieht der menschliche Alltag noch anders aus. Sofort und ohne Gegenwehr, ja liebend gern wird der Mensch ein Opfer der Behauptungen – er begibt sich geradezu voller Hingabe und Leidenschaft in die Fänge der zahllosen Meinungen und Urteile, wie in die verführerischen zarten Arme einer Geliebten...

Nichts fällt dem Menschen leichter, einer Meinung zu glauben – zumal, wenn es eine „willkommene“ Meinung ist, die eigene Vorurteile bestätigt (wobei auch diese wieder nur Ergebnisse früher „inhalierter“ Meinungen sind). Diese „Leichtigkeit des Vorurteils“ – und das Geborenwerden mit dem Vorurteil! – ist die Grundlage diverser Gruppen- und Cliquenbildungen – und der Übergang zum Mobbing ist bekanntlich fließend. Es ist unendlich leicht, über andere Menschen zu sprechen. Was aber bedeutet es, Behauptungen über andere Menschen zu kolportieren und ebensolchen Glauben zu schenken?

Man hat nicht den Mut und nicht das Rückgrat, die Begegnung mit dem Anderen zu suchen und herauszufinden, ob eine vielleicht unangenehme Wahrheit wirklich so gewesen ist – und nicht vielleicht doch ein wenig oder ganz anders.

Verrat oder Treue gegenüber dem Menschenbruder

Die menschlichen Zusammenhänge der Zukunft müssen aber über bloße Sympathien und erst recht Antipathien hinauskommen! Dann wird man innerlich immer mehr das Erlebnis haben, dass man dem anderen Menschen nicht die Treue hält, wenn man einem Gerücht über ihn Glauben schenkt. Um Treue, um ein übersinnliches Versprechen wird es künftig von Mensch zu Mensch gehen.

Man wird empfinden, dass man den anderen Menschen verrät, wenn man einer ungeprüften Behauptung vertraut. Das Vertrauen in den Menschen muss größer werden als das in jegliche negative Behauptung über ihn! Dann, wenn das Wesen des anderen Menschen so heilig geachtet werden wird, dass man die Treue zu ihm ebenfalls wie ein heiliges Versprechen empfindet, wird auch das Brechen dieses Versprechens wie ein gleichsam unerträglicher Verrat empfunden werden.

Man wird sich an die Verleugnung des Christus durch Petrus erinnert fühlen können, denn man wird das Geheimnis des Christus gerade in der Begegnung mit dem anderen Menschen empfinden.

Je mehr der Mensch soziales Interesse entwickelt für des anderen Menschen Meinungen, auch wenn er sie für Irrtümer hält, je mehr der Mensch seine eigenen Gedanken beleuchtet durch die Meinungen der anderen, je mehr er hinstellt neben seine eigenen Gedanken, die er vielleicht für Wahrheit hält, jene, welche andere entwickeln, die er für Irrtümer hält, aber sich dennoch dafür interessiert, desto mehr erfühlt er im Innersten seiner Seele ein Christus-Wort, das heute im Sinne der neuen Christus-Sprache gedeutet werden muß. [...] Und so spricht er heute zu denjenigen, die ihn hören wollen: Was einer der geringsten eurer Brüder denkt, das habt ihr so anzusehen, daß ich in ihm denke, und daß ich mit euch fühle, indem ihr des anderen Gedanken an euren Gedanken abmesset, soziales Interesse habt für dasjenige, was in der anderen Seele vorgeht. Was ihr findet als Meinung, als Lebensanschauung in einem der geringsten eurer Brüder, darin suchet ihr mich selber.
Rudolf Steiner, 11.2.1919, GA 193, S. 60.


Petrus hatte Angst vor Tod und Gefangenschaft, als er Christus verleugnete. Wir vertrauen einfach nur Behauptungen über unseren Nächsten und Menschenbruder und hegen unsere Antipathien, während wir ihn verraten und uns an ihm ärgern, anstatt die Verständigung und die Harmonie mit ihm zu suchen...

Vertrauen, das uns gleichsam noch wie ein Geschenk ins Gefühl gelegt ist – Vertrauen gegenüber sympathischen Menschen, lieben Kollegen –, ist keine Kunst. Erst das ist wirkliches Vertrauen, was nicht wie eine Tatsache im Gefühl gegeben ist, sondern was „im Schweiße des Angesichts“, durch vollen Einsatz des Willens, errungen wird!

Das künftige Vertrauen muss gegen Zweifel und Enttäuschungen errungen, immer wieder neu gewollt werden. Es muss sozusagen ein Vertrauen ins Nichts hinein sein können, in die Finsternis, auf die Gefahr hin, dass nie eine Antwort kommen wird.

Und alle Vorurteile, Gerüchte und Mahnungen soll man lernen, von sich zu weisen – und seien sie noch so stark, überzeugend, schmerzlich, verführerisch. Solange wir noch nicht in voller Reinheit sicher sind, dass wir vor der Wahrheit stehen, mögen wir die Kraft finden, mit Christus zu sprechen: „Weiche von mir, Satan!“

Mit Vollmacht dem anderen Menschen vertrauen zu können, das wird die künftige Kraft eines Glaubens sein, der Berge versetzen wird, der Brücken noch über die tiefsten Abgründe bauen wird.

Der Lebensquell dieses Glaubens an den anderen Menschen wird die Liebe sein, und die andere Seite des Vertrauens wird die Kraft des Verzeihens sein...