06.04.2013

Wie finden wir den Menschen?

Wenn die Hoffnungen sich verwirklichen, dass die Menschen sich mit allen ihren Kräften, mit Herz und Geist, mit Verstand und Liebe vereinigen und voneinander Kenntnis nehmen, so wird sich ereignen, woran jetzt kein Mensch denken kann.
- J.W. Goethe.


Um uns dieser Frage zu nähern, müssen wir sie zuerst als Frage empfinden können. Muss der Mensch überhaupt gefunden werden? Welcher Mensch? Wie soll er gefunden werden? Inwiefern haben wir den Menschen verloren?

Das muss die vorausgehende Frage sein, denn nur, wenn uns die Antwort auf diese Frage möglichst tief erlebbar wird, wird uns auch die andere Frage erst ein reales Erlebnis, eine reale Seelenfrage, ja Sehnsucht: Wie finden wir den Menschen?

Inwiefern haben wir den Menschen verloren?

Es sind viele Aspekte, die hier zusammenkommen. Die Anonymität des Stadtlebens, die Abstraktheit des heutigen Berufslebens, die persönlichen Lebensenttäuschungen, die Oberflächlichkeit des heutigen Lebens, die Hektik...

Alles führt dazu, dass der Mitmensch immer weniger wahrgenommen wird, dass ihm immer weniger echtes, ursprüngliches, unmittelbares Interesse entgegengebracht wird.

Ein Beispiel hierfür ist die Art der menschlichen Begegnung im Urlaub, insbesondere in den Bergen. Dort treffen sich oft Menschen inmitten einer sie im übrigen umgebenden Einsamkeit. Früher hat man sich in einem solchen Augenblick gegrüßt – zumindest das. Heute wird selbst dies immer seltener. Man geht aneinander vorbei, registrierend, dass der andere auch ein Mensch ist, aber mehr auch nicht. Absolutes Übergehen des Anderen...

Nun hat Rudolf Steiner darauf hingewiesen, dass diese äußerlich zu beobachtenden Entwicklungen – also die Entwicklungen der Berufswelt usw., die zunehmende Abstraktion der Lebensverhältnisse – natürlich auch innere Ursachen haben, dass sich das Bewusstsein des Menschen im Laufe der Jahrhunderte verändert. Der Mensch wird immer individueller, gewinnt ein immer klareres Ich-Bewusstsein, ein immer ausgeprägteres Persönlichkeitserleben, aber einhergehend damit nehmen auch die anti-sozialen Impulse zu. Der Mensch wird immer ich-hafter und zugleich auch zunehmend immer ich-zentrierter.

Es wird eigentlich immer mehr eine Realität, was der Philosoph Leibniz als Vorstellung vertrat: Dass die einzelnen Menschen geistige Monaden sind – nicht nur eine Welt für sich, sondern letztlich unfähig, miteinander eine wirkliche Verbindung zu haben. Das wird eigentlich vielfach immer mehr eine Realität.

Die Entwicklung ist nun seit einhundert Jahren wiederum in rasenden Schritten weitergegangen. Aber selbst Rudolf Steiner hat schon ausrufen müssen:

Es sind ja Abgründe in unserem Zeitalter schon aufgerissen zwischen Mensch und Mensch! In einer Weise, wie es die Menschen gar nicht ahnen, gehen sie heute aneinander vorbei, ohne sich im geringsten zu verstehen. [...] Die Menschen können heute jahrelang mit anderen Menschen zusammensein und sie nicht genauer kennen als sie sie kannten, als sie mit ihnen bekannt geworden sind.
GA 186 (Die soziale Grundforderung unserer Zeit), 12.12.1918, S. 170.

Wir [...] gehen heute Mensch an Mensch aneinander vorbei und haben unter dem Einfluß unserer neuzeitlichen Erziehung nicht die Fähigkeit erlangt, unsere Mitmenschen innerlich zu verstehen, die Fähigkeit, mit einer Art hellseherischem Mitgefühl, wie es in vielen älteren Kulturen vorhanden war, in das hineinzuschauen, was in der menschlichen Seele lebt. Wir stellen viele Forderungen des Lebens auf, aber wir gehen in der Regel Mensch an Mensch aneinander vorbei. Wir haben nicht nur theoretisches Menschenverständnis verloren [...], wir haben auch empfindendes Menschenverständnis für jede Stunde des Tages, in der wir unter unseren Mitmenschen leben, verloren.
GA 79, 2.12.1921, Die Notwendigkeit einer Kulturerneuerung, S. 179.


Wenn wir uns dies klarmachen, bekommen wir ein Gefühl
für die Frage, wie sehr der Mensch den Menschen verloren hat.

In einem anderen Vortrag „Bruderschaft und Daseinskampf“ schildert Steiner den unmittelbar menschlichen Zusammenhang in den Berufszusammenhängen, die der Mensch noch im Mittelalter hatte:

Diejenigen, welche gemeinschaftliche, gleichartige Beschäftigungen hatten, schlossen sich zu Vereinigungen zusammen, die man Schwurbruderschaften nannte und die später zu den Gilden auswuchsen.
Diese Schwurbruderschaften waren weit mehr als bloße Vereinigungen der gewerblichen oder handeltreibenden Menschen. Sie entwickelten sich aus dem praktischen Leben heraus zu einer moralischen Höhe. Das gegenseitige Sich-Beistehen, die gegenseitige Hilfeleistung war in hohem Maße bei diesen Bruderschaften ausgebildet, und viele Dinge, um die sich heute fast niemand mehr kümmert, waren Gegenstand solchen Beistandes. [...]
Derjenige, der aus seiner Gilde heraus, mit den andern zwölf Schöffen zusammen zu Gericht saß über irgendein Vergehen, das ein Mitglied der Gilde begangen hatte, er war der Bruder dessen, der gerichtet werden sollte. Leben verband sich mit Leben. Jeder wußte, was der andere arbeitete, und jeder versuchte zu begreifen, warum er einmal abweichen konnte von dem richtigen Wege. Man sah gleichsam in den Bruder hinein und wollte in ihn hineinsehen.
GA 54, Bruderschaft und Daseinskampf, 23.11.1905, S. 184ff.


Man spürt also: Man empfand damals noch eine unmittelbare Verantwortung für den Mitmenschen, der eigentlich, in gewisser Weise, als ein Mitbruder erlebt wurde.

Dies ist verlorengegangen. Doch den Menschen werden wir nur finden, wenn wir dies in neuer Form wiederfinden.

Worum also geht es? Um ein Sich-Verbundenfühlen mit allem Menschlichen, um ein tiefes Interesse am Menschen – um eine Liebe zum Menschen.

Rudolf Steiner hat den ersten Waldorflehrern zu Beginn ihrer Tätigkeit, am Ende seines ersten Lehrerkurses, vier Dinge ans Herz gelegt, die für alles Übrige essentiell waren. Eine dieser vier Essenzen war:

[...] daß wir als Lehrer Interesse haben müssen für alles dasjenige, was in der Welt ist und was den Menschen angeht. [...] Wir sollen uns für die großen und für die kleinsten Angelegenheiten der Menschheit interessieren. Wir sollen uns für die großen und für die kleinsten Angelegenheiten des einzelnen Kindes interessieren können.
GA 294 (Erziehungskunst, Methodisch-Didaktisches), 6.9.1919, S. 193.


Interesse haben am Größten und am Kleinsten! Es geht eigentlich um die unendliche Vertiefung des Interesses.

Wie ist das möglich? Die Welt, die Menschen, die einem begegnen, werden gewissermaßen ein Heiligtum – etwas, dem man mit größtem, aufrichtigstem, reinsten Interesse begegnen können soll.

Aber das ist nichts, was verordnet werden könnte. Es kann nur aus dem Innersten des Menschen selbst kommen. Doch alles, was Rudolf Steiner tut, ist, dazu aufzurufen, dafür zu begeistern. Er weist darauf hin, dass im Menschen diese wunderbaren Fähigkeiten verborgen liegen, dass er dies kann: Interesse zu haben für das Größte und für das Kleinste! Im Grunde geht es hier um das reine Ergebnis der Hingabe, wirklicher Hingabe.

Nicht selbstbezogenes Interesse, sondern Interesse am Anderen; Hingabe, Ausgießung der Aufmerksamkeitskraft auf das Andere, den Anderen.

Dies, diese nicht selbstbezogene Hingabe, ist keine natürliche Fähigkeit. Es ist eine menschliche Fähigkeit – aber nicht für den natürlichen Menschen, sondern für den geistigen Menschen, der wir werden können, durch Selbsterziehung und Selbstüberwindung.

Das Geheimnis selbstlosen Interesses, wirklichen Interesses, das Geheimnis der Liebe, ist mit einem geistigen Wesen verbunden, das das Wesen dieses Geheimnisses ist. Nennt man seinen Namen, so reagieren die Menschen höchst unterschiedlich, weil sie zu diesem Namen und was daraus gemacht wurde, nicht immer eine positive Beziehung haben. Es ist wie mit der Anthroposophie – auch an sie knüpfen sich die unterschiedlichsten Vorstellungen und Vorurteile. Aber es kommt ja nicht auf die bloßen Namen und die Vorurteile, sondern auf die Wirklichkeiten an.

Was jeder von uns mit genügend Beobachtungs-Intensität erleben kann, ist, dass es einen „natürlichen“ Menschen gibt, der sich selbst in den Mittelpunkt stellt – sich und seine Wünsche und Begierden, die aus dem Leiblichen aufsteigen und auch aus dem Denken, das sich zur Magd dieser Triebe macht; und hier ist alles gemeint, was mit Selbst, was mit Selbstbehauptung, Selbstzufriedenheit, Selbsterhöhung im niederen Sinne zu tun hat. Und dass es demgegenüber einen geistigen Menschen gibt, einen zweiten Menschen, der aber erst entwickelt werden muss – ganz unabhängig vom ersten Menschen, sehr oft in großem Widerstand zu diesem.

Die Entwicklung dieses zweiten Menschen ist nur über ein „Stirb und Werde“ möglich. Sei es, dass wir die Nebenübungen oder andere Übungen der moralischen Schulung nehmen: Gedankenkontrolle, Gleichmut und Gleichgewichtigkeit im Fühlen, Willensschulung, Positivität, Unbefangenheit – überall ist die natürliche Tendenz zu überwinden. Das flatterhafte Denken, das Leben in unmittelbaren Gefühlen, die einen bestimmen, der schwache Wille, das Leben in schnellen, vor allem negativen Urteilen. Und wenn wir auf die Meditation schauen, den eigentlichen Weg zur Entwicklung des geistigen Menschen, so muss der natürliche Mensch ebenfalls völlig überwunden werden. Der natürliche Mensch will nicht meditieren – denn Meditation bedeutet völlige Entsagung, Verzicht, bedeutet Läuterung, Vergeistigung – Konzentration auf einen einzigen Inhalt. Auslöschen des gesamten gewöhnlichen Lebens, Konzentration auf einen einzigen, geistigen Inhalt.

Dieser Weg zur Entwicklung eines zweiten, eines geistigen Menschen ist ein Weg der inneren Verwandlung.

Die Kraft dazu kann nicht aus dem natürlichen Menschen kommen. Sie kommt aus dem, der als geistiger Mensch keimhaft schon anwesend ist. Aber das Streben dieses keimhaft anwesenden Menschen, der sich entwickeln möchte, ist verbunden mit jenem Wesen, das das Wesen der Auferstehung ist.

Man kann sagen: Wahrhaftige innere moralische Entwicklung, wahrhafte innere Wandlung ist nur in der Sphäre dieses Wesens möglich. Wer meint, eine solche Entwicklung allein vollziehen zu können, unterliegt einer Illusion.

Einst fragte Pilatus Christus: „Weißt Du nicht, dass ich Macht habe, dich zu kreuzigen, und Macht habe, dich loszugeben?“ Christus antwortete: „Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre.“ (Joh. 19, 10f).

Ein Mensch, der seine Seele läutert, bringt sich in die Nähe der Sphäre des Auferstandenen – und schon die Kraft, mit der dies überhaupt möglich ist, hat eine Verbindung zu dieser Sphäre.

Nun muss man nichts davon wissen – oder auch nichts wissen wollen. Doch ein bewusstes Wissen darüber und ein bewusstes Streben nach einer Verbindung zu diesem Wesen kann an einem bestimmten Punkte der inneren Entwicklung stehen. Und es kann diese Entwicklung wesentlich stärken und vertiefen. Das Streben kann in umfassendem Sinne konkret und substantiell werden.

In dieser Sphäre, um die es hier geht, werden auch die Ideale erst wirklich persönlich. Vorher bleiben sie doch noch abstrakt – so sehr man auch für sie brennt. In der Zeit der Französischen Revolution haben Menschen unendlich für drei der größten Ideale der Menschheit gebrannt – und doch so unendlich viel Schrecken damit angerichtet! Und bis heute wiederholte sich dies in der Geschichte vielfach in allerschlimmstem Maße.

Aus der Abstraktheit lösen sich diese Ideale, die ja wirkliche Geistesziele sind, erst, wenn sie in die Sphäre jenes Wesens gelangen, dass das Wesen der Überwindung der Abstraktion ist. Dann werden die Ideale im höchsten Sinne persönlich, im tiefsten Sinne menschlich. Rudolf Steiner beschrieb dies eindrücklich in einem Vortrag 1911 in München:

[...] aber was der Mensch tut unter den abstrakten Begriffen von Freiheit, Brüderlichkeit und so weiter, hat eben den Charakter des Abstrakten für die meisten Menschen und läßt sich definieren. [...] Da haben wir, trotzdem die Leidenschaften geschwellt werden, doch bei vielen Menschen etwas vor uns, was so recht die Idee erweckt von etwas Ausgedörrtem. Persönlich können wir diese Dinge noch nicht nennen, es sind abstrakte Ideen. [...]
Mit der urelementaren Kraft, mit der wir heute sehen, daß dieses oder jenes aus dem Hasse oder der Liebe im gewöhnlichen Sinne entspringt, mit der wird dasjenige entspringen, was unter den geistigsten Idealen steht. [...] Dazu gibt es nur ein Mittel. Da muß der Mensch in den geistigen Höhen eine Persönlichkeit anziehen können, die innerlich persönlich ist, wie die Persönlichkeit unten im Fleische ist. Und was ist das für eine Persönlichkeit, die der Mensch anziehen muß, wenn er hinaufsteigen will in das Geistige? Das ist der Christus. [...]
Durch nichts anderes kommt man darüber hinaus, die abstrakten Ideale mit einem persönlichen Charakter immer mehr und mehr auszugestalten, als dadurch, daß unser ganzes spirituelles Leben sich durchziehen wird mit dem Christus-Impuls.
GA 127, Erbsünde und Gnade, 3.5.1911, S. 164ff.


Wie finden wir nun auf diesem Wege den Menschen – den anderen Menschen?

Nun, in dieser Sphäre wird die Abstraktion überwunden. Diese aber ist gerade das Trennende – das, was sich zwischen Ich und Welt, zwischen Ich und Du schiebt. Man kann sagen: Der Mensch, dem in dieser Sphäre die Ideale persönlich werden, dem ist nichts Menschliches fremd. Und er kann mit Christian Morgenstern jubelnd ausrufen:

          Ich habe den MENSCHEN gesehn in seiner tiefsten Gestalt,
          ich kenne die Welt bis auf den Grundgehalt.
          Ich weiß, dass Liebe, Liebe ihr tiefster Sinn,
          und dass ich da, um immer mehr zu lieben, bin. [...]
          - Christian Morgenstern, Wir fanden einen Pfad.

Und wenn Ideale bis in diese Sphäre des Persönlichen hinein errungen werden, dann ist dies kein ekstatischer Jubel, der im profanen Alltag keinen Bestand hätte, sondern es gibt keinen profanen Alltag mehr, weil die derart tief zueigen gewordenen Ideale nun der Alltag werden – der Alltag wird also selbst zu etwas, in dem das Ideal mitlebt. Dann kann man auch in nicht-hymnischer Form mit Christian Morgenstern in Prosa sagen:

Wer den Einzelnen als einen Wanderer betrachtet, der immer wiederkehrt, wird aufhören, ihm entgegenzuarbeiten. Er sieht sich Schulter an Schulter mit ihm gehn und erkennt die Sinnlosigkeit jeglicher Feindschaft zwischen ihm und sich. Mag der Andre noch sein Feind sein wollen, er selber empfindet ihn nicht mehr als Feind; für ihn fällt er, wenn er sich und ihn sub specie aeterni anschaut, mit ihm selber beinahe zusammen. Mag der Andre ihn noch hassen, ja verachten, er selber wird nichts begehren, als ihm zu helfen, zu nützen, zu dienen. Er weiß, wie alles zusammenhängt. Nicht fabelt er unbestimmt von Zusammenhang, sondern der Zusammenhang liegt klar vor ihm.
Werke und Briefe, Band V – Aphorismen, Ethisches, 1909. Urachhaus, 1987, S. 219, Nr. 959.


Selbstverständlich merken wir, wie wenig weit wir auf diesem Weg zunächst sind – denn wo machen wir uns konkret zum Bruder unseres Nächsten und auch unseres Feindes? Wo versuchen wir konkret, ihm zu helfen, zu nützen, zu dienen?

Und die Frage ist ja bereits: Was würde diesem Nächsten denn dienen? Wissen wir dies überhaupt? Oder glauben wir nur, es zu wissen?

Oft würden wir unserem Nächsten am meisten dadurch Bruder sein können, dass wir ihm überhaupt erst einmal zuhören. Wirklich zuhören – voller Interesse, dafür aber ohne schnelles Urteil. Unser Urteil sollte sich eher auf sich selbst, auf uns selbst richten: in der Erkenntnis, dass wir immer zu schnell urteilen, zu schnell unsere eigenen Vorstellungen und Urteile dem anderen entgegenstellen.

Dadurch, dass wir uns fortwährend im Urteilen und im Vor-Urteil befinden, haben wir das Vollmenschliche, das Rein-Menschliche verloren. Und man muss ein Gefühl dafür bekommen, was das für ein Zustand wäre: Ein Nicht-Urteilen oder aber ein vollkommen reines, objektives, wahres Urteil... Auch dies kann der Mensch rein aus sich heraus nicht haben.

Denn wir wissen, daß das Mysterium von Golgatha deshalb auf die Erde gekommen ist, weil fernerhin der Mensch nicht das Menschenwürdige ohne dieses Mysterium von Golgatha, das heißt, ohne den Christus-Impuls hätte finden können. [...] Wir müssen die innere Ehrlichkeit suchen, müssen uns aufraffen zu der inneren Ehrlichkeit, uns zu sagen: Wir werden mit Bezug auf unsere Gedankenwelt nach dem Mysterium von Golgatha nicht vorurteilslos geboren, wir werden alle mit gewissen Vorurteilen geboren. [...]
Ich bin als ein vorurteilsvoller Mensch geboren und muß mir die Gedankenvorurteilslosigkeit im Leben erst erwerben. Und wodurch kann ich sie hier erwerben? Einzig und allein dadurch, daß ich nicht nur Interesse entwickele für dasjenige, was ich selber denke, was ich selber für richtig halte, sondern daß ich selbstloses Interesse entwickele für alles, was Menschen meinen und was an mich herantritt, und wenn ich es noch so sehr für Irrtum halte. Je mehr der Mensch auf seine eigenen eigensinnigen Meinungen pocht und sich nur für diese interessiert, desto mehr entfernt er sich in diesem Augenblicke der Weltentwickelung von dem Christus. Je mehr der Mensch soziales Interesse entwickelt für des anderen Menschen Meinungen, auch wenn er sie für Irrtümer hält, je mehr der Mensch seine eigenen Gedanken beleuchtet durch die Meinungen der anderen, je mehr er hinstellt neben seine eigenen Gedanken, die er vielleicht für Wahrheit hält, jene, welche andere entwickeln, die er für Irrtümer hält, aber sich dennoch dafür interessiert, desto mehr erfühlt er im Innersten seiner Seele ein Christus-Wort, das heute im Sinne der neuen Christus-Sprache gedeutet werden muß. Der Christus hat gesagt: „Was ihr einem der geringsten meiner Brüder tut, das habt ihr mir getan.“ [...] Und so spricht er heute zu denjenigen, die ihn hören wollen: [...] Was ihr findet als Meinung, als Lebensanschauung in einem der geringsten eurer Brüder, darin suchet ihr mich selber.
GA 193 (Der innere Aspekt des sozialen Rätsels), 11.2.1919, S. 59f.


Das ist der Gedankenweg zu Christus – und zum anderen Menschen. Als den Willensweg bezeichnet er einen selbst anerzogenen Idealismus, der auch dann lebendig bleibt, wenn der natürliche Idealismus der Jugend versiegt.

Von einem solchen Idealismus aber spricht Rudolf Steiner dann ganz konkret da, wo er 1923 von anthroposophischer Gemeinschaftsbildung spricht. Dort beschreibt er, dass die Begegnung zwischen Menschen zu einem Sakrament werden kann. Und er nennt es einen „umgekehrten Kultus“, weil hier nicht, wie im Kultus, das Übersinnliche im Kleid des Sinnlichen erscheint, sondern weil umgekehrt das zunächst sinnlich Sichtbare durch spirituellen Idealismus ins Übersinnliche erhoben wird.  

Und wiederum sagt Rudolf Steiner, dies geschieht,

[...] wenn wir tatsächlich imstande sind, durch die lebendige Kraft, die wir hineinlegen in die Gestaltung der Ideen vom Geistigen, etwas von einem Erweckenden zu erleben, etwas von dem, was nicht bloß das sinnlich Erlebte so idealisiert, daß das Ideal ein abstrakter Gedanke ist, sondern so, daß das Ideal ein höheres Leben gewinnt [...].
Es kann ein Mensch am Seelisch-Geistigen des anderen Menschen erwachen, wenn Menschen gemeinsam auf diesem Weg streben. Rudolf Steiner beschreibt, wie man schon die Schwelle des Raumes, in dem dies geschehen soll, mit Ehrfurcht übertreten kann – und wie man die Empfindung hegen kann, dass ein geistiges Wesen „auf uns herunterschaut und uns anhört“.


Wie anders wird man sprechen, empfinden, handeln, wenn der spirituelle Idealismus so real wird!? Es ist das, was Novalis „Romantisieren“ genannt hat – spiritueller Idealismus, Geist-Realismus!

Man kann all dies zu „heilig“ finden, aber das heißt nichts anderes, als dass man die Begegnung eben doch etwas im Profanen lassen will, nicht bis zu dem Punkt vertiefen will, wo sie im tiefsten Sinne menschlich und zugleich geistig, und damit menschlich-göttlich wird.

Diese Furcht vor dem Geist muss jeder mit sich selbst abmachen – man macht es sich damit aber zu einfach, wenn man das Höchste oder Tiefste innerlich oder auch äußerlich belächelt und lächerlich macht, indem man es z.B. als übertrieben empfindet...

Es ist ein ungeheuerlicher Übungsweg, sich diese Tiefe der Empfindung, diese Reinheit des Denkens, diese Heiligkeit des Willens zu erringen. Aber es ist möglich – und erst hier finden wir unser wahres, volles Menschentum!

Ich will es noch mit einem Bild andeuten. Vor einiger Zeit fuhr ich mit dem ICE. Es war noch früher Morgen. Und der Zug fuhr dann irgendwann durch eine Gegend mit einem leichten Morgennebel. Dieser Nebel war nicht besonders dicht, über eine weite Strecke bestand er sogar nur aus einer feinen Schicht etwas über dem Boden.

Und doch hatte dieses zarte Schleierband eine unglaubliche Wirkung. Alles, was sich da draußen zeigte, wurde plötzlich wie eine Art zauberhaftes Märchen – und damit will ich zweierlei sagen: Es wurde in allem schön, und es wurde in allem besonders, ja einzigartig. Jeder Baum, jeder Strauch hob sich heraus, und in allen Einzelheiten erschien die sich offenbarende Landschaft wirklich wie ein in jedem Moment sich erneuerndes Wunder. Es war wie eine Kommunion, wie die wirkliche Offenbarung der Schönheit der Schöpfung.

Diese Schöpfung ist aber auch ohne Morgennebel da – nur sehen wir sie dann längst nicht mehr in dieser unendlichen Intensität und Einzigartigkeit.

Und nun übertragen Sie ein solches Erlebnis auf die Welt der Mitmenschen, der Mitbrüder und -schwestern...

Auch hier sind die Schwierigkeiten, sich dies zu erringen, nicht geringer!

An welchem Punkt wir innerlich zunächst stehen, kann man sich selbst auch in anderer Form einmal versuchen, zum Erlebnis bringen. Man versuche, dasjenige innerlich so lebendig wie möglich zu machen, was Rudolf Steiner als Grundbedingung jeder geistigen Schulung bezeichnete: Die Empfindung der Devotion, der Ehrfurcht...

In seinem Buch „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ geht es um die Ehrfurcht gegenüber der Wahrheit – die ja auch erst einmal nur als etwas höchst Abstraktes erlebt wird. Es ist ein langer Weg, die Wahrheit als etwas absolut Geistig-Reales und als etwas Wesenhaftes empfinden und erleben zu lernen – und dann diesem Wesenhaften gegenüber Ehrfurcht zu empfinden.

Aber man kann auch einmal versuchen, die „dreifache Ehrfurcht“ zu empfinden, die Goethe im Zusammenhang mit der „Pädagogischen Provinz“ in seinem „Wilhelm Meister“ angedeutet hat: die Ehrfurcht vor dem, was über uns ist; die Ehrfurcht vor dem, was uns gleich ist, dem Mitmenschen; und die Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist, den Naturreichen, denen der Mensch sein Dasein verdankt. Die letzte Ehrfurcht, die Goethe hier die christliche nennt, hat Christian Morgenstern so wunderbar in seinem Gedicht „Fußwaschung“ in Worte gefasst.

An solchen Versuchen, so etwas wie Ehrfurcht in uns innerlich stark lebendig zu machen, kann jeder Mensch erleben, wo er auf dem Weg der Entwicklung des höheren geistigen Menschen steht.

Und denken wir dabei auch an das, was Kinder uns offenbaren! Die natürliche Ehrfurcht kleiner Kinder, die wir eigentlich in so unendlich vielem erblicken können, muss der Erwachsene in verwandelter, freier Form wieder erringen. Das, was Kinder uns offenbaren – nicht nur in Bezug auf die Ehrfurcht –, das muss der Geistesmensch sich in jeweils größter Tiefe und Kraft selbstständig erringen!

Wie ist es nun aber mit der konkreten Menschenbegegnung?

Nehmen wir an, wir haben bereits versucht, unsere Ideale so zu vertiefen, dass sie allmählich ihre Abstraktheit verlieren. Nehmen wir an, wir wollen wirklich unseren Mitmenschen fast wie einen Bruder betrachten, als einen Menschenbruder, der immer wiederkehrt.

Dennoch kann es zunächst ein Problem bleiben, einen Zugang zum Mitmenschen zu finden.

Im „Pädagogischen Jugendkurs“ beschreibt Rudolf Steiner, wie sich heute alle Menschen gleichsam hüllenlos von Ich zu Ich gegenüberstehen, in direkter Ich-Begegnung – aber wie wir mit dieser Begegnung zunächst ganz überfordert sind:

In unserer Zeit geht die Menschheit über von einem hüllenhaften Erleben des anderen Menschen zu einem wirklichen Erleben des Ich des anderen Menschen. Und das ist die Schwierigkeit des menschlichen Seelenlebens, daß wir uns in dieses ganz neue Verhältnis von Mensch zu Mensch hineinleben müssen. [...] Vor allen Dingen haben wir uns noch nicht die Möglichkeit erworben, ein Verhältnis zu gewinnen zwischen Ich und Ich.
GA 217 („Pädagogischer Jugendkurs“), 14.10.1922, S. 176/179.


Man denke einmal an Menschen, die verliebt sind, aber noch nicht miteinander vertraut sind. Selbst wenn man einen Menschen unendlich schätzt, und oft gerade dann, weiß man nicht, wie man sich ihm eigentlich nähern soll, kann...

Aber dies ist heute oft auch zwischen allen anderen Menschen ein Problem. Selbst bei dem größten Interesse ist man zunächst ratlos vor der Frage: Wie finde ich eine Brücke zu dem anderen Menschen? Es herrscht heute eigentlich vielfach eine große Sprachlosigkeit.

Smalltalk ist selbstverständlich immer möglich. Oder ein Gespräch über Naheliegendes, Unverfängliches und Unverbindliches, Abstraktes. Ja, man kann sogar intensiv über alle möglichen konkreteren Themen sprechen, die einen vielleicht auch zweifellos verbinden.

Aber kommt man wirklich an das heran, was für einen selbst oder für den anderen Menschen das Tiefste, das Eigentliche ist? Kommt es zu einer wirklichen Begegnung mit dem anderen Menschen, mit seinen tiefsten Anliegen, Hoffnungen, Sehnsüchten, seinem Seelenstreben, seinen Geisteszielen?

Es gibt doch eine ungeheure Angst, von den tiefsten Fragen zu sprechen. Sich dem Anderen hier zu offenbaren – und den Anderen gerade danach zu fragen. „Was beschäftigt dich im Innersten?“ An diesen Punkt kommen wir eigentlich nicht...

Aber genau hier stehen wir vor dem Parzival-Geheimnis. Wir müssen den Mut zu jener Frage finden, mit der wir die wirkliche Brücke zum anderen Menschen schlagen, mit der wir wirklich zu einer Begegnung mit seinem Wesen kommen können.

Der spirituelle Idealismus kann uns dahin bringen, im anderen Menschen wirklich das Höchste zu erblicken, erblicken zu wollen, eine ewige Individualität, den wirklichen Menschenbruder, die Menschenschwester. Doch um diesem Bruder, dieser Schwester dann auch wirklich begegnen zu können, müssen wir denselben Mut haben, den auch Parzival brauchte; den auch die Verliebten brauchen, wenn sie sich ... ansprechen wollen. Und wenn sie in der Begegnung das Tiefste nicht verlieren wollen, sondern im Tiefsten bleiben wollen.

Wir brauchen also ein Dreifaches: Wir brauchen die Sphäre des Wesentlichen, die Sphäre, in denen ein Mensch wesentlich wird – und die sich so wunderbar in folgenden Worten Morgensterns ausdrückt:

          O Freunde, liebt mich nicht,
          niemals den, der ich bin;
          doch was ich werden möchte,
          das, das liebt an mir!

Wir brauchen das tiefe Bild des anderen Menschen, wie es sich im „Romantisieren“, im umgekehrten Kultus offenbart: der Mitmensch als Bruder, als ewige Individualität auf ihrem einzigartigen Weg...

Und wir brauchen die Brücke, durch die sich diese Sphären zweier Menschen begegnen können – jene wunderbare Brücke, die Goethe in seinem „Märchen“ an der berühmten Stelle in Worte bringt:

Was ist herrlicher als Gold? fragte der König. – Das Licht, antwortete die Schlange. – Was ist erquicklicher als Licht? fragte jener. – Das Gespräch, antwortete diese.


Das Gespräch, wenn in der Begegnung das Licht des Einen und das des Anderen leuchten darf – dasjenige, wonach die Menschenbrüder individuell zutiefst streben, was ihnen als ihr eigener Genius voranleuchtet...

Was brauchen wir für eine solche Art der Begegnung? Wir brauchen die Möglichkeit, die Abstraktion, die Flucht in das Profane, in die Oberflächlichkeit, völlig zu überwinden. Wir brauchen die Möglichkeit zum „Geistesflug“, wir müssen den festen Boden unter unseren Füßen verlassen können, um wirklich in die Geistes-Gegenwart zu kommen und uns in dieser halten zu können.

Im Grunde brauchen wir dazu dasjenige, was Rudolf Steiner die „Spiritualisierung des Denkens“ genannt hat und was meiner Auffassung nach der Kern der Anthroposophie ist, die wirkliche Geburt des zweiten, des geistigen Menschen.

Ich kann hier nur noch kurz auf die niederländische Anthroposophin Mieke Mosmuller hinweisen, die in ihren Büchern und Seminaren genau diesen Schritt in den Mittelpunkt stellt. Bei ihr kann man erleben, wie dieser Schritt in umfassendem Sinne wirklich getan werden kann und was dies eigentlich bedeutet, bedeuten würde.

Ich möchte schließen mit einem Zitat aus einem Vortrag Rudolf Steiners, wo er einen Aspekt dieses Schrittes so beschreibt, dass sehr klar wird, wie hier ganz auf ein vollkommen seelisch-geistiges Erleben verwiesen wird, das die Abstraktion, Totheit und Festgefügtheit des gewöhnlichen Erlebens, in der der innere Mensch nicht aktiv dabei ist, völlig hinter sich lässt.

Man muß das Denken selber verbinden mit demjenigen, was man, ich möchte sagen, in dem Prozesse seines Ichs ist. Man muß dasjenige anschauen, was in der Freiheit vor einem steht, aber indem man anschaut, muß man zu gleicher Zeit das Denken entwickeln, wie man es sonst an den Erscheinungen der äußeren Natur entwickelt.

Was Goethe so gefallen hat, als Heinroth sein Denken ein gegenständliches genannt hat, das muß auf einer noch höheren Stufe zutage treten, wenn man die Offenbarung der Freiheit erfassen will, denn Goethe verband sein Denken mit dem Äußerlich-Sinnlichen der pflanzlichen Welt. Da gelang es ihm, das Denken untertauchen zu lassen in das Objekt, mit dem aktiven Denken in dem Objekt selbst drinnen zu leben; aber das Objekt blieb passiv. Will man dieses, wenn ich es da noch so nennen darf, gegenständliche Denken auf die Freiheit anwenden, dann muß man ein Übersinnlich-Geistiges, das im Menschenseelenweben in fortwährender Tätigkeit ist, noch auf eine viel innigere Weise durchdringen mit der Aktivität des Denkens. Man muß nicht ein Äußerliches, man muß dasjenige, was in einem selber sich entwickelt, mit der Aktivität des Denkens durchdringen. Dadurch aber reißt sich das, was nun Inhalt des Denkens wird, los von einem jeglichen Haften an einem Objekt im gewöhnlichen Sinne.
Was hier das Denken vollzieht, es wird selber ein Akt der Befreiung. Es hebt sich das Denken, indem es nicht inhaltlos wird, sondern gerade indem es angefüllt ist mit dem intimsten Fließen des Menschenwesens selbst, herauf zu einem freien Flusse, der das eine aus dem andern hervorströmen läßt.
GA 78 (Anthroposophie, ihre Erkenntniswurzeln und Lebensfrüchte), 31.8.1921, S. 49.


Rudolf Steiner beschreibt hier den Schritt, durch den der Mensch sich selbst in seiner eigenen inneren Aktivität ergreift, erfasst, anschaut – aber dieses Weben des Geistes kann dann auch aufrechterhalten werden, wenn der Mensch sich der übrigen Welt zuwendet. Dann wird das Leben zum Geistesleben...

Mit diesem Schritt, auf diesem Weg, findet der Mensch in tiefstem Sinne den Menschen – sich selbst und den Anderen.