15.12.2013

„Anthroposophischer Austausch“ – zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Von der Unfassbarkeit gewisser Urteile.

Antwort auf Jens Göken: Zwischen Zeitreisen und Zweigleitern. Versuch einer Urteilsbildung im 21. Jahrhundert. Gegenwart 4/2013, S. 10-23.

Gekürzte Version veröffentlicht in: Gegenwart 4/2013, S. 43-44.


Inhalt
Von Halle, Prokofieff, Wimbauer und Powell
Verkündigung, Irrtümer und das Böse
Geistiger Austausch?
Jens Göken und Mieke Mosmuller
Mieke Mosmuller und das reine Denken
Vom Mut, Irrtümer zuzugeben


In einem sehr langen, 14-seitigen Aufsatz, in dem es schwerpunktmäßig um Judith von Halle geht, behandelt Jens Göken die Frage der Urteilsbildung und auch der „Konstellationen“ zwischen verschiedenen Menschen.

Gökens Anspruch ist es, mehr Klarheit in die Frage zu bringen, wie in anthroposophischen Zusammenhängen eine vorsichtige Urteilsbildung möglich sein könnte – oder mehr (und anders) noch: wie in solchen Fragen der Umgang miteinander sein sollte.

Ich werde zeigen, wie er an einem entscheidenden Punkt diesen Anspruch in unglaublicher Weise verletzt.

Von Halle, Prokofieff, Wimbauer und Powell

Nach einer kurzen Einleitung geht Göken unmittelbar auf Judith von Halle, ihre Stigmatisation und ihre Nahrungslosigkeit ein. In jedem der letzten drei Jahrhunderte habe es ein solches Phänomen gegeben: Anna Katharina Emmerick (stigmatisiert seit 1812), Therese Neumann (1926), Judith von Halle (2004).

Göken weist auf die Autobiografie von Yogananda hin, dem Therese Neumann 1935 bestätigt hat, ein Grund für ihr Erscheinen sei, zu zeigen, dass der Mensch aus Gottes unsichtbarem Licht und nicht allein vom Brote lebe. Gegenüber Judith von Halle hat man in anthroposophischen Zusammenhängen zweifach extrem reagiert: mit völliger Abwehr von Phänomen und Person, oder aber mit gläubiger Hingabe an die Person und ihre Visionen.

Göken äußert Verständnis dafür, dass Judith von Halle „angesichts ihrer schier unfassbaren Erlebnisse“ nichts anderes habe tun können, „als nach den ihr eigenen Kräften für das einzustehen, was in ihr lebt“, und kommt zu dem Schluss:

„Verstehen können, ja sollten wir dies alles. Aber es bejahen und unterstützen, das müssen wir deshalb noch lange nicht.“ (S. 13)


Im zweiten Abschnitt geht er zunächst auf Sergej Prokofieff ein, der letztlich sehr prägnant gegen Judith von Halle auftrat und selbst ein spezielles Schicksal hat. Ende 1979 trat er mit knapp 26 Jahren mit ersten Vorträgen an die Öffentlichkeit, veröffentlichte zwei Jahre später das ebenfalls schon 1979 begonnene Werk „Rudolf Steiner und die Grundlegung der neuen Mysterien“ und wurde recht bald „von vielen für den reinkarnierten Rudolf Steiner gehalten“.

„Plötzlich war da einer, dem die ganze christliche Esoterik Rudolf Steiners lebendig vor Augen zu stehen schien, ein reiner Geist und klarer Denker aus dem Osten, der wie ein weisser Ritter aus dem Nichts auftauchte und den spirituellen Weg zur sechsten Kulturepoche auszuleuchten versuchte.“ (S. 14)


In demselben Jahr 1979 trat auch Herbert Wimbauer an die Öffentlichkeit, der in seinem Buch „Die Individualität Rudolf Steiners – das offenbare Geheimnis der Anthroposophie“ die sogenannte Bodhisattva-Frage aufwarf und

„[...] einen Schreibstil pflegte, den seit Andrej Belyi, Albert Steffen und Emil Bock wohl kein Anthroposoph mehr in dieser sprachlichen kraft zu führen gewusst hatte und an den nach ihm höchstens noch ein Karen Swassjan (*1948) in anderer, intellektuellerer Weise bravourös-neitzscheanisch anzuknüpfen vermochte.“ (S. 14)


Wimbauer blieb mit seinen „kühnen esoterischen Gedankengängen“ zeitlebens ein Außenseiter, veröffentlichte 1995 sein letztes Buch gerade gegen Prokoefieff und starb 33 Jahre nach seinem ersten großen Buch im Jahr 2012.

Ebenfalls zu dieser Zeit, 1978 bis 1982, entwickelte der von Georg Unger nach Dornach gerufene Robert A. Powell seine Methode einer hermetischen Astrologie. Mit dieser versuchte er, die Ereignisse zur Zeitwende exakt astrologisch zu bestimmen, ebenso durch Heranziehung der Visionen der A.K. Emmerick. Powell vertrat die These, dass Valentin Tomberg der Bodhisattva des 20. Jahrhunderts gewesen sei. Dem trat Prokofieff in dem Buch „Der Fall Tomberg“ 1995 entgegen, während Herbert Wimbauer in demselben Jahr sein o.g. Buch „Der Fall Prokofieff“ veröffentlichte.

Verkündigung, Irrtümer und das Böse

Göken bedauert, dass zwischen Prokofieff und Powell sowie zwischen Wimbauer und Prokofieff kein Dialog zustande kam und fügt kritisch hinzu:

„[...] aber als Anthroposophen versuchen wir ja, gedanklich zunächst völlig berechtigt, Einseitigkeiten und Irrtümer als Ausdruck des Bösen zu begreifen, pflegen dann jedoch, sozial unmöglicherweise, sogleich auch die Vertreter der Irrtümer als Diener des Bösen zu brandmarken, statt in aller Nüchternheit einzusehen, dass solches Böse in jedem von uns tobt und auf Korrektur, auf Ausbalancierung, auf Erlösung harrt, welche [...] nur durch Klärung im gegenseitigen Austausch zu erreichen ist.“ (S. 15)


Wenig später ergänzt er:

„Solcherart offene Gespräche sind es, die uns im anthroposophischen Geistesleben-Milieu fehlen; weil Fehler = böse sind, wir aber, verständlicherweise, die Guten sein wollen, haben wir riesige Ängste, dass wir Irrtümer im Denken, Urteilen und Schliessen begehen könnten und tragen deshalb alles nur in der Wucht des Verkündigens vor [...] und geben niemals zu, dass wir uns schlicht und einfach geirrt haben könnten.“ (S. 16)


Nach einem Hinweis auf Mieke Mosmuller (dazu unten mehr) bringt Göken Folgendes mit einem 33-Jahre-Zyklus in Verbindung:

• 1907-14 wesentliche Jahre der Christologie Rudolf Steiners
• 1940-47 (Gegenimpuls: Nationalsozialismus)
• 1973-80 Powell – Wimbauer – Prokofieff beginnen 1977-79 ihre christologische Arbeit
• 2006-13 Powell – J.v.Halle – Prokofieff  •  Auseinandersetzungen um J.v.Halle

Alsdann äußert er folgende Überzeugung:

„Wir können wohl sagen: Das ist nicht mein Zugang zur Anthroposophie. Aber wir sollten diesen Kampf, der da um Fragen der Christologie, der okkulten meister und des Prinzips einer spirituellen Ökonomie geführt wird, in seiner Grösse und Wichtigkeit auch für unsere moderne Weltwirklichkeit ernst nehmen [...].
Und darum ist es eben [...] geradezu notwendig, wenn sich nun nach Mieke Mosmuller u.a. auch Sergej O. Prokofieff mit verschiedenen Texten zu Wort gemeldet hat, um die Darstellungen Judith von Halles daraufhin zu überprüfen, ob sie wirklich mit dem, was uns Rudolf Steiner als Meister auf dem okkulten Pfad der Anthroposophia gelehrt hat, zusammenstimmen oder nicht.“ (S. 18)


Wiederum fragt sich Göken dennoch, warum es nie zu einem Gespräch zwischen von Halle und Prokofieff kam. Prokofieff schrieb, das private Leben von Halles interessiere ihn nicht, es gehe ihm nur um ihre öffentlichen Aussagen. Göken erwidert darauf, dass ihn als Anthroposoph gerade auch der Mensch Judith von Halle interessiere. Prokofieff möge sich zwar gefragt haben, wie man sich noch weiter verständigen solle, wenn er selbst von Halles Wahrnehmungen für falsch halten muss, doch unterschätze er da vielleicht „die wundervolle Alchemie des Gesprächs“ (S. 20).

Dennoch verteidigt er Prokoffieff als „reinen Ritter für Rudolf Steiner“ in einem langen Abschnitt erneut:

„Was also, wenn Sergej O. Prokofieff mit den Bedenken, die er in seinem Buch über Judith von Halles Zeitreisen äussert, schlicht und einfach angemessene Begriffe bildet? Was, wenn er, wie ich persönlich meine, mit so ungefähr allem, was auf die Einleitung noch folgt, Punkt für Punkt in vorbildlicher Weise Klarheit schafft? [...] Gewiss wird ihm oft vorgehalten, seine Bücher enthielten viel zu viele Zitate von Rudolf Steiner und allzu wenig Austausch mit anderen Autoren. Aber lassen wir doch auch einmal einen Menschen zu Wort kommen, der sich ganz und gar in den Dienst Rudolf Steiners stellt und bemüht ist, uns schwierige esoterische Zusammenhänge durch eine sehr gründliche und damit ja auch wissenschaftlich gediegene Zusammenschau verschiedenster Aussagen Rudolf Steiners neu zu erschliessen [...], während Prokofieff doch immer wieder auch sehr eigenständige Gedankengänge und Kommentare mit anzuknüpfen weiss. Schön und gross ist sein Denken, immer sauber komponierend vorgehend und damit wundervoll lebendig und immer wieder entdeckungsfreudig. Dass er dabei zuweilen belehrend und verkündend auftritt über den Nierenlagern dass hier und da die Grenzen zwischen eigenen Gedanken und denen Rudolf Steiners auch verwischen, braucht einen nicht zu wundern angesichts der intimen Nähe, die er zu dem Werk Rudolf Steiners entwickelt hat.“ (S. 21)

Geistiger Austausch?

Den dritten und letzten Abschnitt beginnt Göken mit der Feststellung, dass im Katalog des Goetheanum-Verlages aus dem Jahr 2007/08 die Bücher von Prokofieff, Selg und von Halle gemeinsam erschienen, bevor letztere beiden ihre Werke dann in jeweils eigenen Verlagen veröffentlichten.

Nochmals betont Göken, dass es zunächst berechtigt ist, sich vorerst des Urteils zu enthalten, dass aber mangelnde Urteilsfähigkeit oder -willigkeit „ab einem bestimmten Punkt einfach nicht mehr“ ausreiche. So sei zum Beispiel nicht alles wahr, was eine A.K. Emmerick oder eine Therese Neumann geäußert hätten, und Steiner habe dem stigmatisierten Maler Richard Pollak Übungen gegeben, mit denen er die Stigmata wieder loswerden könnte.

Göken fährt fort:

„Und es könnte nun allerdings auch an der Zeit sein, dass wir hier zu einem persönlichen Urteil kommen, denn nach und nach beginnen die Bilder, die uns Judith von Halle in ihren Büchern überbringt, sich in das Selbstverständnis unzähliger Anthroposophen einzuprägen und im schwimmenden Gedächtnis mit Darstellungen und Begriffen Rudolf Steiners zu vermischen. Bei Judith von Halle ist es der Christus, der zum Abendmahl zwei Lämmer schächtet, womöglich noch mit deren Blut die Wände des Raumes rötet [...], schliesslich nach der Verwandlung von Wein in Blut seine Hände in seinem eigenen Blut wäscht und den Rest desselben seinen Jüngern zu trinken gibt [...]. Ferner sind es Engelwesen, die dem Christus auf dem Kreuzweg nach Golgatha jeden Hautfetzen und jeden Blutstropfen, den er verliert, hinterhersammeln und ihn nach dem Kreuzestod wieder in die Leiblichkeit einsetzen, um sie wieder „ganz heile“ zu machen [...]. Auch wenn dies ätherisch gemeint ist: ist eine Auferstehungsleiblichkeit denn darauf angewiesen? Und es ist der Zebedäus-Johannes, der in ihrer Darstellung innerhalb von zwei Stunden zu Staub zerfällt, unmittelbar aus dem Leben heraus (!), um seinen Ätherleib dem Lazarus zur Verfügung stellen zu können, der sich daraus wiederum einen völlig neuen (!!) physischen, offenbar Zebedäus-ähnlichen Leib (!!!) aufbaut [...].
Nicht spotten will ich darüber, denn unter unserer Sonne sind Dinge möglich, von denen wir materialistisch herabgelähmten Fischer im Grüben unserer Gegenwart im jahre 2013 nicht entfernt etwas ahnen. Aber eine Grenze dessen, was ich bei aller Offenherzigkeit noch als plausibel erachten mag, möchte ich hier ziehen.“ (S. 23)


Göken schließt seinen Aufsatz mit folgenden Sätzen:

„Ich werde kämpfen, wo ich etwas für falsch halte, aber ich werde auch zu rühmen und zu schätzen wissen, wo etwas Wahres und Berechtigtes geäussert wird – solange ich einen Impuls als ernsthaft und strebend anerkennen kann in eine Richtung, die dem Impuls Anthroposophia irgend dienlich sein möchte. Jeder möge seine Grenze ziehen, wo es ihm oder ihr richtig erscheint; jeder möge sie woanders ziehen. Das Urteil, das es zu fällen gilt und das jeder einzelne von uns in jedem Augenblick wieder neu fällen muss, ist stets ein heikles. Schaffen wir daher ein geistiges Milieu, in dem Gespräche und geistiger Austausch so weitherzig leben können, dass die Urteile, zu denen wir durch gegenseitige Wahrnehmung, Korrektur und Hilfe gelangen, immer mehr zur Bereicherung und Intensivierung des anthroposophischen Impulses auf Erden beizutragen vermögen.“ (S. 23)


Das sind natürlich sehr schön klingende Worte...

Jens Göken und Mieke Mosmuller

Göken hat tatsächlich zu allen bisher ausführlicher erwähnten Menschen etwas Positives zu sagen gewusst: von Halle, Wimbauer, Prokofieff, Powell. Er hat ihr Werk, ihr Erkenntnisringen und ihre Person gewürdigt.

Dann aber gibt es eine Passage in der Mitte seines Aufsatzes, in der es um Mieke Mosmuller geht. Zuvor war die Rede von dem „Mut, uns gegenseitig auf Fehler aufmerksam zu machen und uns vor allem auch selber solche einzugestehen“. Daraufhin schreibt Göken:

„Hätten wir früher in solcher Richtung Milde walten lassen und eine lebendige Gesprächskultur entwickelt, hätte ein Herbert Wimbauer mit seinen grossen Fähigkeiten womöglich nicht an ebendiesen Symptomen selber geistig vereinsamen müssen.
Es hätte dann auch nicht zu dieser explosiven Konstellation Mieke Mosmuller – Judith von Halle zu kommen brauchen, bei der einem der Atem stockt: Denn während die eine meint, weil sie die Stigmata habe, spreche sich durch sie der Christus aus, meint die andere, sie habe das reine Denken (und damit die Wahrheit gepachtet?), aus welchem heraus sie u.a. auch ein ganzes Buch gegen die Konstellationsschwester am Beginn des 21. Jahrhunderts verfasst hat (Stigmata und Geist-Erkenntnis. Judith von Halle versus Rudolf Steiner, Baarle-Nassau 2008). Solche Symptome (denen übrigens auch Parallelen wie je ein Gralsbuch, ein Steiner-Buch usw. zur Seite stehen!) machen es einem zuweilen schwer, auf die Zukunft des Weiblichen auch innerhalb der anthroposophischen Bewegung zu hoffen – wobei es selbstverständlich aber auch andere Persönlichkeiten gibt, die sich zum Teil sogar in diesem Themenzusammenhang geäussert haben, etwa aus erkenntniswissenschaftlicher Richtung Irene Diet (*1959), die mit streitbarer Feder, aber ohne auf ihre Person bezogene Ansprüche Stellung zu heiklen Fragen zu beziehen pflegt und Mieke Mosmullers Auftreten in Anthroposophie Nr. 254, Weihnachten 2010, hinterfragt, oder Corinna Gleide (*1964), die sich aus ihrer gediegenen Begriffsarbeit heraus im Nachrichtenblatt [...] 7/2006 zu Judith von Halle positioniert hat.“ (S. 17)


Dieser Absatz ist eine einzige Widerlegung von Gökens eigenem, so ausführlich aufgebautem und behauptetem Anspruch. Allen gegenüber hat Göken „Verständnis“, ja sogar anerkennende, positive Worte („kühne esoterische Thesen“, „mit streitbarer Feder“, „gediegene Begriffsarbeit“, „reiner Ritter für Rudolf Steiner“ und, und, und...), doch in Bezug auf Mieke Mosmuller hat er nur folgende Urteile übrig:

• Sie „meint [...], sie habe das reine Denken (und damit die Wahrheit gepachtet?)“.
• Sie und Judith von Halle seien „Konstellationsschwestern“ (gleichzeitiges Auftreten, Bücher zu gleichen Themen).
• Solche Symptome „machen es [...] schwer, auf die Zukunft des Weiblichen [...] zu hoffen“.
• „Mieke Mosmullers Auftreten“ ist von Irene Diet hinterfragt worden.

Das dritte Urteil Gökens ist reinste, niedere Polemik, die für mich schlicht und einfach unfassbar ist. Zunächst wird ein Mensch auf sein Geschlecht konzentriert, dann wird er völlig diffamiert.

Das vierte Urteil suggeriert, Irene Diet habe in ihrem Aufsatz irgendetwas Wesentliches über Mieke Mosmuller gesagt. Dieser Aufsatz war jedoch ebenfalls eine aggressive Polemik, auf die ich in einer eigenen Entgegnung ausführlich geantwortet habe. Mein Aufsatz zeigt, wie Diet in ihrer Polemik vorgeht und wie haltlos ihre aggressiven Vorwürfe gegen Mieke Mosmuller sind. Er wurde in der darauffolgenden Ausgabe der Zeitschrift „Anthroposophie“ Ostern 2011 veröffentlicht.

Gökens zweites Urteil, Mieke Mosmuller und Judith von Halle seien „Konstellationsschwestern“ ist eine merkwürdige Aussage, in die der Leser alles Mögliche hineinlegen kann. Was soll eine solche Behauptung? Göken meint damit offenbar, diese beiden Menschen seien irgendwie miteinander verbunden. Ferner will er offenbar andeuten, ihre Bücher hätten teilweise den gleichen Inhalt oder Stellenwert, seine Aussagen geben zumindest diese Suggestion.

Während also die Bücher sämtlicher anderer Menschen, die Göken erwähnt, zugleich in irgendeiner Weise recht tief gewürdigt werden, wird bei Mieke Mosmuller nur auf die Themengleichheit gewisser Bücher mit denen Judith von Halles hingewiesen. Es ist eigentlich unfassbar, was Göken hier tut. Während Prokofieffs Bücher, die den Werken Judith von Halles entgegnen, ausführlich besprochen und gewürdigt werden, ist Mieke Mosmullers Buch, das als allererstes erschienen ist, bevor irgendjemand sonst in Buchform ein ausführliches Urteil gewagt hätte, nichts weiter wert, als die Autorin zur „Konstellationsschwester“ von Judith von Halle zu machen! Während alles, was Göken so ausführlich über „den reinen Ritter für Rudolf Steiner“ Prokofieff sagt („Was also, wenn Sergej O. Prokofieff...“, siehe oben) auch über Mieke Mosmuller gesagt werden könnte – außer dass sie Rudolf Steiner weniger ausführlich zitiert, als es Prokofieff tut –, ist sie im Urteil Gökens eine quantité négligeable...

Gökens erstes Urteil ist vollkommen offensichtlich der Grund für seine drei anderen: Mieke Mosmuller „meint [...], sie habe das reine Denken (und damit die Wahrheit gepachtet?)“.

Die erste Merkwürdigkeit dieses zutiefst polemischen Satzes ist, dass aus ihm nicht einmal völlig klar wird, was Göken selbst meint. Doch das „meint“ deutet darauf hin, dass er nicht der Auffassung ist, dass Mieke Mosmuller das reine Denken entwickelt habe. Damit kann man sein Urteil in folgende Worte umformulieren: „Mieke Mosmuller hat das reine Denken wohl eher nicht entwickelt und schon gar nicht die Wahrheit gepachtet.“

Während es in seinem außergewöhnlich langen, 14-seitigen Aufsatz also eigentlich um das Thema vorsichtiger Urteilsbildung und der Schaffung eines geistigen Milieus für einen weitherzigen geistigen Austausch gehen soll, bilden die Mitte seiner 14 Seiten gerade einige wenige Sätze, in denen ein abruptes, absolut nicht nachprüfbares Urteil über einen Menschen gefällt wird. Über einen Menschen, der seit 1994 Bücher über Themen schreibt, die das Zentrum der Anthroposophie betreffen. Über eine Anthroposophin, die im deutschen Sprachraum seit 2007 jährlich zwei oder mehr Bücher herausgegeben hat und die inzwischen mit jährlich über 40 (!), oft mehrtägigen Vorträgen und Seminaren in Holland, Belgien, Deutschland, Dänemark und der Schweiz wirksam geworden ist.

Mieke Mosmuller und das reine Denken

Gökens hingeworfene Urteile lassen vermuten, dass er die Bücher Mieke Mosmullers überhaupt nicht kennt – vielleicht nicht einmal ihr Buch, das sich mit den Aussagen Judith von Halles auseinandersetzt, gewiss nicht ihr Buch „Der Heilige Gral“. Mieke Mosmuller hat mit Judith von Halle nicht mehr zu tun als Göken, und es ist ein unwahrhaftiges Urteil, Verbindungen nur wegen der scheinbaren Themengleichheit zweier Bücher zu ziehen.

Mieke Mosmuller schreibt in dem Buch „Der Heilige Gral“ unter anderem über das eigene Erleben des Grals-Geheimnisses, wie es für jeden Menschen möglich werden könnte, der den Weg des reinen Denkens wirklich entschlossen übt und geht. In diesem Buch geht es nicht um „kühne esoterische Gedankengänge“, es geht um reale, erlebte, unmittelbar-wirkliche Geist-Erfahrung. Jeder Anthroposoph, der dieses Buch „Der Heilige Gral“ liest und in wahrhaftiger Zurückhaltung des eigenen Urteils die dort geschilderten Erfahrungen ernst nimmt, müsste innerlich jubeln über die Tatsache, dass hier ein Mensch den anthroposophischen Weg wirklich und wirksam gegangen ist und geht und dass hier Zeugnis abgelegt wird von der unendlich tiefen Wirklichkeit des Geistes und von der Wirklichkeit des Christus heute...

Mit diesem Buch wird unmittelbar klar, dass Mieke Mosmuller nicht „meint, sie habe das reine Denken entwickelt“, sondern dass sie weiß, dass sie es entwickelt hat – und mehr als das, denn das reine Denken ist das Tor zur geistigen Welt. Und so wird der vorurteilslose Leser in jedem ihrer Bücher erleben können, dass hier mehr vorliegt als „esoterische Gedankengänge“ – es sind Früchte eines realen esoterischen Lebens und geistiger Erfahrung.

Was in Gökens Urteilen davon sichtbar wird, ist nur das dunkle Gegenbild: Seine eigene Antipathie gegen den angeblichen Anspruch von Mieke Mosmuller. Göken suggeriert, sie behaupte implizit, das reine Denken „gepachtet“ zu haben. Wenn man jedoch nach Gökens Logik urteilen würde, müsste man dasselbe von Rudolf Steiner sagen, denn auch er hat zum Beispiel immer wieder scharf darüber gesprochen, dass seine „Philosophie der Freiheit“ nicht richtig gelesen wurde – so dass dadurch nicht das geschehen ist, was geschehen könnte, wenn man dieses Werk nicht nur liest, sondern innerlich tut...

Auf dieselbe Tragik macht Mieke Mosmuller aufmerksam, wenn sie darauf hinweist, dass dasjenige reine Denken, was Rudolf Steiner meinte, nämlich die wirkliche Spiritualisierung des Denkens, die reale Auferstehung des Denkens, bis heute nicht verwirklicht wird.

Mieke Mosmuller hat beschrieben, wie und warum diverse übersinnliche Erfahrungen dieser Spiritualisierung des Denkens sehr wohl täuschend ähnlich sehen können – ihre Bücher zu Judith von Halle, zu Ken Wilber, zur Bildekräfteforschung –, und hat damit im Grunde unendlich Bedeutsames zur Urteilsbildung und zum Verständnis des Wesens der Anthroposophie geleistet.

Diese Bücher haben ihr aber die Feindschaft all derjenigen eingebracht, die nicht unbefangen genug die Erkenntnisarbeit mit-vollziehen können oder wollen, sondern sich dann lieber immer wieder auf das Urteil zurückziehen: „Es gibt viele Wege in die geistige Welt“. – Ja, es gibt viele Wege, es gibt viele Bereiche der geistigen Welt, dennoch ist letztlich nicht „alles eins“, sondern da, wo das Unterscheidungsvermögen verloren geht, verliert die ganze Anthroposophie ihren Sinn, denn ihr Wesen ist gerade die differenzierte Geist-Erkenntnis.

Mieke Mosmuller verurteilt in ihren Büchern niemanden, sie bezeichnet auch niemanden als „Diener der Widersachermächte“, sondern sie formuliert einfach in aller Klarheit, wie bestimmte Aussagen, Phänomene und seelisch-geistige Erlebnisse beurteilt werden können, welchen Bereichen der geistigen Wirklichkeit sie entsprechen und was ihr Zusammenhang zum Wesen der Anthroposophie ist, welches Rudolf Steiner in so reiner Form vertreten hat. Ihre Bücher sind für den innerlich aktiv werdenden Leser überall nachvollziehbar geschrieben, regen zu dieser Aktivität geradezu an. Kristallklar und geistig lebendig sind sie geschrieben – und als Leser kann man ihre geistige Quelle erahnen.

Mieke Mosmuller hat beschrieben, wie die Erziehung kleiner Kinder und die Waldorfpädagogik wahrhaft geistig ergriffen und verwirklicht werden kann; sie hat eine „Freiheitsphilosophie für junge Menschen“ geschrieben; sie hat ein Buch über „Das Menschliche Mysterium“ des menschlichen Leibes verfasst; sie hat soeben ein umfangreiches Werk über die Kategorien veröffentlicht, die Rudolf Steiner als die Buchstaben bezeichnete, mit denen die Anthroposophie gelesen wurde, und die bis heute ein großes Rätsel bilden. Sie hat zwei Bücher über Rudolf Steiner geschrieben, die diesen Meister des Abendlandes und seine außergewöhnliche Leistung tief erlebbar machen.

Vom Mut, Irrtümer zuzugeben

Man muss eigentlich nichts weiter sagen, um für jeden der Anthroposophie verbundenen Menschen deutlich zu machen, dass hier ein Werk vorliegt und ein Mensch am Wirken ist, an dem niemand vorbeigehen sollte, dem die Anthroposophie wichtig ist.

Die von Göken heraufbeschworene „explosive Konstellation“ Mosmuller – von Halle ist eine bequeme Vorstellung Gökens. Während nach dem Buch „Stigmata und Geist-Erkenntnis“ auch ein Prokofieff zwei Bücher veröffentlicht hat, in denen es um Judith von Halle ging (2008, 2013), ist Mieke Mosmuller längst weitergegangen. Nachdem sie dasjenige, was aus ihrer Sicht zu Judith von Halles Auftreten und ihren Veröffentlichungen zu sagen ist, gesagt hat, hat sie längst 12 weitere Bücher veröffentlicht und unzählige Seminare und Vorträge gegeben, in denen es nie mehr um Judith von Halle gegangen ist, sondern immer um den über das reine Denken führende Weg in die geistige Welt.

Der Hochmut, der in Gökens abfälligen, hingeworfenen Urteilen über Mieke Mosmuller liegt, ist sein eigener. Nicht sie ist hochmütig und glaubt, das reine Denken „gepachtet zu haben“ – Göken ist es, der nicht erkennt, dass sie dieses reine, lebendige Denken aus eigener Anschauung kennt und mit ihrem ganzen Wirken und Werk dazu beitragen will, dass auch andere Menschen diesen Schritt zu verwirklichen vermögen.

Ohne ein solches reines Denken sind tatsächlich alle Urteile, wie Göken sagt, mehr oder weniger heikel. Es ist aber eine Illusion, zu glauben, dass man im „Gespräch“ heikler Urteile zur Wahrheit findet. Ohne das reine Denken regiert immer wieder übermächtig der intellektuelle Hochmut. Siegen tut dann die stärkste Meinung oder der „common sense“. Der Diskurs der Meinungen führt nicht zur Wahrheit. Eine „Alchymie“ des Gesprächs gibt es nur, wenn die Seele nach Selbstlosigkeit strebt. Dann erst wird der Weg betreten, wo ein Mensch den anderen Menschen zu finden vermag und wo die Wahrheit gefunden werden kann. Sicher ist dieser Weg erst dann, wenn das Denken selbst immer mehr ein lebendig webender Wahrheitsorganismus wird (siehe „Der Heilige Gral“, S. 38).

Es nützt nichts, sich intellektuelle Vorstellungen vom reinen Denken (oder seinen eigenen Fähigkeiten in dieser Beziehung) zu machen – man müsste zunächst so etwas wie das Buch „Der Heilige Gral“ lesen und ernst nehmen, um eine Ahnung davon zu bekommen, was die wirkliche Spiritualisierung des Denkens in ihrer ganzen Tiefe ist und bedeutet.

„Der Unterschied liegt im Wecken, im Zur-Erscheinung-Bringen der dreizehnten Kategorie. Das ist Anthroposophie.“
(Mieke Mosmuller, Die Kategorien des Aristoteles, S. 222).


Vielleicht hat Jens Göken selbst auch den Mut, zuzugeben, dass er sich geirrt hat – und vielleicht wird er dann auch an diesem Punkt „zu rühmen und zu schätzen wissen“, dass mit dem Werk Mieke Mosmullers seit nunmehr bereits fast zwei Jahrzehnten „Wahres und Berechtigtes geäußert wird“ und hier ein Mensch wirkt, der in selbstlosester und stärkster Weise dem Wesen Anthroposophia dient – ein Wesen, das dieser Mensch in eigenster Erfahrung erlebt.