04.03.2016

Die Herausforderung unserer Zeit – Ausgrenzung oder Christus-Impuls?

Antwort auf: Andreas Bracher: Die Migranten und die deutsche Regierung. Angela Merkels Sylvesteransprache. Der Europäer, März 2016, S. 10-13.


Inhalt
Seelische Deformationen
Die Doppelmoral des Westens
Deutschsein und der deutsche Geist
Der christliche Impuls

Seelische Deformationen

In einem Aufsatz im aktuellen "Europäer" problematisiert Bracher die gegenwärtige Haltung von Angela Merkel zur Frage der Migranten und Flüchtlinge. Diese Haltung ist an sich interessant, steht sie doch in einem gewissen Widerspruch zu jener berühmt gewordenen Begegnung mit dem Mädchen Reem, als Merkel noch betonte, man könne nicht jeden aufnehmen, und es müssten vor allem die Asylverfahren (und damit auch Abschiebungen) beschleunigt werden.

Mir geht es jetzt aber um Bracher selbst und seinen Aufsatz. Er erwähnt, dass 2015 nach offiziellen Angaben rund 1,1 Millionen „Schutzsuchende“ nach Deutschland kamen – zwei Drittel davon aus Syrien, Irak und Afghanistan –, und schreibt bald darauf, dass Menschen aus diesen Ländern „ihre seelische Prägung und die seelischen Deformationen, welche die Kriegsumgebung hinterlassen hat, mit sich tragen, dass mit ihnen etwas aus diesen Kriegsregionen nach Europa kommt“.

Mit solchen Sätzen wird in Brachers Artikel von Anfang an eine Stimmung aufgebaut, die im Grunde auf folgende Aussage hinausläuft: Diese Deformationen wie auch die Muslime insgesamt gehören nicht nach Europa, sie gefährden und verhindern eine Erfüllung der Mission des deutschen Volkes oder Europas.

Dass dem „Europäer“ diese Mission ein tiefes Anliegen ist, ist eine Sache. Dass ein solcher Artikel im „Europäer“ erscheinen kann, ist etwas anderes – etwas, was erschreckend ist. Denn der Artikel enthält wenig klare Gedanken. Es bleibt schleierhaft, was er eigentlich ganz genau aussagen will, wenn nicht dies: „Ausländer gehören in dieser Masse nicht nach Europa.“ Und: „Die Regierung unterdrückt die freie Meinungsbildung derer, die die Ausländer nicht haben wollen.“

Was an Brachers Aufsatz so erschreckend ist, ist, dass er sich im Grunde auf die Seite der sogenannten „besorgten Bürger“ und PEGIDA-Demonstranten stellt, deren subtile bis offene Fremdenfeindlichkeit die Stimmung eines ganzen Landes unendlich stärker vergiftet, als es die eine Million Schutzsuchenden an welchem Ort auch immer getan haben. Ist diese Fremdenfeindlichkeit nicht selbst eine furchtbare seelische Deformation? Wie viele Brandanschläge deutscher Bürger auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte gab es allein im letzten Jahr?

Die Doppelmoral des Westens

Sicher, die heute immer mehr vorherrschenden Spielarten des Islam werfen große Fragen auf. Aber hat sich die sogenannte „westliche Wertegemeinschaft“ jemals gefragt, woher diese Entwicklung kommt – oder ist sie ihr je mit wirklichen Werten begegnet, um menschheitlich eine andere Entwicklung in Gang zu bringen? Stattdessen haben die Deutschen und ihre Regierung ruhig zugesehen, wie durch militärische Eingriffe dieses Westens die oben genannten Länder in Kriegsgebiete verwandelt wurden. Weiterhin haben wir alle zugesehen und tun es noch, wie die deutsche Regierung zu autoritären und religiös extremistischen Regimen wie Saudi-Arabien freundschaftliche und Bündnis-Beziehungen unterhält, wie deutsche Rüstungsgüter in alle Welt exportiert werden und vieles andere mehr.

Aber Bracher kritisiert nicht etwa die Doppelmoral der „westlichen Wertegemeinschaft“, nein, er problematisiert die „seelischen Deformationen“ derjenigen Menschen, die aus Gebieten fliehen, die vom Westen zu Dauer-Kriegsgebieten gemacht worden sind.

Die Ereignisse von Köln mit den sexuellen Übergriffen auf Frauen haben sich in das öffentliche Bewusstsein geprägt und die Stimmung landesweit weiter angeheizt. Es verhallen diejenigen Stimmen, die auf die ebenfalls noch immer massiv existierende frauenfeindliche Mentalität unzähliger deutscher Männer hinweisen, etwa auf die Zahl der Übergriffe und die ungeheure Dunkelziffer allein schon zum Beispiel beim Oktoberfest. Es verhallen die Stimmen, die auf Studien hinweisen, wonach die Kriminalitätsrate unter Ausländern keineswegs höher ist als unter Deutschen. Ich kann nur sagen, ich bewundere zutiefst jemanden wie Sarah Lesch (mit einem wunderbaren Lied die Gewinnern des diesjährigen Protestsong-Contest), die auf ihrer Webseite einer Instrumentalisierung der Kölner Ereignisse für irgendeine Fremdenfeindlichkeit so offen entgegentritt, dass sie sogar ihr eigenes mehrfaches Missbrauchtwordensein öffentlich macht. 

Kann man Flüchtlinge denn abweisen und wieder in Krieg und Chaos schicken, weil sie „seelische Deformationen“ aufweisen – oder weil einzelne Menschen mit seelischen Deformationen Vergehen und Verbrechen begehen? Das würde den Gedanken des Asyls und der mitmenschlichen Hilfe ja vollkommen ins Absurde führen. Und dies alles um einer vorgestellten „Gefährdung des Deutschtums“ willen!

Jede Problematisierung der „Flüchtlingsströme“ lenkt von den wahren Problemen ab. Und diese sind: Die Fluchtursachen, die Mitverantwortung des Westens, Extremismus und Diskriminierung jeglicher Art. Ja, der radikale Islam ist ein Hauptproblem unserer Zeit. Aber der radikale Neoliberalismus und die Nonchalance, mit der die westliche Welt dessen Folgen völlig missachtet und immer weiter durchdrücken will, ist ein anderes Hauptproblem unserer Zeit. Wenn man sich einmal klarmacht, dass das „westliche Modell“ durch seinen Egoismus und durch seine erdrückende Macht Milliarden Menschen weltweit in Armut gestürzt hat und in Armut hält, kann man nur noch an das Wort des Christus denken: „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?“ (Mt 7,3).

Deutschsein und der deutsche Geist

Bracher sagt, Merkel betone nur „die materiellen Bedingungen der Integration“ und verschweige die geistig-seelische Dimension. Und was führt er als diese „materiellen Bedingungen“ an? Dass Merkel „Zeit, Kraft und Geld“ betone. Allein dies zeigt schon, wie tendenziös Bracher vorgeht. Denn, was sollen „Zeit“ und „Kraft“ denn anderes bedeuten, als dass durch die Zeit und durch Kraft etwas erreicht werden kann, was die seelisch-geistigen Verhältnisse betrifft?

Bracher führt Merkels Satz an: „Es kommt darauf an, denen nicht zu folgen, die mit Kälte oder gar Hass in ihren Herzen ein Deutschsein allein für sich reklamieren und andere ausgrenzen wollen.“ Und dann nennt er dies „eine merkwürdige Art von Argumentation“, weil sie die Integration bereits als fertig und gegeben betrachte.

Man kann nur Brachers eigene Argumentation äußerst merkwürdig nennen! Denn natürlich kann Integration nur ein Prozess sein – aber wie kann ein Prozess stattfinden, wenn er gar nicht zugelassen wird? Merkel beweist an dieser einen Stelle mehr Menschlichkeit als alle Gegenkräfte zusammen.

Bracher wäre einmal zu fragen, was er unter Deutschsein versteht. Ein bestimmtes Rechts- und Kulturverständnis? Und wer sagt, dass flüchtende Menschen sich dieses nicht auch aneignen können? Sie sind doch gerade vor den rechtsfreien Räumen, die in ihrer Heimat entstanden sind, auf der Flucht! Ich kenne Menschen, die aus Syrien geflüchtete Mitmenschen bei sich aufgenommen haben. Sie tun bereits als Einzelne mehr für jede gelingende Integration als all jene zusammen, die einfach nur von „nicht gelingender Integration“ reden und nichts tun.

Zum wahren Deutschsein oder besser: deutschen Geist, wie Rudolf Steiner davon sprach, würde auf jeden Fall eines gehören: eine tiefste Verwirklichung des Menschentums überhaupt. Dieses lässt sich nicht mit irgendeiner Ausgrenzung verbinden. Der deutsche Geist ist nicht an Pässe, Abstammung oder Staatsgebiete gebunden, sondern an ein bestimmtes Bewusstsein. Wenn wir uns innerhalb der deutschen Staatsgrenzen umsehen, könnten wir einmal fragen: Wer verwirklicht diesen deutschen Geist eigentlich überhaupt? Wir befinden uns selbst in Deutschland auf einem Boden, in dem fast nur Nicht-Deutsche leben! Fast alle Deutschen sind Nicht-Deutsche.

Einen solchen Gedanken müsste man im „Europäer“ finden – und nicht solche reaktionären Gedanken wie die des Bracher’schen Aufsatzes, der von den wahren Herausforderungen unserer Zeit mehr ablenkt, als irgendetwas dazu beizutragen.

Bracher schreibt: „Mag sein, dass es bei Demonstrationen wie denen der PEGIDA wirklich den berühmten, legendären „Ausländerhass“ gibt, aber der Hass der PEGIDA-Demonstranten gegen Ausländer kann kaum vergleichbar sein dem Hass der politsch-meinungsbildenden Klasse gegen PEGIDA.“ – Diesen Satz muss man sich einmal wirklich vor die Seele stellen. Die Ausländerfeindlichkeit der PEGIDA wird mit allen Mitteln relativiert – und das Sich-Entgegenstellen gegen diese Stimmung wird verteufelt. Bracher sagt dann noch, die Regierung gehe aus dem Meinungsdiskurs der Gesellschaft hervor und sei ihr Produkt, dürfe sich daher nicht über den Produzenten stellen. Im Klartext: Wenn irgendwann die Mehrheit der Bevölkerung ausländerfeindlich wäre, dürfte die Regierung ebenfalls nur die „demokratische“ Ausländerfeindlichkeit exekutieren und realisieren. Hat Bracher schon einmal davon gehört, dass jeder einzelne Abgeordnete seinem Gewissen verantwortlich sein sollte? Selbst wenn er mit PEGIDA heftig sympathisiert, kann er doch weder der Bundeskanzlerin noch irgendeinem Abgeordneten vorschreiben, welche Meinung dieser haben dürfe! Und hält Bracher darüber hinaus PEGIDA etwa schon für die Mehrheitsmeinung in Deutschland?

Der christliche Impuls

Die Probleme, die durch eine nicht gelingende Integration auf eine Gesellschaft zukommen, sind real. Auch die Empfindungen und Erlebnisse, wie sie etwa die 16-jährige Bibi Wilhailm schildert, sind real.

Auch sie zeigen die Herausforderung sehr deutlich, die auf eine Welt zukommt, in der die Flüchtlingsströme zunehmen. Man sollte diese Herausforderung in voller Stärke vor seine Seele stellen. Aber wenn man dies tut, kann eines vielleicht deutlich werden.

Die Probleme der Welt werden nicht dadurch gelöst, dass man sie abweist – dass man sagt: Wir sind dafür nicht verantwortlich und wir wollen damit nichts zu tun haben. Wir sind dafür mit verantwortlich, ganz sicher sogar mehr und stärker, als wir es je für möglich halten würden. Die Menschen, die jetzt in unserer Zeit beginnen, aus ihrer Heimat (!) zu fliehen, weil es dort immer weniger möglich ist, ein menschenwürdiges Leben zu führen, tragen die Herausforderungen unserer Zeit überall hin – und sie gehören überall hin. Wir haben lange genug so getan, als könnten wir uns heraushalten – heraushalten aus Problemen, die wir mit verursacht haben und täglich mit verursachen. Wir haben Jahrzehnte und Jahrhunderte lang zu wenig getan – und jetzt wollen wir den Hochmut besitzen, Menschen abzuweisen, die fliehen müssen und fliehen können? Es wäre ein Armutszeugnis für den deutschen Geist.

Gerade wer eine spirituelle Weltanschauung und den Gedanken der Reinkarnation ernst nimmt – könnte er jemals glauben, dass wir ein geruhsames, problemfreies Leben durch die Gnade unserer Geburt in Europa verdient haben? Nein, wir haben höchstens die Gnade verdient, eine unermessliche Verantwortung zu haben. Und dieser werden wir niemals gerecht, wenn wir von einer „Islamisierung des Abendlandes“ fabulieren, sondern nur, wenn wir durch die Gnade unserer europäischen Geburt dazu beitragen werden, die globalen Probleme überhaupt zu lösen – durch eine wirkliche Realisierung des Menschentums, die in der Lage wäre, jeglichen Extremismus zu heilen und von Grund auf zu verwandeln. Fangen wir bei unserem westlichen Lebensmodell an, und der Islamismus könnte gar nicht anders, als sich mit zu verwandeln.

Der „Europäer“ ist kein Europäer mehr, wenn er nicht dem christlichen Impuls folgt. Der Ur-Impuls des Christentums ist aber nicht Ausgrenzung, sondern Liebe, nicht Abwehr, sondern Wandlung. Wenn Europa diesen Impuls begreifen und wahrmachen wird, dann wird „das Fremde“ kein Problem mehr sein. Denn dann wird von neuem eine seelisch-geistige Atmosphäre Fuß fassen können, wie sie in Lessings berühmter Ringparabel lebt.