06.02.2017

Vom Schwelgen in fauler Schnoddrigkeit

Die Hauptfeinde der Wahrheit und der inneren Entwicklung.


Inhalt
Noch einmal: Die Liebe zur Wahrheit
Der Gott des eigenen Urteils
Antipathie gegen die Wahrheit und das Sich-auf-den-Weg-Machen


Noch einmal: Die Liebe zur Wahrheit

Gestern, als ich über das Wesen der Wahrheit und den inneren Weg zur Wahrheit schrieb, erschien offenbar ziemlich zeitgleich auch bei den „Egoisten“ ein Aufsatz von Ingrid Haselberger über das Wahrheitsgefühl.

Sie zitiert darin nochmals, wie Rudolf Steiner die notwendige Vertiefung des Wahrheitsgefühls beschrieb. Das Erleben der Wahrheit sollte für den Geistesschüler nicht abstrakt bleiben, sondern sich zu tiefem Empfindungen vertiefen – und ebenso das Erleben der Unwahrheit.

Rudolf Steiner schreibt in „Die Stufen der höheren Erkenntnis“ (GA 12):

Die Geheimschulung stellt sich [...] die Aufgabe, dem Menschen die Mittel zu zeigen, welche ihn befähigen, seine Gefühle und seine Willensimpulse zu gesund-fruchtbaren für die Inspiration zu machen. [...] Man muß sich zunächst gewisse Gefühle aneignen, die man im gewöhnlichen Leben nur in einem geringen Grade kennt. Es sollen hier einige von diesen Gefühlen angedeutet werden. Zu den wichtigsten gehört eine höhere Empfindlichkeit gegenüber von «wahr» und „unwahr“, von „richtig“ und „unrichtig“. Gewiß hat ja auch der gewöhnliche Mensch ähnliche Gefühle. Sie müssen aber eben bei dem Geheimschüler in einem viel höheren Maße ausgebildet werden. Man nehme an, jemand begehe einen logischen Fehler: ein anderer sieht diesen Fehler ein, und er stellt die Sache richtig. Man mache sich klar, wie groß der Anteil des Urteiles, des Verstandes bei einem solchen Richtigstellen ist und wie gering das Gefühl der Lust beim Richtigen, der Unlust beim Unrichtigen. Wohlgemerkt, es soll durchaus nicht behauptet werden, daß die Lust und entsprechend die Unlust gar nicht vorhanden seien. Aber der Grad, in dem sie im gewöhnlichen Leben vorhanden sind, muß sich in der Geheimschulung ins Unbegrenzte steigern. Ganz systematisch muß der Geheimschüler die Aufmerksamkeit auf sein Seelenleben lenken: und er muß es dahin bringen, daß ihm das logisch Unrichtige eine Quelle des Schmerzes wird, der durchaus nicht hinter einem physischen Schmerze zurückbleibt; und in umgekehrter Art muß ihm das „Richtige“ wirkliche Freude oder Lust bereiten. Wo also ein anderer nur seinen Verstand, seine Urteilskraft in Bewegung bringt, muß der Geheimschüler lernen, die ganze Stufenfolge von Gefühlen, vom Schmerz bis zum Enthusiasmus, von der wehevollen Spannung bis zur entzückenden Lösung im Besitz der Wahrheit zu durchleben. Ja, er muß etwas wie Haß empfinden lernen gegen dasjenige, was beim „normalen“ Menschen nur als ein nüchternkaltes „Unrichtiges“ erlebt wird; er muß eine Liebe zur Wahrheit in sich entwickeln, welche einen ganz persönlichen Charakter trägt; so persönlich, so warm wie der Liebende der Geliebten gegenüber empfindet. – Man wird ja gewiß auch in den Kreisen unserer „Gebildeten“ vielfach von der „Liebe zur Wahrheit“ reden; doch ist das, was man da meint, eben gar nicht zu vergleichen mit dem, was der Geheimschüler in stiller, innerer Seelenarbeit nach dieser Richtung durchmachen muß. Er muß sich geduldig immer wieder probeweise dieses oder jenes „Wahre“, dieses oder jenes „Falsche“ vorlegen; und sich der Sache hingeben, um nicht bloß seine Urteilskraft zu schulen, die nüchtern unterscheidet zwischen „wahr“ und „falsch“; sondern er muß zu dem allen ein ganz persönliches Verhältnis gewinnen. [...] Immer reichere Vorgänge werden sich in seiner Seele abspielen bei seiner Pilgerschaft durch das Leben, immer selbständiger gegenüber dem, was die äußere Welt gibt, wird eine zweite Welt. Aber dieses Doppelleben wird gerade das Fruchtbare sein für die echte Lebenspraxis.
GA 12, S. 53ff.


Es geht also um eine tiefe Liebe zur Wahrheit, die so real wird, dass in der Seele ein Leid, ein Schmerz empfunden wird, wenn etwas unwahr ist oder wenn mit der Frage der Wahrheit „salopp“ und gedankenlos umgegangen wird. Und umgekehrt geht es um eine wirkliche Freude, ein reines Empfinden von Freude in der Seele, wenn etwas wahr ist, wenn die Wahrheit sich offenbart und offenbaren darf – und wenn Gedanken sorgsam, behutsam und klar gebildet werden. Das Letztere sagt Rudolf Steiner an dieser Stelle hier so nicht – aber es ist eine unmittelbare Folge einer realen Liebe zur Wahrheit. Man kann die Wahrheit nicht lieben lernen, wenn man nicht auch jenes reine Denken lieben lernt, dass zur Wahrheit kommen kann – und umgekehrt, man wird das reine, nur treu der Wahrheit ergebene Denken niemals lieben lernen, wenn man nicht die Wahrheit selbst lieben lernt – so persönlich, so warm, wie der Liebende der Geliebten gegenüber empfindet.

Die Wahrheit als heilige Geliebte der Seele – dieses reale Erleben gibt erst das ganze Verantwortungsgefühl gegenüber der Wahrheit. Erst dann erlebt die Seele auch wirklich, was eigentlich „Wahrhaftigkeit“ heißt.

Der Gott des eigenen Urteils

Es ist interessant, wie die „Egoisten“-eigenen Blogger dann auf diesen Beitrag reagierten:

Rainer Herzog – 06.02.2017 19:13
Schöner Beitrag. So etwas wie ein "Wahrheitsgefühl" kenne ich nur in der face to face Begegnung mit anderen Menschen. Ich "fühle", ob bei meinem Gegenüber Denken, Sprechen und Sein eine gewisse Einheit bilden, oder ob das nicht der Fall ist.
Von einem "Wahrheitsgefühl" im Umgang mit Büchern, weltanschaulichen Debatten, usw. zu sprechen, halte ich nicht viel; das ist alles sehr austauschbar, bzw. davon abhängig, was er/sie gerade zufällig gelesen oder sonstwie verinnerlicht hat.
"Liebe zur Wahrheit" ist ausschließlich etwas, was ich mit meinem Sein und Handeln alltäglich zu bezeugen habe (s. Kühlewind "Die Wahrheit tun") wenn ich denke, meine "Liebe zur Wahrheit" in einer Debatte verteidigen zu müssen, befinde ich mich ziemlich sicher ausserhalb der Wahrheit.
"Ja, er muß etwas wie Haß empfinden lernen gegen dasjenige, was beim «normalen» Menschen nur als ein nüchtern-kaltes «Unrichtiges» erlebt wird" (R.ST.)
Da würde ich Steiner ebenfalls nicht zustimmen.

Nach der typischen „Freundschaftsgeste“ („Schöner Beitrag“) folgt im wesentlichen ein völliger Widerspruch zu allem von Steiner und auch Ingrid Gesagten. Schon dies kann man als Unwahrhaftigkeit empfinden – zumindest tritt die Frage auf, was dann überhaupt gelesen und verstanden wurde. Oder aber man findet den Beitrag „schön“, bleibt aber völlig bei seinen eigenen Meinungen, Anschauungen, Überzeugungen, Kenntnissen.

Für Herzog ist es also völlig egal, zu welcher inneren Entwicklung Steiner angeregt, ja aufgerufen hat – es ist für ihn schlicht belanglos. Er kennt nur das-und-das, und das ist sein Maßstab. Und tatsächlich endet sein Kommentar mit einem „da würde ich Steiner ebenfalls nicht zustimmen“.

Man beachte: Steiner versucht, den Menschen erlebbar zu machen, wie ein Wahrheitsempfinden gerade dadurch entwickelt werden könnte, dass man sich geduldig immer wieder diese oder jene Wahrheit vorlegt und in der Seele dabei immer tiefer zu empfinden lernt. – Und Herzog kommentiert salopp, das für ihn Steiners Worte keine Gültigkeit haben, ja sogar falsch sind. Ohne überhaupt mit den Worten Steiners zu leben, hat er ein fix-und-fertiges Urteil. Ein solches Urteil macht sich nicht einmal die Mühe, zu verstehen, wie Steiner etwas gemeint hat oder gemeint haben könnte – es wird von vornherein abgelehnt.

Es ist ein Kennzeichen mangelnder Wahrheitsliebe, die Geduld aufzubringen, bestimmte Gedanken ruhig und still auf sich wirken zu lassen, bevor man seine eigene Meinung zu diesen ausspricht. Bei den „Egoisten“ aber ist die Antipathie gegen Steiner und diese gewissenhafte, ernsthafte innere Seelenschulung, die eine Vertiefung des seelischen Erlebens ist, geradezu mit (seelisch-geistigen) Händen greifbar. Man bringt es nicht über sich, diese Worte ernst zu nehmen und einen solchen inneren Weg zu gehen – man möchte über Steiner stehen und diesen Weg ablehnen.

Herzog erlebt auch nicht, was Steiner mit seinem Hinweis auf eine zweite innere Welt meint. Der Geistesschüler muss immer mehr die Realität dieser inneren Welt erleben, die sich von der äußeren Welt unabhängig macht. Der der Sinneswelt verhaftete Mensch bleibt zu sehr im Leiblichen. Die Wahrheit aber ist nichts Sinnliches – sie kann nur in der reinen Innenwelt der Seele erlebt werden und wird dies um so realer, je mehr die Seele lernt, überhaupt innerlich zu erleben: rein innerlich, immer tiefer. Das bedeutet nicht, sich von der äußeren Welt abzuschließen. Aber es bedeutet, diese Welt des inneren Erlebens und Empfindens immer mehr als eine ganz eigene Welt zu erkennen – eine von der Außenwelt unabhängige, völlig leibfreie Welt. Um diesen Schritt geht es in der Anthroposophie, sehr konkret.

Herzog bleibt dagegen im Äußerlichen. Er kennt das Wahrheitserleben nicht im reinen Gedanken – für ihn bleibt das alles abstrakt, austauschbar. Die geistige Welt, wie sie bei Steiner schon in der „Philosophie der Freiheit“ lebt, ist für Herzog ein Nichts. Erst wenn er konkreten Menschen „face to face“ begegnet, hat er ein Erlebnis. Dass man die Geistesart und das Wesen eines Menschen in all seinen Äußerungen erleben kann, ist Herzog fremd. Einem Gedanken muss man sich viel mehr hingeben, um an ihm ein Erlebnis zu haben – und das kann Herzog nicht oder will er nicht. Unwille, Faulheit oder Unfähigkeit – das sind die Hindernisse gegenüber der ernsten Seelenschulung, die jenes Opfer des eigenen Hochmutes verlangt, von dem ich gestern schrieb.

Dass auch jedes Sprechen und Schreiben ein „Sein und Handeln“ ist, scheint Herzog nicht ernst zu nehmen – und dass er mit seinem bequemen Widersprechen, ohne sich auch nur irgendeine Mühe gemacht zu haben, Steiner oder auch nur Ingrid zu verstehen, seine „Liebe zur Wahrheit“ auf sehr offenbarende Weise bezeugt, kann er daher auch nicht merken. Er bleibt auf der Stufe der Bequemlichkeit und der schnellen Meinung. Was interessiert ihn Steiner? Sein Maßstab ist, wovon er, Herzog „nicht viel hält“ und wem er „zustimmt“ oder „nicht zustimmt“. Das Wahrheitsgefühl, das er nicht kennt – weil es ja erst zu entwickeln wäre – davon hält er nicht viel, und damit ist alles gesagt. Offenbarung der eigenen Selbstüberzeugtheit und spirituellen Faulheit...

Antipathie gegen die Wahrheit und das Sich-auf-den-Weg-Machen

Ein anderer Blogger schreibt:

S. Birkholz – 06.02.2017 22:39
14x das Wörtchen 'muß' in diesen paar Steinerzitaten...

Ein weiteres typisches Selbstzeugnis der faulen Seele. Hier offenbaren sich die heftigen Spötter gegen alles, was mit einer inneren Entwicklung zu tun hat. Birkholz zählt regelmäßig auch in meinen Aufsätzen das Vorkommen bestimmter Worte. Die Antipathie seiner Seele gegen solche Worte ist wiederum seelisch mit Händen zu greifen. Das hochmütige Ego scheut das Wörtchen „muss“ wie der Teufel das Weihwasser. Dabei beschreibt Steiner nur, was notwendig ist, damit die Seele von neuem eine Weihe findet, die sie durch die Menschheitsgeschichte verloren hat.

Die Seele ist heute das von Hochmut und Flachheit durchtränkte Ego – und in ihr leben Urteile über Urteile, sie weiß ganz genau, wovon sie „etwas hält“ und wovon nicht. Was interessiert sie ein Eingeweihter in die Mysterien der Seele und des Geistes? Soll der doch bleiben, wo das „müssen“ wächst... Die moderne Ego-Seele muss nichts außer sterben. Und das tut sie fleißig... Sie stirbt mit jedem neuen Erguss ihres Hochmutes und Spottes. Sie bildet sich unendlich viel ein auf ihre Schein-Individualität – und verliert nach und nach alles, was sie an letzten Resten noch hat.

Ja, Steiner und seine „muss“-Sätze... Die Seele ist ja frei. Sie muss nichts. Nur wenn sie die Liebe zur Wahrheit kennenlernen will, die tiefen Erlebnisse der Seele, die ihr möglich wären, wenn sie sich auf einen bestimmten Weg machen würde – dann müsste sie sich auf diesen Weg auch wirklich machen. Aber das will sie nicht, und das braucht sie nicht. Steiner hat nie gesagt „du musst“. Er hat nur immer wieder beschrieben, was „man“ muss, wenn – wenn man etwas Bestimmtes erreichen möchte. Wenn aber nicht einmal verstanden wird, was dieses Bestimmte wäre – ja, dann hat die moderne Seele freies Feld für ihren Spott. Steiner bietet ihr reichlich – sie braucht ihre Pfeile nur abzuschießen.

Faule, von oben herabblickende Urteile...

Ein weiterer Blogger, mischa, spricht von einem „Schwelgen“, wo von Widersachern und von innerer Entwicklung die Rede ist. Der Anthroposoph schwelgt also im Idealischen und sieht sich genussvoll umkreist von Widersachern, von denen er aber frei ist.

mischa – 06.02.2017 13:08
Doch, es ist die Hingabe an das "Schwelgen" in dem, "was sein könnte", in dem "was wäre wenn", und auch das meditative Entzücktsein in der inneren Anschauung sehr idealistischer Gedanken, die "erhabene Gefühle" erzeugen, auch das erhabene Gewühl einer "Bescheidenheit: Seht, ich bin nur der Mittler!" Da lockt Luzifer. Wir können das "Summum Bonum", die Wesens-Versammlung all der (auch oft) luziferische "Erhabenheit" vermittelnden Gedanken doch gar nicht alle (heute gar!) umsetzen. Wir würden krank. [...]

Auch hier spricht wieder die Unfähigkeit, die reinen Gedanken überhaupt nur nachzuvollziehen – Unfähigkeit oder schlichter Unwille. Letztlich ist es auch hier wieder die Faulheit und die Antipathie gegen eine solche ernst gemeinte innere Entwicklung. Dazu kommt dann die Behauptung: „Wir würden krank“. Aus der Faulheit geht die Lüge hervor. Die Faulheit steckt schon in der Übertreibung: das „summum bonum“! Wir wäre es, sich bescheiden und demütig überhaupt erst einmal auf den Weg zu machen? Ach ja, Bescheidenheit wäre ja auch wieder nur luziferisch. Mit allen Mitteln der Verdrehung und Hin-und-her-Wendung wird hier jedes Ernstnehmen eines inneren Entwicklungsweges verspottet. Von Wahrheitsliebe ist hier nichts zu finden. Es wird nur kritisiert – und der Wahrheit wird kein Weg gelassen. Es wird von „Schwelgen“ gesprochen – Luzifer. Bescheidenheit – auch immer nur scheinheilig, Luzifer. Wie sehr ist der Schreiber hier Opfer seiner eigenen Vorurteile und Antipathien?

Der innere Entwicklungsweg hat viele Feinde. Die größten sind Hochmut und Faulheit. Antipathie, Spott, Vorurteile, Unverständnis und anderes mehr sind nur Folgen und Erscheinungsformen dieser beiden Hauptfeinde.