07.02.2017

Die faule Schnecke

Eine ernste Glosse über das Dilemma des Geisteslehrers.


Inhalt
Das Problem
Der Versuch
Nachwort


Das Problem

Auf dem Eggert-Blog entbrannte (zum wohl x-ten Male) eine kurze Diskussion über das Wörtchen ,muss’. Jener Blogger, der am gewissenhaftesten solche und andere Worte zählt und sich am heftigsten dagegen – wie auch gegen Steiners ganze Art – auflehnt, schrieb:

Jede moderne Psychologie und Pädagogik (auch im anthroposophischen Umfeld) hat heute(und wahrscheinlich ist das heute auch einfach anders als zu Steiners Zeiten) erkannt, dass man mit dem muß nur das Gegenteil von dem erreicht, was man erreichen möchte.
Anstatt echter Fortschritte erzeugt man Spasmen und Blockierung, die jedes Weiterschreiten und jede Entwicklung verunmöglichen.
Der Ansatz von heute ist es, den Lernenden dort abzuholen/aufzusuchen, wo er gerade steht und den nächsten Schritt gemeinsam mit ihm nach seinen Möglichkeiten zu entwickeln.
Die Wahrheit ist etwas wie eine hochdynamische Matrix und kein logischer Schaltkreis (I/O):
Darum handelt es sich weder um ein 'moralisches Müssen' (Imperativ), noch um eine 'Wenn-Dann-Beziehung' - am ehesten trifft wohl dieses 'Herantasten' by try and error im Sinne der Faltermeditaion zu:
„Das Haupt ist wie eine Frucht, das Herz wie ein leuchtender Kelch. Wir sollen unser Haupt bis ans Herz als selbstleuchtend erleben. Wir sollen unser Denken erleben als Ätherorgan, das sich herantastet an alles, was es erfassen soll. Der Okkultist unterscheidet sich vom Nicht-Okkultisten dadurch, daß er sich dieses Organs als ausstrahlend im Ätherischen bewußt ist. Wir sollen uns erleben wie eine Schnecke, die ihre Fühlhörner ausstreckt. Das Denken muß ein Tasten werden!“

Tatsächlich – dieser Blogger hat eine gewaltige Blockade, weil er dreizehn Mal (!) das Wörtchen ,muss’ in wenigen Sätzen von Rudolf Steiner fand und ertragen musste, und nicht ertragen konnte. Ob wir ihm wohl noch helfen können? Wir werden sehen...

Der Versuch

Lieber Herr Birkholz, heute haben wir unsere nächste Therapiestunde. Wir haben uns wieder vorgenommen, Sie dort abzuholen, wo Sie gerade stehen. Wo stehen Sie gerade, Herr Birkholz?

Aha, ich verstehe, Sie wollen nicht „müssen“. Gut, darauf können wir selbstverständlich eingehen. Sie „müssen“ nicht – das kann ich Ihnen versprechen. Ist Ihnen dann wohler? Ja? Gut, dann wollen wir für heute beginnen...

Also, sehen Sie, wir wollen Ihnen hier ja einen inneren Entwicklungsweg nahe– Wie bitte? Nein – nein, lieber Herr Birkholz, Sie müssen nicht! Bitte regen Sie sich doch nicht auf. Sie müssen nicht! Nein. Ja – ich verspreche es. Gut. Können wir dann weitermachen? Gut. Vielen Dank, Herr Birkholz.

Also – ich würde vorschlagen, wir machen eine kleine Entspannungsübung. Das hat Ihnen doch in der Vergangenheit immer gut getan, nicht wahr? Also Sie legen sich da auf diese bequeme Liege – ja, genau so. Und jetzt denken Sie einfach immer den Satz „Ich muss nicht“ – bis er Ihnen ganz zur inneren Überzeugung wird.

Wie bitte? Das ist er schon? Nun, ich würde vorschlagen, Sie machen es trotzdem noch einmal. Es könnte sein, dass Sie es mit dem Satz „Ich will nicht“ verwechseln. Machen Sie es also noch einmal so wie die letzten Male – und dann können wir immer noch weitersehen. Ja? Aber immer mit der Entspannung dabei. Gut. Ja – ja, so ist es gut.

So, jetzt wollen wir weitermachen. Also, sehen Sie, dieser innere Entwicklungsweg – Sie wissen ja, Sie müssen nicht. Aber wir wollen jetzt einmal gemeinsam überlegen, wie wir Ihnen diesen Weg näherbringen können. Und dafür haben wir uns etwas überlegt. Wie wäre es, wenn Sie erst noch einmal über Ihre Blockaden sprechen? Ich meine, einfach ein wenig sprechen – das lockert ja, das haben Sie doch schon gemerkt, nicht wahr? Also wir werden Ihnen jetzt einfach zuhören, und Sie erzählen ein wenig, ja?

Ah, ja, verstehe – also Sie wollen keine Spasmen und Blockierungen. Ja, ja – das verhindert natürlich jedes Weiterschreiten und jeden Fortschritt. Ja, keine Spasmen – und auch keine Blockierungen. Nein, versprochen. Sie müssen nicht – und nichts wird Sie blockieren. Wir holen Sie genau da ab, wo Sie stehen. Nein, keine Sorge! Keine Spasmen. Ja – nur echte Fortschritte, nur echte Fortschritte. Wir holen Sie vollkommen ab. Vollkommen!

Wir machen es jetzt einfach ein wenig spielerisch. Wir entwickeln jetzt spielerisch gemeinsam mit Ihnen den nächsten Schritt. Ganz nach Ihren Möglichkeiten. Ja, ganz spielerisch, Sie müssen nicht – und Sie werden sich angenehm unterhalten fühlen. Wie bitte? Try and error? Ja, gut, wir spielen jetzt ein wenig Try and error. Haben Sie denn das Bild mit der Schnecke und dem tastenden Denken verstanden? Versuchen Sie es einmal zu erklären – ganz spielerisch natürlich...

Ähm ... ja ... ich denke, das war ein guter erster Versuch. Ganz im Sinne von Try and error – ja... Gut, wir müssen Sie also noch woanders abholen. Hmm... Ja, ich denke ... ja, sehen Sie, also, nun ja, wir können ja spielerisch an das Ganze herangehen – und wir können diese ganzen ja wunderbar von Ihnen gefundenen Bilder hinzunehmen – hochdynamische Matrix und diese Dinge –, aber nur spielen können wir natürlich auch nicht. Das werden Sie verstehen, oder? Nein! Natürlich müssen Sie nicht – das wissen Sie doch, lieber Herr Birkholz. Und wir holen Sie ganz gewiss auch da ab, wo Sie sind und entwickeln auf jeden Fall gemeinsam mit Ihnen den nächsten Schritt. Aber ... sehen Sie ... es muss doch trotzdem ein Schritt sein? Ja? Das verstehen Sie? Gut – ja, das ist gut. Also das mit dem Schneckenfühlhorn – das müssen wir wohl uns als erstes noch einmal vornehmen.

Wie bitte? Oh – habe ich wirklich ,müssen’ gesagt! Das tut mir furchtbar leid, Herr Birkholz, das wollte ich nicht! Nein – das wollte ich wirklich nicht! Regen Sie sich doch nicht gleich so auf, Herr Birkholz! Nein – wir machen es wirklich spielerisch. Wir holen Sie ab, wirklich! Nein – es war wirklich ein Versehen. Sie brauchen jetzt nicht zu blockieren, Herr Birkholz, es besteht kein Grund dazu! Wir holen Sie ab – wirklich! Aber wo laufen Sie denn hin? Bleiben Sie doch bitte hier! Wollen Sie nicht einen winzigen Schritt vorwärts... Was? Sie sind schon wieder völlig blockiert! Aber lieber Herr Birkholz...

Ach – der arme Herr Birkholz. Jetzt ist er schon wieder weggelaufen... Er hat noch nicht einmal die Fühlhörner verstanden. Aber immer wieder verhält er sich wie die Schnecke – statt herauszukommen, rennt er davon. Wenn nur diese bösen, bösen Wörter nicht wären. Herr Kollege, das müssen wir noch mehr üben! Wenn Herr Birkholz noch einmal wiederkommen sollte, darf uns dies einfach nicht mehr passieren. Wir müssen unsere Sprache unter Kontrolle haben. Gewisse Dinge dürfen einfach nicht mehr passieren! Sonst werden wir Herrn Birkholz nie dort abholen, wo er steht. Aber – ehrlich gesagt – allmählich ist mir dieses verwöhnte „Rührmichnichtan“ so was von anstrengend geworden. Warum bemühen wir uns eigentlich überhaupt? Er will doch sowieso nicht! Lassen wir ihn doch Try and error spielen. Er kann sich doch seine eigene Sache zurechtbasteln. Die wirkliche geistige Welt wird er zwar nie finden – aber irgendeine postfaktische Pseudoesoterik wird schon herauskommen. Wenn es ihn glücklich macht...

Aber wie er sich immer aufregen muss... Was für Widerstände... Immer wenn er dieses böse, böse Wort hört, legt sich bei ihm etwas wie ein Schalter um. Und wie wenig er die Faltermeditation verstanden hat! Natürlich – wie sollte er auch, da, wo er steht? Aber dozieren kann er – dozieren! ,Hochdynamische Matrix’ – herrlich! Wenn er auch nur den kleinsten Teil davon einmal begreifen könnte... Aber dafür müsste er ... nein, wir lassen es jetzt, Herr Kollege. Es hat ja keinen Sinn...

Nachwort

Rudolf Steiner wollte nie Menschen „bespaßen“ und als guter „Freund“ und „Partner“ Menschen „abholen“, wo sie waren. Dafür gibt es die ganzen modernen Gurus, die voller „Liebe“ und „Verständnis“ ganz ohne Blockierungen die Menschen da abholen, wo sie in ihrer Bequemlichkeit und Verlorenheit arme Sinnsucher werden. Man schaue sich im Internet um – die Welt ist ja voll von Lehrern, Helfern und Entwicklungsbegleitern. Und nun hat es Steiner anders gemacht – böse, böse.

Man braucht nur den ganz frühen Steiner zu lesen – die „Philosophie der Freiheit“ reicht schon, um zu wissen, was für Menschen Steiner vorausgesetzt hat. Er hoffte auf Menschen, die Begeisterung für einen freien, geistigen, weiten Weg haben, für einen befreienden Höhenflug, bei dem der Mensch erlebt, was der Unterschied zwischen Leib und Geist ist, bei dem sich das Geistige wirklich vom Leib losreißt – um sich selbst zu ergreifen.

Er hat auf Menschen gehofft, die sich mutig in das Geistige hinaufwagen, die Kraft in ihr Denken hineingeben – und die dann kraftvoll erleben können, was für geistige Gesetze in jener Welt herrschen, die dann zu finden ist. Menschen, denen es keinen Stein aus der Krone bricht, dass etwas so ist und nicht so – und die hinnehmen können, was sie im Geistigen erleben, nicht nur hinnehmen, sondern die vollkommen leibfrei in der Gedanken-, in der Seelen-, in der Geisteswelt dann Begeisterung, Liebe, Schmerz erleben können – reine Empfindungen, die durch Hingabe an das in dieser Welt Erlebte aufsteigen, wenn die Abstraktheit und der Hochmut endlich weichen...

Steiner hat also auf Menschen mit Mut und Kraft, auf Menschen mit Demut und Hingabe gehofft – und nicht auf ewige Besserwisser, die von ,hochdynamischer Matrix’ und ,Abholen’ und ,gemeinsam die nächsten Schritte entwickeln’ dozieren – und einfach nur nicht bereit sind, sich auf einen Geisteslehrer einzulassen, der einem ganz selbstständige Schritte zugetraut hat – und trotzdem half, wo er konnte, wenn man ohne jeden Hochmut zu ihm kam.

,Müssen’ – das ist das rote Tuch, das Unwort des Jahrhunderts für alle, die vor Hochmut und Bequemlichkeit gar nicht mehr wissen, was überhaupt die Grundbedingung für jede innere Entwicklung ist.

Nun – jene Menschen waren schon damals Steiners Gegner. Daran hat sich auch nach hundert Jahren nichts geändert. Es gibt Menschen, die haben an allem etwas zu meckern. Warum sagt Steiner das so und so? Ich mag den Stil nicht. Kann er die Leute nicht abholen? Kann er nicht weniger Lehrer sein? Ich mag keine Lehrer. Ich will, dass ich der Wichtigste bin, und wenn er mir schon etwas beibringen kann, soll er mit mir gemeinsam die nächsten Schritte entwickeln. Ich will mich auch abgeholt fühlen – und nicht behandelt wie ein Geistesschüler. Ich will auf gleicher Stufe stehen – ja, ich will Steiner sogar beurteilen können. Eigentlich ... will ich von ihm gar nichts lernen! Ich will einfach nur kritisieren. Steiner ist doch überholt. Seit hundert Jahren. Das ist die Wahrheit – die hochdynamische, auch wenn ich sie mir ganz einfach gestrickt habe, aus meiner eigenen, hochmütigen Faulheit heraus.

Es gibt Menschen, die verstehen Steiner nach hundert Jahren weniger denn je. Und was sich, galoppierend, vor allem entwickelt, das ist der Hochmut... Und die damit einhergehende Verfinsterung der übersinnlichen Welt. Wo die eigene Seelenwelt durchtränkt ist von Urteilen, die aus der angedeuteten Seelenverfassung aufsteigen, ist kein Platz für das Erleben jener Welt, die erst erlebt werden kann, wenn der innere Weg wirklich beschritten wird. Verführerische Angebote von „Lehrern“ gibt es zuhauf. Steiner hat niemandem nach dem Mund geredet, ist den Leuten nicht hinterhergelaufen, hat nicht „geworben“, nichts versprochen – er hat einfach gebracht, was er zu bringen hatte, und gehofft, dass die wirkliche Sehnsucht in den Seelen noch wach genug ist.

Bei den meisten war der Hochmut viel größer – schon damals.