22.02.2019

Wenn selbst der IWF gezwungen ist, sich der Wahrheit zu nähern

Verkehrte Welt und ein bleibender Götze.


Inhalt
Der IWF mahnt Deutschland – und hat auf einmal Recht!
Der Bock wird Gärtner?
Das Goldene Kalb bleibt angebetet
Erkennt Eure Schuld


Der IWF mahnt Deutschland – und hat auf einmal Recht!

Angesichts der schwachen Konjunktur in Deutschland fordert nun selbst die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Christine Lagarde, höhere Steuern für die Reichen. So muss sie, die Chefin einer Organisation, die nie die Interessen der Ärmeren, sondern immer die des Kapitalismus schlechthin vertreten hat, der deutschen Regierung sagen:[1]

„Der deutsche Staat könnte mit mehr Geld einige sinnvolle Dinge anstellen, zum Beispiel in die Modernisierung der öffentlichen Infrastruktur investieren oder die Kinderbetreuung ausbauen. Das wären Projekte, die die Wachstumskräfte stärken und die Deutschland angehen sollte“

Also wohlgemerkt, nicht einmal, weil dies notwendig wäre – schon seit Jahrzehnten –, sondern weil es ,die Wachstumskräfte stärken’ würde. Nicht das, was der gesunde, beherzte Menschenverstand sagen würde, ist in diesen Kreisen Handlungsmotiv, sondern das abstrakte Dogma ,Wachstum’. Dies ist das goldene Kalb, um das getanzt wird und dem man opfert. Um das menschlich Sinnvolle und Notwendige geht es nur, wenn dadurch ,das Wachstum gestärkt’ wird. Hilft das Wesentliche dem Wachstum, wird es empfohlen – sonst wird es unterlassen, schlechtgeredet und verhindert.

Nach der Schule von John Maynard Keynes ist es sehr wichtig, dass der Staat in Phasen der Rezession für Nachfrage sorgt, damit es nicht zu einem Teufelskreis kommt, in der jeder sein Geld zusammenhält und die Wirtschaft ganz zusammenbricht (Depression). Dabei regen ,Umverteilungen von Reich zu Arm’ die Wirtschaft an, weil die Ärmeren Geld, das sie haben, auch vollständiger wieder ausgeben als die Reichen. Obwohl dies eine unmittelbar nachvollziehbare Wahrheit ist, ist gerade in Deutschland die ,keynesianische’ Denkschule kaum noch vertreten. Stattdessen gilt hier das hässliche Dogma des Kapitalismus: Fördere die Reichen und du hilfst allen.

Der Bock wird Gärtner?

Dieser Glaube an den ,Trickle-down-Effekt’ (der begünstigte Reiche schafft gnädig Arbeitsplätze, sodass die Ärmeren wie Hunde von den Brosamen des Herren ebenfalls leben können) war jahrzehntelang die weltweite Ideologie der kapitalistischen Hemisphäre. Sie steht hinter den stetigen Steuererleichterungen für die Reichen, durch die gerade auch in Deutschland Einkommen und Vermögen nunmehr schon jahrzehntelang von Arm nach Reich umverteilt wurden. In diesem Geist wurde von einer SPD-Regierung (!) dann auch ,Hartz IV’ geschaffen, wo für oftmals völlig unverschuldet arbeitslos gewordene Menschen jeder Euro, von dem sie monatlich existieren dürfen, hart umkämpft ist – einschließlich der selbst dann noch möglichen Sanktionen, wenn jemand nicht demütig alles hinnimmt, wozu er von nun an gezwungen wird. Steuerhinterziehung in Millionenhöhe scheint noch immer ein Kavaliersdelikt zu sein – aber ein Protest gegen die tägliche Demütigung am untersten Ende der Gesellschaft wird mit aller Härte bestraft. All dies geht aus von dem Dogma, dass ,der Reiche’ der eigentliche Segen unserer Gesellschaft ist.

In diesem Geiste hat immer auch der IWF gehandelt: ,The Rich first’. Anders ist es nicht zu erklären, dass die armen Staaten durch jahrzehntelangen Schuldendienst bereits ein Vielfaches von dem ,zurückgezahlt’ haben, was sie irgendwann in den 80er Jahren einmal als Kredite erhalten hatten. Auch hier fließt ein stetiger Strom von Arm zu Reich – ein Blutstrom, der sich immer lastender auf das Karma des reichen Nordens legt, der weiterhin ungerührt die Hand aufhält.

Doch nun – nach Jahrzehnten erfolgreicher Ausbeutung und erfolgreichen Säens des Giftes des genannten Dogmas – wird auf einmal ,erkannt’, dass man diese Ausbeutung der großen Mehrheit bis an den Anschlag getrieben hat:[1]

Forschungen des IWF hätten ergeben, dass „ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum und ein hinreichendes Maß an gesellschaftlicher Stabilität“ mit einer „exzessiven Ungleichheit dauerhaft nicht vereinbar“ seien, so Lagarde weiter.

Welch ein Armutszeugnis für die obersten Köpfe des weltweiten Finanzsystems! Dass man ,Forschungen’ hochbezahlter Experten braucht, um eine Binsenweisheit herauszufinden, die einem jedes Kind sagen könnte – und die mit allen Mitteln jahrzehntelang dementiert und unterdrückt wurde! Man könnte das jetzige ,Gutmenschentum’ einer Frau Lagarde geradezu als massive Geschichtsfälschung bezeichnen – denn ihre Vorgänger haben stets die Devise vertreten, dass es mit der ,Stabilität’ und dem ,nachhaltigen Wirtschaftswachstum des Nordens’ nicht vereinbar sei, dem darbenden Süden die unter dem Strich längst abbezahlten Schulden (aber leider waren es immer nur die Zinsen) irgendwann einmal endlich zu erlassen.

Das Goldene Kalb bleibt angebetet

Aber selbst jetzt offenbart sich das ,Gutmenschentum’ hinter der Maske des starren Dogmas – der absolute Diktator ist noch immer der Profit und der Gott ,Wirtschaftswachstum’. Wieder sagt sie: Wirtschaftswachstum ist mit exzessiver Ungleichheit nicht dauerhaft möglich. Man spüre dies bis ins Innerste! Sie sagt nicht, exzessive Ungleichheit sei schlecht, sie moralisch verwerflich, sei im 21. Jahrhundert nach Christus (wer war Christus nochmal?) ein absolutes Unding, ein zivilisatorischer Wahnsinn ... nein, sie sagt: eine exzessive Ungleichheit würde leider unser aller Gott (Wirtschaftswachstum) gefährden, und müsse deshalb in einer Ungleichheit umgewandelt werden, die zumindest soweit nicht-mehr-ganz-so-exzessiv ist, dass das weitere Wirtschaftswachstum wieder gesichert ist.

Mit anderen Worten: Ungleichheit ist sehr gut, solange die Reichen ungefährdet immer reicher werden können und dabei die Wirtschaft boomt. Ungleichheit ist dann nicht mehr gut, wenn die Wirtschaft zusammenbricht, weil die Armen fast nichts mehr zu essen haben, ihre Ausbeutung erkennen und beginnen, auf die Straßen zu gehen.

Lagarde möchte also Straßenunruhen verhindern. Sie möchte die Umverteilung von Arm zu Reich auf einem Level halten, der gerade noch unauffällig genug ist, damit die Ausgebeuteten ,stillhalten’. Und dass sie genug Geld in der Tasche haben, um ihr kleines Scherflein zum Wirtschaftswachstum beizutragen, weil die platzenden Geldspeicher der Reichen dies ja nicht immer tun (nur dann, wenn sie auf Kreuzfahrt gehen oder sich einen zweiten Geldspeicher bauen lassen).

Doch hören wir weiter, was Lagardes hochbezahlter Forscher-Stab sonst noch herausbekommen hat:[1]

Auch in Deutschland findet die Forderung nach einem höheren Spitzensteuersatz für Großverdiener zunehmend Anhänger auch in der politischen Mitte. Für Lagarde wäre das lediglich eine Rückkehr zu einer Belastungsverteilung, wie sie früher bestand. Untersuchungen des Währungsfonds hätten ergeben, sagte Lagarde, „dass in vielen Staaten – darunter in Deutschland – die Steuersysteme heute weniger stark umverteilend wirken als früher. Wir glauben: Man kann das ändern, ohne das Wirtschaftswachstum zu gefährden.“

Immer mehr Menschen auch der ,Mitte’ erkennen also, dass das giftige Dogma der vergangenen Jahrzehnte immer nur den oberen zehn oder dem oberen einen Prozent gedient hat – niemals ihnen. Infolge dieses Dogma ist zum Beispiel der Spitzensteuersatz immer weiter gesenkt worden und haben die Reichen diverse andere Lücken geschenkt bekommen, durch die sie dem Staat so wenig wie möglich Steuern zahlen mussten. Was in dem Zitat als ,Umverteilung’ bezeichnet wurde, ist ja nichts anderes als eine teilweise Verpflichtung der Reichen zur gemeinsamen gesellschaftlichen Aufgabe (Bau von Schulen, Erhalt von Straßen etc. etc. etc.).

,Umverteilung’ hat immer schon den Beiklang, als würde den Reichen etwas ,weggenommen’ werden. Dabei ist der Reiche nun einmal überproportional verpflichtet, sich an den gemeinsamen Aufgaben zu beteiligen. Was wäre dabei, wenn ein Multimillionär mit der Hälfte seines Vermögens zu diesen Aufgaben beiträgt? Es bleiben ihm noch immer Millionen. Die wichtigste Tatsache aber ist, dass überhöhte Einkommen immer schon auf ungerechte und Ausbeutungsprozesse des übrigen Teils der Gesellschaft zurückgehen und nur dadurch möglich sind. Die von Lagarde sogenannte steuerliche ,Umverteilung’ von ,Reich zu Staat’ macht also nur (zumindest teilweise) rückgängig, was sich der Reiche zuvor zugeschustert hat – dank Ausbeutungsprozessen, die ihm zufließen lassen, was anderen dadurch vorenthalten wird.

Nun aber muss selbst Lagarde kritisieren, dass diese Rückverteilung heute weniger stark ist als früher. Mit anderen Worten: Der Staat lässt immer mehr zu, dass die Reichen ihre Beute behalten dürfen. Und dazu sagt Lagarde: ,Wir glauben: Man kann das ändern, ohne das Wirtschaftswachstum zu gefährden.’

Und wie vorsichtig ist das noch immer ausgedrückt! Wir glauben! Wieso muss man etwas nur ,glauben’, was schon einmal Realität war? Und vor allem: Hatte sie nicht gerade erst gesagt, man muss es ändern, um das Wirtschaftswachstum zu retten? Dies zeigt, wie ungeheuer machtvoll das Dogma ist! Selbst Lagarde traut sich im Grunde überhaupt nicht, offene Worte zu finden – weil zu viele und zu wichtige Menschen noch immer das Dogma verteidigen, dass jede Bedrohung der Reichen-Begünstigung zu einem sofortigen Zusammenbruch der Wirtschaft führen würde. Selbst wenn alles darauf hinweist, dass die Wirtschaft zusammenbricht, weil immer weniger Menschen überhaupt noch nennenswerte Beträge haben, die sie jeden Monat für ihr Leben ausgeben können.

Erkennt Eure Schuld

Nirgendwo geht es bei Lagarde um die Frage nach einer auch nur ansatzweisen Einkommens- und Verteilungsgerechtigkeit. Nirgendwo geht es um die wahren, die eigentlichen, die wahrhaft menschlichen Fragen. Immer nur geht es um den Gott ,Wirtschaftswachstum’. Dieser darf nicht gefährdet werden. Nicht etwa geht es um Biografien unzähliger Entlassener oder Niedrigentlohnter oder wem auch immer – es geht immer nur um den Gott des Dogmas. Damit wird menschliches Denken völlig vernichtet – denn was hier denkt, ist unmenschlich. Es ist eine Intelligenz, die den gesunden Menschenverstand und sein Herz bewusst unterdrückt, weil sie sich der Herrschaft einer unmenschlichen Idee unterwirft.

Selbst das Foto von Lagarde zeigt ein Antlitz, hinter dem man sich sofort eine jahrzehntelange Dogmen-Predigerin vorstellen kann – die sich freiwillig diesen Dogmen des Kapitalismus unterworfen hat und sonst auch nie an diese führende Position gelangt wäre. Diese alte Generation jedoch ist der Totengräber einer menschlichen Zukunft – und sie hat Tag und Tag mehr Menschen und mehr Zukunft auf dem Gewissen. Die jungen Menschen von heute wissen sehr gut, wie verlogen und wie falsch die gesamte ,große Politik’ heute ist. Mit an führender Stelle rangiert hier ein IWF, der jahrzehntelang (unter US-Dominanz) führend war beim Ausstreuen des Giftes, der Religion von ,Profit’ und ,Wachstum’ – und der jetzt mit Hilfe hochbezahlter Wissenschaftler zu der Erkenntnis kommt, dass die Ausbeutung bis an eine Grenze gelangt ist, jenseits derer man sie schlecht weitertreiben könne, ohne den eigenen Gott zu gefährden.

Liebe Frau Lagarde und alle übrigen Götzendiener – wann kommt die Zeit, wo sie sich ihrer Schuld bewusst werden, der Folgen ihrer eigenen Taten durch so viele Jahrzehnte hindurch, und wann überlassen sie die Gestaltung der Zukunft den jungen Menschen, die viel weiser und viel menschlicher sind, als sie es je waren?


Quellen:

[1] Norbert Häring: Warum nun sogar der IWF ins Portemonnaie der Reichen greifen will. Handelsblatt, 20.2.2019.