09.09.2019

Waldorfschule – Therapie bei den Engeln?

30.08.2019

Ein Totalverriss in der ,Süddeutschen’ – und die notwendigen Fragen.


Inhalt
Waldorfpädagogik – handgestrickt vom Okkultisten?
Genauso an staatlichen Schulen möglich?
Was ist der Mensch?
Erste Station: Horoskope von Schülern
Zweite Station: Diagnosen nach Augenfarbe
Dritte Station: Begrüßung mit Magie
Primitivste Propaganda
Was tut die Waldorfbewegung jetzt?
Die Frage nach dem Menschenbild – überlebens-wichtig
Was ist Waldorfpädagogik?
Egomania oder höhere Fragen
Das eigentliche Wesen des Menschen


Waldorfpädagogik – handgestrickt vom Okkultisten?

Ausgerechnet und pünktlich zum 100-jährigen Jubiläum der Waldorfschule veröffentlicht die große Süddeutsche Zeitung einen Totalverriss geschrieben von einem Lehrer, der an drei Waldorfschulen unterrichtete.

Es ist ganz sicherlich kein Zufall, dass so etwas geschieht. Vielleicht hat man lange gesucht, bis man diesen Nicholas Williams fand, vielleicht hat er sich passenderweise angeboten und die Redaktion sagte sich: ,Daraus machen wir eine sensationslüsterne Story’. Denn das ist sie. Alle Elemente eines abendfüllenden Dramas mit Chips und Klubcola gehören dazu – ich zitiere: ,Waldorf richtet Tag für Tag Schaden an’, ,Aber die tolle Arbeit leisten sie nicht wegen, sondern trotz der Anthroposophie’, ,astrologische Berechnungen’, ,was für ein schräger Verein’, ,zwischen den letzten beiden Inkarnationen nicht genügend Zeit zur Therapie bei den Engeln gehabt’ – und so weiter.

Mit anderen Worten: Schlimmer als Trump und Johnson zusammen. Oder?

Aber gehen wir dem Artikel auf den Grund.

Der Journalist Bernd Kramer beginnt seinen Artikel mit der Feststellung, dass kritische Töne jetzt zum Jubiläum ,der vom Hellseher und Okkultisten Rudolf Steiner im Schnellverfahren ersonnenen Pädagogik’ ,eher selten zu vernehmen’ seien. Denn sogar Baden-Württembergs Ministerpräsident Kretschmann nannte die Waldorfschulen soeben ,eine der erstaunlichsten und erfolgreichsten deutschen Bildungsideen des letzten Jahrhunderts’. Und die ARD-,Tagesthemen’ lobten die Pädagogik mit einem Film, dessen Autorin aber ,selbst äußerst eng mit der Waldorfszene verbandelt’ sei. Gegen diesen kollektiven Wahn muss also Kramer angehen – und die Bezeichnungen ,Hellseher und Okkultist’ lassen Otto Normalbürger schon einmal angenehm erschauern. Dann noch ,im Schnellverfahren ersonnen’ hinzufügen – was so viel bedeutet wie ,handgestrickt’ – und schon ist das Bild wieder geradegerückt: Die Waldorfpädagogik ist doch nur der Schnellschuss eines Okkultisten. Aha – das bedeutet also Kretschmann ist verrückt oder blind?

Aber weiter. Jetzt kommt Williams ins Spiel. Er war nicht nur Lehrer an Waldorfschulen in Baden-Württemberg, sondern war auch selbst Waldorfschüler (hat dort sein Abitur nachgemacht), seine Mutter war Lehrerin an einer Waldorfschule (,Mit der Esoterik hat sie sich irgendwie arrangiert’), und doch beginnt er seine Kampagne erst jetzt. Gleich zu Anfang sagt er:[1]

Es geht in den Waldorfschulen viel esoterischer zu, als ich mir das früher je gedacht hätte. Waldorf hat den Charakter einer Sekte, und mittlerweile bin ich überzeugt: Waldorf richtet Tag für Tag Schaden an.

Warum das? Das wird erst mal nicht gesagt. Aber es ist wichtig, erst einmal einen Pflock in der Erde zu haben, das Unterbewusstsein der Leser zu massieren und die Hauptbotschaft zunächst ohne Begründung einzubleuen – um so nachhaltiger bleibt sie haften. Die nachgelieferte Begründung bestätigt dann nur das, was bereits ganz grundlos eingehämmert worden ist. Sie kann dann noch so hanebüchen sein, sie wird wirken. Machen wir ein kleines Gedankenexperiment. Ich sage: ,Herr Müller hat es so sehr mit dem Okkultismus, wie ich es nie gedacht hätte. Das ist wie in einer Sekte. Abstrus und gefährlich.’ Und später dann flechte ich ein: ,Er schaut immer so komisch, wie mit einem Silberblick, und außerdem geht er immer mit dem linken Fuß zuerst aus der Tür, immer, du kannst es nachprüfen!’ – Wem wird da Herr Müller nicht von Anfang an zutiefst suspekt sein? Mit ähnlich phantastischen Methoden hat man seit Jahrhunderten Unterstellungen betrieben. Man hat Hexen verfolgt, Juden, Kommunisten, Ausländer – und nun also die Waldorfschulen.

Aber vielleicht hat Williams ja mehr in der Hand.

Genauso an staatlichen Schulen möglich?

Aber man höre und staune, zuerst kommt er mit dem Positiven. Das ist natürlich wieder eine erfolgreiche Taktik: Zuerst das Positive erwähnen, um ausgewogen zu erscheinen, aber möglichst kurz und knapp, am besten in einem Satz kurz ,drüberwischen’ wie übers Smartphone. Wie also heißt es weiter? Williams wird wie folgt zitiert:[1]

Ich will nicht sagen, dass alles Blödsinn wäre, was die Waldorfschulen machen. Theaterprojekte, Kunst und Gartenbau sind gut, aber das wäre genauso an staatlichen Schulen möglich, ohne den ganzen ideologischen Ballast. Vor allem unterrichten selbstverständlich auch an den Waldorfschulen Menschen, die davon beseelt sind, jungen Leuten etwas beizubringen, die unglaublich gebildet und belesen sind und als Lehrer begnadet. Ich habe viel von diesen Menschen gelernt und von ihnen profitiert.

Hört, hört! Es ist ,nicht alles Blödsinn’. Das ist ja wunderbar, dass Williams sich zu diesem Zugeständnis herablässt, oder soll man sagen – durchringt? Nein, wahrscheinlich meint er es ehrlich, so wie er es sagt: Es ist nicht alles Blödsinn. Das große lauernde ,Aber’ übergehen wir einmal kurz, denn sofort in dessen Schiene zu rutschen (und dort dann angenehm-erschauernd weiterzugleiten), ist ja gerade die böse Absicht des Autors. Wir folgen ihr also nicht und verharren noch bei seinem immerhin drei Sätze anhaltenden Lob. Denn sogar dessen Einschränkung ist aufschlussreich und entlarvend.

,Das wäre genauso an staatlichen Schulen möglich, ohne [...]’. Möglicherweise wäre es möglich – aber warum ist es nicht wirklich, warum ist es an Staatsschulen nicht vorhanden? Oder warum sagt Williams ,wäre’? Offenbar fehlt es dort – ist Kunst auf ein Minimum reduziert, existiert Gartenbau überhaupt nicht und fristen ,Theaterprojekte’ allenfalls an einzelnen Schulen ein Sonderdasein, die möglicherweise allein deswegen schon fast wieder als ,okkult’ gelten?

Würde Williams tiefer blicken, sähe er, dass das, was abstrakt ,genauso an staatlichen Schulen möglich’ wäre (!), es eben real durchaus nicht ist. Es ist nicht möglich. In Einzelfällen ja, aber Ausnahmen bestätigen die Regel. In der Regel ist es nicht möglich und geschieht es nicht, weil – die Staatsschulen ebenso einer Ideologie unterliegen, wie es den Waldorfschulen vorgeworfen wird. Und die Staatsschul-Ideologie, die geradezu sektenhaft immer und immer wieder realisiert wird, lautet: Möglichst viel Stoff. Vorbereiten auf den Konkurrenzkampf des unmenschlichen Kapitalismus. Optimierung der Humanressourcen. – Denn die schlimmste Ideologie ist immer die, die man gar nicht mehr als solche bemerkt und reflektiert.

Es gibt nur Weltanschauungsschulen – und die Weltanschauung der Staatsschulen ist so trostlos und menschenunwürdig wie nur irgendetwas. Die Staatsschule spielt Vogel Strauß: Kopf in den Sand. ,Wir tun so, als gäbe es keine Weltanschauung. Wir fühlen uns nicht verantwortlich. Wir unterrichten die Schüler bloß. Wir vermitteln Stoff – und nach uns die Sintflut.’ Warum wohl gehen SchülerInnen jetzt massenhaft für ,Fridays for Future’ auf die Straße? Ganz sicher nicht von Staatsschullehrern ermutigt. Sondern weil sie selbst merken und erkennen, dass die bloße Vorbereitung auf den Weltmarkt ein Irrsinn ist, weil die Erwachsenen ,nur Scheiße machen’. Die SchülerInnen sind also heute bereits weiter als es die Staatsschulen je waren – und auch künftig sein werden.

Was ist der Mensch?

Die Waldorfschulen haben, genauer gesagt, Rudolf Steiner hat das schon vor einhundert Jahren erkannt: Wir können nicht weitermachen wie bisher. Damals hatte die Welt ihren ersten Weltkrieg hinter sich. Hätten alle Deutschen eine Waldorfschule besucht, hätte es den zweiten nie gegeben, wäre zumindest ein Hitler nie an die Macht gekommen. Längst führt die Welt den dritten, nun wirklich globalen Krieg – gegen die gesamte Schöpfung. Die Schülerinnen erkennen das, sogar an den Staatsschulen. Aber nicht wegen der Arbeit dort, sondern trotzdem. Das ist die Wahrheit.

Demgegenüber ist es armselig, wenn Williams nach seinem Kurzlob sagt: ,Aber die tolle Arbeit leisten sie nicht wegen, sondern trotz der Anthroposophie.’ Denn was die Anthroposophie ist oder nicht ist, wird in dem gesamten Artikel nicht klar – wird vielmehr hoffnungslos verschleiert und verleumdet. Folgen wird Williams weiter.

Er gesteht, dass er beim Besuch eines Gymnasiums ,vermeintlich Besseres zu tun’ hatte als zu lernen. Er habe ,Lust auf Revolution und Musik’ gehabt und mit sechzehn die Schule für einen Freiwilligendienst abgebrochen. Auf welche Art von Revolution er Mitte der 90er Jahre Lust hatte, sagt er nicht. Aber nun ist er mit seinem Artikel ja doch ein kleiner Revoluzzer geworden, nicht wahr? Obwohl er im Übrigen ein braver Bürger geworden ist, der reuig erkannt hat, dass alles andere als ,Lernen’ eben doch nur vermeintlich besser ist, in Wirklichkeit aber das staatliche Abitur das Nonplusultra ist, das man eben braucht. Jeder muss dieser Norm gehorchen, sonst ,wird aus ihm nichts’, wie unsere Altvorderen immer sagten.

Durch seine Mutter kam Williams für das Abitur dann also an die Waldorfschule, wo sie unterrichtete, weil ihr englischer Studienabschluss in Deutschland nicht anerkannt war und sie daher nicht an eine Staatsschule gehen konnte. Und zunächst bekennt Williams jetzt erst einmal:[1]

Ich fand es toll da. Die Schule strahlte etwas leicht Geheimnisvolles aus. Das fängt schon mit dem Gebäude an: die verwinkelte Architektur, die etwas anderen Formen, die in verschiedenen Farben gestrichenen Klassenzimmer. Die Schule feierte Feste wie den jährlichen Martinsmarkt im November. Das waren schöne Gerüche, Farben und Eindrücke.

Bleiben wir kurz dabei. Unsere schnelllebige, materialistische, leistungsorientierte Kultur hält all dies überhaupt nicht mehr für wesentlich. Allenfalls für nostalgisch oder sogar verschroben. An den Staatsschulen wird darauf jedenfalls ebenso verzichtet wie auf Kunst (außer Minimalprogramm), Gartenbau oder Theaterprojekte. Ist die Ideologie der reinen Stoffvermittlung erstmal etabliert, wirkt sich dies auf alles aus: Gebäude ,quadratisch, praktisch, gut’, man erinnere sich an die lähmenden Oberstufenzentren, in denen sich der Mensch völlig verlor. Überhaupt geht in den toten Schulgebäuden der eigentliche Mensch fast immer verloren. Schöne Farben? Schöne Architektur? Verzichtbar, gestrichen. Und dies ist Teil der Ideologie – dass schon hier die Frage nach dem Wesentlichen beginnt, wird überhaupt nicht gesehen. Die Ideologie der Staatsschule und der Staatsschulpädagogik ist Blindheit. Blindheit für das Wesen des Menschen, nach dem ja gar nicht gefragt wird. Es ist ja Teil dieser Ideologie, nicht mehr zu fragen.

Anders ausgedrückt: Jede Frage nach dem ,Wesen des Menschen’ wird ja heute als ,Ideologie’ gefürchtet. Also keine Fragen mehr stellen! Dass dies aber nichts anderes als eine neue Ideologie ist, wird nicht gesehen. Dass man damit geradewegs in den Materialismus und über diesen in den Untergang hineinschlittert, wird nicht gesehen. Es wird auch nicht gesehen, dass der Deutsche Idealismus mit Schiller, Humboldt und anderen sehr wohl nach dem Wesen des Menschen gefragt hat – und hier tiefe Antworten hatte, die heute alle wie altes Badewasser in den Gulli gekippt werden, obwohl man behauptet, man würde einiges davon noch hochhalten. Heuchelei und Lüge!

Der Deutsche Idealismus wurde gründlich entsorgt – und gerade dies ist die neue Ideologie. Der Deutsche Idealismus war der Wahrheit des Menschenwesens ganz nahe – und die heutige blinde Arroganz, die sich ,Weltanschauungs-Neutralität’ nennt, ist ihr ferner als jemals. Der Mensch, der dazu berufen ist, sein eigenes Wesen zu erkennen, steckt den Kopf in den Sand und sagt: ,Ich weiß nicht, was ich bin’. Und die Staatsschulen stecken den Kopf in den Sand und fahren täglich ihre Ideologie: Wir vermitteln Stoff – und Punkt. Und die SchülerInnen gehen auf die Straße und rufen: Ihr klaut uns unsere Zukunft. Der Mensch, solange er sein Wesen nicht begreift, kann nur vernichtend wirken. Die SchülerInnen spüren das – und die Staatsschulen machen weiter wie bisher. Ihre Ideologie heißt ,Blindheit’. Blind weitermachen, als wären nicht längst essenzielle Fragen dran, die auch die Frage nach dem Wesen des Menschen unbedingt einschließen.

Erste Station: Horoskope von Schülern

Doch kehren wir nun zu Williams zurück – und dem zum Jubiläum der selbst von Kretschmann und der ARD gelobten Waldorfschulen. Williams kolportiert nun, dass einer der Lehrer seiner Abi-Nachhol-Schule die genauen Geburtszeiten der Schüler erfragte und damit astrologische Berechnungen anstellte. Man glaubt es kaum – aber dies wird offenbar als ein repräsentativer Eindruck für die Waldorfschule hingestellt.

Dennoch sagt er, er hatte ,ganz gute Erinnerungen’, also war dieser Lehrer doch offenbar auch in der Erkenntnis von Williams eine seltsame Ausnahme. Merkwürdig nur, dass er allein ihn und hier allein dieses eine erwähnt. ,Ein Schelm, wer Böses dabei denkt’. Vielleicht begegnet einem ja auch an der Staatsschule ein Horoskop-Liebhaber, der alkoholisiert in den Unterricht kommt und bevorzugt Schülerinnen belästigt? Und schon hätten wir ein erstes Urteil über die Staatsschulen...

Aber weiter. Als also Williams ,vor etwa zehn Jahren’, also mit etwa siebenundzwanzig (er ist Jahrgang 1981) dann endlich mit dem Lehramtsstudium fertig war, hat er seine Mutter für einige Wochen an derselben Waldorfschule vertreten. Dabei hat er sich ,gefreut, ein paar meiner alten Lehrer wiederzusehen’ (hier also der Beweis, dass dies auch aus seiner Sicht gute Lehrer waren). Als nächstes sagt er: ,Esoterisches habe ich nicht viel erlebt.’ Vergleichen wir dies einmal mit seinem früheren Satz: ,Es geht in den Waldorfschulen viel esoterischer zu, als ich mir das früher je gedacht hätte.’ Dies lässt nur drei Schlüsse zu: Entweder hätte Williams gerne Null Esoterik (da schon ,nicht viel’ ,zu viel’ ist) – oder er schreibt, wie der Tag lustig ist – oder er generalisiert am Ende da, wo es sich um Einzelfälle handelt. Wir werden noch sehen.

An dieser Schule war nur (!) eines für ihn ,befremdlich’, nämlich:[1]

[...] dass eine Debatte unter den Lehrkräften damit beendet wurde, dass jemand Rudolf Steiner zitierte. Es ging um irgendeine allgemeine gesellschaftliche Frage, gar nicht mal um die Schule. [...] Ich habe das für den persönlichen Spleen dieses einen Kollegen gehalten.

Seltsamerweise schreibt er an der ausgelassenen Stelle: ,Aber Steiner hielt sich ja für einen Gelehrten auf allen Gebieten. Damals habe ich noch nicht geglaubt, wie waldorftypisch diese Steiner-Hörigkeit ist.’

Hören wir hier eine Art Neid heraus? Oder gar den Hochmut, es nun seinerseits noch besser als Steiner zu wissen? Oder nur den Frust, dass ein Steiner-Zitat eine ,Debatte beenden’ kann? Vielleicht war das Zitat ja so inhaltsreich, dass dem wirklich nichts entgegengesetzt werden konnte? Vielleicht hätte das Zitat ja theoretisch auch von jemand anderem stammen können und wäre trotzdem – wahr gewesen? Und jeder, der weiter debattiert hätte, hätte sich irgendwie ins Unrecht gesetzt oder sogar lächerlich gemacht?

Aber nein, die obige Situation soll und muss ganz allein dazu dienen, Steiner als angeblichen ,Guru’ zu stilisieren, vor dem alle auf einmal kleinlaut schweigen. Und dies, obwohl Williams in der Situation ganz eindeutig spürte, dass es nur der ,Spleen’ dieses einen Kollegen war. Vielleicht haben die anderen ja innerlich müde abgewunken und gesagt: ,Lass ihn doch’. Vielleicht war die Frage einfach nicht wichtig genug. Vielleicht wollten sie nach Hause. Vielleicht wollten sie mit pädagogischen Fragen weitermachen. Vielleicht, vielleicht – nichts von alledem wird an diesen paar Sätzen klar. Nur die böse Absicht Williams, die atmosphärische Urteile vorbereitet, für die keinerlei innere Stützen existieren. Das ist weder Wissenschaft noch sorgfältiger Journalismus, sondern simpelste Propaganda.

Zweite Station: Diagnosen nach Augenfarbe

Williams nächste Station: Nach Schulzeit und ersten Vertretungswochen nun eine zweite Waldorfschule. Williams hat mittlerweile seine Promotion hinter sich, und eine Bekannte wies auf eine lehrersuchende Waldorfschule hin.[1]

Ich dachte: Warum nicht? Ein bisschen Waldorferfahrung hatte ich ja schon und ich war mir unsicher, ob ich wirklich ins staatliche Schulsystem wollte.

Die bisherige Waldorferfahrung hat ihn also noch immer eher ermutigt – und zugleich war er sich unsicher, ob er ins ,staatliche Schulsystem’ wolle. Warum wohl? Da hatte er also noch echte, lebendige Empfindungen von dem, was dort so schreiend fehlt und falsch läuft. Aber dies wird eben nur mit einem einzigen Nebensatz angedeutet.

Er setzt fort:[1]

An dieser Schule habe ich dann so richtig gemerkt, was für ein schräger Verein das ist.
Mit einem Mal saß ich in sogenannten Kindesbesprechungen. Da hocken zehn bis fünfzehn Waldorflehrer zusammen und beratschlagen lang und ausführlich, was mit einem speziellen Kind los sein könnte. Über eine Schülerin hieß es zum Beispiel: Dass sie blonde Haare und braune Augen habe, erzeuge eine innere Spannung in ihr. Sie habe zu viel Schwefel im Körper und brauche spezielle Bewegungsübungen und homöopathische Mittel [...]. [...]
In einem anderen Fall ging es um ein Kind, das etwas hibbelig war. Im Laufe des Gespräches war eine Kollegin sich schließlich sicher: Dieses Kind ist deswegen so unruhig, weil es zwischen den letzten beiden Inkarnationen nicht genügend Zeit zur Therapie bei den Engeln gehabt hätte. Auf so etwas bauen die pädagogische Diagnosen auf! [...]
Widersprochen hat den Annahmen in den Kindesbesprechungen keiner. Es gibt an der Waldorfschule eine informelle Hierarchie, und diejenigen, die besonders anthroposophisch überzeugt sind, geben den Ton an.

Hier sind wir an einem wesentlichen Punkt. Aber zuerst noch die Sprache von Williams: ,was für ein schräger Verein das ist’, ,da hocken ... zusammen’ – Williams führt jetzt bewusst eine saloppe bis übersaloppe, verächtliche Sprache ein, um das Sektenmäßige auch ganz klar einzubleuen. Denn wer ,hockt’ normalerweise ,zusammen’? Vielleicht irgendwelche bekifften Hippies oder ,Wilde’ aus dem Urwald? Irgendetwas derart Primitives will Williams suggerieren.

Dennoch betont selbst er, dass die abstruseste Diagnose eine Kollegin hatte, selbst wenn es angeblich unwidersprochen geblieben ist. Aber auch ,unwidersprochen’ muss nicht bedeuten, dass am Ende irgendjemand aus dem übrigen Kollegium das von dieser einen Person Gesagten wirklich ernstgenommen hat. Vielleicht hat man es etwas hilflos über sich ergehen lassen. Die Frage ist, was man mit diesem einen Kind dann tatsächlich gemacht hat, wie man ihm versucht hat zu helfen. Darüber lässt Williams nichts verlauten. Für ihn reicht die Sensationspresse, das Klatschblatt-Niveau.

Williams fährt fort:[1]

Aber es gibt immer ein paar Leute, die wie ich innerlich die Hände über den Kopf zusammenschlagen und sich nur denken: Ach, du meine Güte! Aber die bleiben meistens still. Meist gehen sie irgendwann. Auch ich habe nichts gesagt, ich war ja neu und immerhin bauen die Kollegen ihre ganze Lehreridentität auf solchen Vorstellungen auf. Viele mochte ich ja menschlich.

Hier haben wir nun also ganz offen den ganz normalen Schweinehund auch eines Williams. Und ach, wie bequem ist es, auch nichts zu sagen und Jahre später den ganzen ,schrägen Verein’ ,zusammenzuscheißen’. Welche Courage! Welcher Mut! Und er versteckt sich dahinter, dass er ,ja neu’ war – und sogar dahinter, dass ,die Kollegen ihre ganze Lehreridentität auf solchen Vorstellungen aufbauen’ würden. Wahrscheinlich wäre er, wenn er etwas gesagt hätte, wegen ,Identitätsvernichtung’ hinter Gitter gekommen! Oder er hätte sich lebenslang Vorwürfe machen müssen, dass plötzlich reihenweise identitätslose Lehrer in der Psychiatrie gelandet wären, wenn er einmal den Mund aufgemacht und einiges hinterfragt hätte!? Oder vielleicht war es nur das ganz normale Trittbrettfahren und Augen-Verschließen. ,Viele mochte ich ja menschlich’.

Es ist verachtenswert, zu schweigen und sich hinterher aus der Verantwortung zu stehlen und auf die anderen einzuschlagen. Williams schlägt auf die ,informelle Hierarchie’ ein, aber er hat sich ihr beschämend ebenfalls bedingungslos unterworfen. Und nun führt er die große Lippe? Im Nachhinein bläst er sich zum Generalinquisitor auf, wo er mittendrin ,so klein mit Hut’ war! Und woher will er denn wissen, wie viele Kollegen innerlich die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen haben?

Dritte Station: Begrüßung mit Magie

Williams entscheidet sich nun auf einmal ,schnell’ dafür, ,doch ein Referendariat an einer staatlichen Schule zu machen.’ Nach dreizehn Monaten muss er ,aus gesundheitlichen Gründen abbrechen’. Warum wohl? Vielleicht hat es nichts mit der Staatsschule zu tun, sondern nur mit Williams, vielleicht auch mit der Staatsschule. Man kann annehmen, dass auch das letztere eine Rolle gespielt hat. Und der Beweis folgt auf dem Fuße:[1]

Anschließend bin ich wieder an eine Waldorfschule gegangen. Man kann sich fragen, warum ich mich noch einmal darauf eingelassen habe. Vielleicht habe ich die Waldorfschule in einem milderen Licht gesehen, nachdem ich erlebt habe, was alles im staatlichen Schulsystem schiefläuft. Außerdem stand diese Schule im Ruf, weniger esoterisch zu sein, und ich sollte nur in der Oberstufe unterrichten.

Man lasse sich das einmal auf der Zunge zergehen: Trotz mittlerweile auch schlechter Erfahrungen geht Williams zurück an eine Waldorfschule. Das kann doch nur heißen: Die Staatsschule ist noch deutlich schlechter! Ja, sie hat ihn nach nur gut einem Jahr regelrecht krank gemacht. Er kaschiert dies hinter den belanglosen, intellektuell bereits rationalisierten Worten ,was alles im staatlichen Schulsystem schiefläuft’. Dass es sich um eine Katastrophe handelt, wird hier überhaupt nicht deutlich. Denn wäre es keine Katastrophe, wenn ein Berufsfeld den Berufstätigen nach nur einem Jahr krankmacht? Von den Schülerinnen gar nicht zu reden – wie viele Schülerinnen werden durch das staatliche Schulsystem psychisch krank, depressiv, leiden an Lebenssinnverlust, finden diese Sinngebung gar nicht ernst und anderes? Wenn man einmal alle gesellschaftlichen Probleme in ihren Ursachen bis auf das Staatsschulsystem zurückverfolgen versuchte, würde man unglaublich fündig werden! Aber gut, auch dies ist Williams nur einen Nebensatz wert.

Stattdessen schildert er, wie für den Beginn des Schuljahres im Kollegium mehrstimmig ein Wochenspruch aus dem sogenannten ,Seelenkalender’ von Rudolf Steiner einstudiert wurde, um damit die Kinder zu begrüßen:[1]

'Der Weltengeist, er strebet fort, in Selbsterkenntnis neu belebt; und schafft aus Seelenfinsternis des Selbstsinns Willensfrucht.' So etwas. Rudolf Steiner hielt sich ja nicht nur für einen Universalgelehrten, sondern wohl auch für einen Poeten vor dem Herrn. Ich fand das eher zum Fremdschämen – meiner Kollegin und mir wurde dabei regelrecht körperlich unwohl, so sektenhaft wirkte das. Die Anthroposophen glauben aber, dass allein diese Worte schon magische Wirkung auf die Kinder haben. Wie Zaubersprüche.

Der reinste Schwachsinn! Kein Anthroposoph glaubt an magische Wirkungen! Williams muss hier etwas ganz grundsätzlich missverstanden haben – oder aber er übertreibt und verdreht in verleumderischer Absicht ganz bewusst.

Es ist auch völlig offensichtlich, dass er mit diesen Worten nicht das Geringste anfangen kann, nicht einmal den Versuch gemacht hat. Er verulkt die ,Poesie’ und zieht die poetische Qualität in den Schmutz, aber vom geistigen Inhalt der Worte versteht er so wenig wie ein Baby von ,Kater Findus’. Williams hat zur Spiritualität nicht die geringste Verbindung, er ist ganz offensichtlich ein krasser Materialist. Ein solcher hat an einer Waldorfschule nicht das Geringste zu suchen. Wirklich nicht. Das hat er dann auch selbst eingesehen:[1]

Mir war schnell klar, dass ich mit der Waldorflehre auf keinen grünen Zweig komme. Deswegen habe ich die Schule Ende vergangenen Jahres verlassen.

Es wird nicht deutlich, ob er dort also nur wenige Monate blieb oder doch etwas länger als nur ein angebrochenes Schuljahr. Es klingt doch irgendwie durch, dass er nicht gleich wieder gegangen ist. Dennoch zerrt er auch hier nur diesen einen Moment ans Licht.

Primitivste Propaganda

Was haben wir nun also? Einen feigen Lehrer, der mittlerweile ,in der Forschung und in einer Erwachsenenbildungseinrichtung tätig’ ist, damals in der Waldorfschule einfach nicht seinen Mund aufgemacht und aufgekriegt hat – nun aber mit der großen Klappe und Keule kommt.

Der von sämtlichen Erlebnissen neben viel zwangsläufig zugestandenem Lob (so kurz wie möglich abgehandelt) drei Erlebnisse hervorzerrt und wie unter ein Riesenvergrößerungsglas legt, damit sie auch ja das Gesamtbild prägen – und diese sind: astrologische Berechnungen eines Lehrers (Schule 1), Beendigung einer Debatte mit einem Steinerzitat (Schule 1), Kinderbesprechungen (Schule 2), Seelenkalender-Begrüßung (Schule 3). Damit ist sein Urteil über ,die’ Waldorfschule fertig und erscheint in genau dieser Form in einer überregionalen großen Tageszeitung – pünktlich zum Jubiläum von weit über zweihundert Waldorfschulen allein Deutschland.

Was allein schon ins Auge fallen kann, ist, dass Williams implizit selbst zugibt, dass ihm astrologische Berechnungen an keiner anderen Schule untergekommen sind, Kinderbesprechungen offenbar auch nicht und auch die Seelenkalender-Begrüßung erst recht nicht. Lauter Einzelfälle an lauter einzelnen Schulen. Sie werden jedoch auf infame Weise zusammengeschustert, um so das Bild zu erwecken, an jeder Waldorfschule finde all dies statt – oder zumindest etwas davon.

Wollen wir jetzt einmal das Schmutzfass aufmachen und sehen und zusammentragen, was so an einzelnen Staatsschulen passiert, um dies dann als ,die’ Staatsschule(n) hinzustellen? Man muss es wiederholen: Die Methode von Williams ist primitivste Propaganda.

Die Staatsschule ist nicht deshalb schlecht, weil dort alkoholisierte oder Mädchen-belästigende Lehrer vorkommen, sondern aus ganz anderen Gründen. Aber die ersteren kommen dort eben auch vor – genau wie an den Waldorfschulen einzelne Lehrer möglicherweise einen Astrologie-Spleen haben, über die Augenfarbe von Kindern philosophieren oder auf die verrückte Idee kommen, eine Schule mit dem Seelenkalender zu begrüßen. Beides sind Abartigkeiten, die nie vorkommen dürften. Williams verschweigt die einen – und stellt die anderen als Normalfall hin. Er vergleicht Äpfel mit Birnen. Er begeht die Ursünde der Logik. Er schreibt gegen die Vernunft. Er will einfach nur polemisieren und verliert dabei jedes Maß. Mit seinem Materialismus reagiert er auf jede Spiritualität und Pseudo-Spiritualität derart allergisch, dass er geradezu erfreut den Rundumschlag vollführt und seine Lieblings-Allergika, seine drei, vier schlimmsten Erlebnisse, die er im Laufe von Jahren hatte, als repräsentativ verkauft. Und die ganze Zeit hat er feige geschwiegen, nichts gesagt, einfach mitgemacht, selbst da, wo ihm ,regelrecht körperlich unwohl’ war. Schande über sein Haupt!

Was tut die Waldorfbewegung jetzt?

Doch nun läge der Ball trotz allem beim Bund der Waldorfschulen – und auch bei den einzelnen Waldorfschulen selbst.

Denn was Williams da schildert, ist dennoch ,schlimmstes Mittelalter’. Es ist weder Esoterik noch Anthroposophie, auch wenn es von Williams so verkauft wird, es ist das Gegenteil dessen. Williams hätte besser daran getan, Ross und Reiter zu nennen – und mitzuteilen, an welchen Schulen er diese Beobachtungen gemacht hat. Stattdessen lässt er es im Vagen, sei es aus falscher Rücksicht, sei es, um so noch besser behaupten zu können, dies könne sich an jeder Waldorfschule jederzeit wiederholen.

Wie auch immer. Der Bund der Waldorfschulen hätte klipp und klar klarzustellen, dass die von Williams beschriebenen Beobachtungen eklatant gegen sämtliche Grundsätze der Waldorfpädagogik verstoßen. Astrologie-Berechnungen haben in einer Waldorfschule nichts zu suchen, und Rudolf Steiner hat davon nie gesprochen. Wie weit Kinderbesprechungen entarten können und wie wenig reif Lehrer dafür sind, hat bereits die Anthroposophin Mieke Mosmuller in ihrem Buch ,Eine Klasse voller Engel’ klargemacht – wofür sie aus anthroposophischen Kreisen mehrfach heftig angegriffen wurde, was aber nichts von der Wahrheit ihres Buches wegnimmt. Und der ,Seelenkalender’ ist ebenfalls nur etwas für reife, erwachsene Geister, die sich mit dessen tiefem Gehalt wirklich auseinandersetzen wollen.

In einer Waldorfschule Astrologie-Berechnungen, Kinderbesprechungen über Augen- und Haarfarben und Engel-Therapie sowie Seelenkalendersprüche vor Kindern und Jugendlichen zu finden, ist eine Katastrophe. Der Bund der Waldorfschulen kann dies nicht schweigend hinnehmen. Er muss deutlich machen, dass LehrerInnen, die dies vertreten, an einer Waldorfschule nichts zu suchen haben – dass dies tatsächlich Sektencharakter hat, aber nicht einen einzigen Fußbreit auf dem Boden der Anthroposophie steht.

Insofern ist Williams perverse Polemik tatsächlich dazu geeignet, einmal auf den unguten Sumpf in vielen Waldorfschulen hinzuweisen, der der Idee der Waldorfpädagogik diametral entgegengesetzt ist. Überall da, wo sich ,graue Eminenzen’ breitmachen, die sich als ,Anthroposophen’ verstehen, aber nur krude Pseudo-Esoterik spielen, mit abstrusesten Gedankenassoziationen meinen, Kinder ,diagnostizieren’ zu können und ähnliches, sind noch nicht einmal die Anfangsschritte in der Anthroposophie und auf ihrem Erkenntnisweg gegangen. Da hat man sich in Illusionen verrannt, die etwas Teuflisches haben. Wenn sich solche Pseudo-Anthroposophen (noch immer) an gewissen Waldorfschulen etabliert haben, ist es höchste Zeit, ihnen klar und offen zu sagen: Dies ist nicht euer Ort! Ändert euren Sinn – oder geht!

Die Frage nach dem Menschenbild – überlebens-wichtig

Genauso wenig aber ist Waldorfpädagogik ein postmoderner, ach so zeitgemäßer Ansatz, der nahtlos an das passt, was unsere Zeit angeblich fordert.

Ja – selbst führende ,Wirtschaftsleute’ loben die Waldorfschüler dafür, dass sie mehr Interesse, ein beweglicheres Denken und eine viel größere Kreativität haben als die meisten Staatsschüler. Das darf aber nicht den Blick dafür verstellen, dass die Waldorfschule alles andere möchte, als willige und begabte Menschen als Material eines unmenschlichen Systems zur Verfügung zu stellen und zu liefern.

Die Waldorfpädagogik baut auf einem spirituellen Menschenbild auf. Es ist dasselbe Menschenbild, das auch Schiller, Fichte und Novalis noch hatten – und das seitdem völlig zertrümmert und unbeachtet im Staub liegt. Mit ,Excellence Clustern’ und ,human resources’ hat die Waldorfpädagogik nicht das Geringste am Hut. Sie weist darauf hin, dass es nicht das Wesen des Menschen ist, auf ein Selbstzweck gewordenes, verrücktes, selbstvernichtendes Wirtschaftssystem zugerichtet zu werden, um sich nach dem Erwachsenwerden willig darin einpassen zu lassen.

Sie weist darauf hin, dass die menschliche Kultur mehr ist als eine Ansammlung von Zufälligkeiten, dass der Mensch mehr ist als nur ein Fleischklumpen im Weltall, der zufällig etwas angeblich rein gehirn-produzierte ,Intelligenz’ mitbekommen hat. Die Waldorfpädagogik weiß um das Wesen von Seele und Geist – und damit um das wahre Wesen des Menschen. Und dieses versucht sie zu hüten und in Entwicklung zu bringen. Beginnend mit echten, seelenvollen Farben und Formen der Gebäude. Sich fortsetzend in Kunst und Sprache (nicht ,Seelenkalender’!), in Bewegung und Form, in Unterrichtsinhalten und in dem Wie des Unterrichts. Darüber könnten jetzt ganze Bücher geschrieben werden – und eines für Eltern habe ich gerade geschrieben.

Von alledem bei Williams kein Wort. Er ist auch der Falsche – er würde es gar nicht begreifen. Es bräuchte auch bei ihm Jahre. Und dennoch ist die Zeit reif. Der Materialismus hat nicht nur abgewirtschaftet, er führt mitten hinein in den Untergang. Wenn wir jetzt nicht die Frage nach dem Menschen stellen – nach dem, was der Mensch eigentlich ist, als Wesen –, werden wir vielleicht bald nicht mehr die Zeit haben, sie noch jemals zu stellen.

Keine Zeit hat so sehr wie die unsrige die wesentlichsten Fragen unterdrückt – einfach durch ein kollektives Schweigen und Sich-blind-Stellen oder wirkliches Blindsein. Ein jeder Artikel wie der von Williams kann dazu beitragen, diese Fragen doch endlich wieder zu stellen. Wenn die plumpe Polemik dazu beiträgt, von ihr weg zu den eigentlich wichtigen Fragen vorzustoßen – die nämlich auch die völlige Katastrophe des Staatsschulwesens thematisieren und was hinter dieser Katastrophe steht –, dann kann man für solche Artikel sogar noch dankbar sein. Denn sie hätten eine Diskussion und eine Erkenntnisbewegung eingeleitet, die langsam überlebens-wichtig wird.

Was ist Waldorfpädagogik?

Waldorfschüler fragen in der Regel tiefer als Staatsschüler – oder stellen überhaupt noch Fragen. Staatsschüler sind irgendwann überwiegend völlig resigniert – und wen wundert’s? Es kann niemanden wundern, denn jeder von uns kennt die Katastrophe. Fragen wird dort nicht gelernt. Stoff aufnehmen und fertig. Und wenn Fragen aufkommen, dann bitteschön nur auf materialistischer Grundlage. Für alles andere nicht zuständig, man wende sich an die örtlichen Kirchen und Selbsthilfegruppen. Die Staatsschulen entlassen ihre Opfer desillusioniert und resigniert, fertig für die nächste Stufe: Studium, Partnerschaft, evtl. Kinder, Leben, Tod. Tiefere Fragen? Fehlanzeige!

In den Waldorfschulen lebt ein anderer Geist. Die jungen Menschen, die von der Waldorfschule kommen, sind in der Regel auch mehr oder weniger von der alles dominierenden Konsumkultur aufgesogen (Smarthpones, Internet, Instagram, Markenklamotten, Filme etc. etc.), aber nicht vollständig. Sie haben auch noch ein eigenes Leben und Wesen – und verdanken dieses ganz wesentlich auch diesem anderen Geist an den Waldorfschulen, der ihnen und ihrer Seelenentwicklung Wege offenhält, die im Staatsschulsystem ganz schnell mit dröhnendem Krach zuschlagen. Weil dort dem Seelenleben kein Fußbreit gewährt wird – während es in der Waldorfschule durch unendlich viele Elemente gehütet wird, um sich immer freier selbstständig entfalten zu können.

Das gerade ist das Ur-Prinzip der Waldorfschule: Hüten des Seelischen bis zu dem Punkt der individuellen Freiheit. Am Ende steht dann nicht ein seelenloser Konsumsklave, der sich nur frei dünkt, weil er sich immerhin noch für Revolution, Musik oder was weiß ich interessiert hat, bis auch hier das Leben erbarmungslos weiterrollte, sondern ein wirklicher Mensch, dem in der Seele noch mehr lebt als nur die fertigen Schablonen, die ihn sicher und unbeirrbar ins bürgerliche Leben hinüberleiten.

Die Menschen, die eine Waldorfschule besuchen konnten und hier ein wenig Glück mit der Schule und den Lehrern hatten, sind nicht nur ,Humanressource’, um gute Rädchen in der geölten Maschinerie des Kapitalismus zu werden, sondern jeder Einzelne von ihnen hat das Potential, diese Maschinerie aus den Angeln zu heben, um an ihre Stelle etwas völlig Neues zu setzen. Den Beginn einer neuen Kultur, in der das wahrhaft Menschliche wieder eine Rolle spielen wird – nicht nur als Lippenbekenntnis und als Ideologie, sondern wirklich. Die Staatsschule hat hier nichts in der Hand, nicht das Geringste. Ihr Produkt heißt ,Anpassung’. Die Waldorfschulen dagegen bereiten diese andere Zukunft tagtäglich vor – wie unvollkommen auch immer. Denn auch dort erleben die wenigsten Lehrer noch die Dimensionen, um die es eigentlich geht. Aber ein kleiner Rest dessen, was den Deutschen Idealismus einst so seelen- und geistvoll machte, ist eben auch an den Waldorfschulen noch vorhanden. Und dieser kleine Rest allein ist es, der in die Zukunft führen kann.

Entweder der Mensch findet Seele und Geist in ihrer Realität wieder – oder er hat seine Zukunft schon besiegelt. Die Staatsschulen arbeiten am Untergang, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollen, weil sie sich der Verantwortung gerade entziehen. Die Waldorfschulen arbeiten daran, dass die Seele nicht völlig untergeht – an nicht mehr, aber auch an nicht weniger. Das Übrige muss der Mensch, der aus der Schule entlassen ist, selbst tun. Er kann es auch versäumen. Staatsschüler wissen nicht einmal, wovon die Rede ist. Waldorfschüler werden es am Ende ihrer Schulzeit, wenn es gut geht, wenigstens ahnen.

Egomania oder höhere Fragen

Es ist doch erstaunlich. Da regt sich ein Williams darüber auf, dass einer seiner Lehrer vor etwa zwanzig Jahren (!) von seinen Schülern die Horoskope erstellt hat, aber nicht darüber, dass eine Art Psychopath US-Präsident geworden ist. Gibt es hier möglicherweise einen Zusammenhang?

Entspricht die Verantwortungslosigkeit, mit der Trump die Lüge geradezu ganz offen zum politischen Prinzip erhebt, vielleicht der Verantwortungslosigkeit, mit der wir alle uns hinter immer größeren Belanglosigkeiten verstecken? Wen interessiert es, dass an einer anderen Waldorfschule die Schüler mit seltsamen Worten aus dem ,Seelenkalender’ begrüßt wurden, während in Brasilien der unersetzliche Regenwald brennt, die Schüler massenweise für die Zukunft der Welt auf die Straße gehen, der Kapitalismus sich auf Kosten von Millionen und Milliarden Opfern zu Tode siegt und die Menschen immer mehr die Sinndimension verlieren, weil sie seelisch-geistig immer mehr verlieren, weil ihnen ihr eigenes seelisch-geistiges Wesen wie zwischen den Fingern verrinnt? Den Bund der Waldorfschulen sollte diese eine Schule, die die Anthroposophie derart missbraucht und vor Schülern und Außenwelt in Misskredit bringt, unbedingt und sehr ernsthaft interessieren – die übrige Welt aber sollte sich für ganz andere Fragen interessieren, um nicht vor ihrer eigenen Verantwortung wegzulaufen!

Die Waldorfschulen anzukreiden, ist billig, das kann heute jeder von seinem bequemen Pupssessel aus. Aber sich einmal innerlich zu erheben und innerlich wirklich aktiv zu werden – das wäre schon etwas anderes. Die meisten wissen heute nicht einmal, was damit gemeint ist. Und selbst wenn sie es wüssten, würden sie es nicht tun, sondern weiter primitiv gegen andere schießen, anstatt die eigene Seele in eine Entwicklung zu bringen.

Trump macht es ja vor – und alle eifern ihm nach. So sehr man ihn auch vordergründig ablehnt, folgt man doch mehr oder weniger seinem Programm: Ego first! Make me great again! Was anderes soll denn Selfie-Kultur und Selbstoptimierung sein? Unsere ganze westliche Kultur basiert inzwischen darauf! Dies nicht zu erkennen, heißt abgrundtief blind sein, um der eigenen Verantwortung noch da zu entfliehen, wo sie einen geradezu erschlägt. Und da wird auf die Waldorfschulen eingeschlagen? Mein Gott! Das ist, wie kurz vor dem Weltuntergang dem anderen vorzuwerfen: ,Aber du hast im Wohnzimmer das Licht angelassen!’

Man sollte sich einmal in ernstester Selbstbesinnung überlegen, wo wir als Menschheit im Moment eigentlich wirklich stehen. Und wenn eine Art Psychopath US-Präsident werden kann und andere Staatenlenker teilweise nicht viel weniger schlimm agieren, ein falscher Nationalismus und der Egoismus sich immer weiter ausbreiten – spätestens dann muss doch jedem klar sein, dass grundsätzlich etwas falsch läuft, ja in Richtung Abgrund führt. Und dass dies nicht daran liegt, dass das ja eben ,ach so menschlich’ ist – sondern dass wir das Menschliche fortwährend versäumen. Als wäre es normal, besinnungslos zu konsumieren, verantwortungslos die Entwicklung zu beobachten, sich selbst treiben zu lassen und im Übrigen ständig das Lied zu trällern: ,Ich kann ja eh nichts tun’.

Das ist Armseligkeit hoch drei! Die Waldorfschulen gehen einen anderen Weg. Sie erziehen den Menschen nicht nur zum braven Staatsbürger sondern ,zur Freiheit’ – zu einer wirklich leiblich-seelisch-geistigen Entwicklung seines Wesens, auf deren Grundlage sich später überhaupt erst offenbaren kann, was im Wesen einer bestimmten Individualität eigentlich liegt, auch als selbstgewählte und vielleicht bereits aus der Welt des Vorgeburtlichen mitgebrachte Aufgaben, Impulse und Ziele.

Das eigentliche Wesen des Menschen

Die Frage nach dem Menschenbild wird in der Waldorfschule nicht gelehrt. Sie gibt keine Lehren oder Doktrinen. Aber die Art, wie überhaupt unterrichtet und Unterrichtsinhalte behandelt werden, hält die Tür für alle möglichen Menschenbilder offen. Nicht das materialistisch-beengte Bild vom Menschen ist dasjenige, was seelisch alles totschlägt – sondern ein viel höheres Bild vom Menschen ist dasjenige, was seelisch alles offen hält.

Die SchülerInnen spüren, dass die Lehrer sich selbst und die SchülerInnen als umfassend der Entwicklung fähig ansehen – und zwar nicht nur im gewöhnlichen Sinne, wie das jeder irgendwo tut (letztlich ist ,alles’ Entwicklung), sondern real. Seele und Geist werden als Realitäten ernstgenommen und in ihrer Realität erlebt. Was wirklich erlebt wird, kann kein Dogma mehr sein und braucht auch nicht dogmatisch gelehrt zu werden, denn um Lehrinhalte geht es gar nicht. Es geht darum, wie eine spirituelle Weltanschauung auf alles ausstrahlt und es von innen her lebendig macht. Nicht etwa mit Horoskopen und abstrusesten ,Kinderbesprechungen’ oder ,Seelenkalender’, sondern im Gegenteil – in einem zutiefst lebendigen Unterricht Hunderter, ja Tausender anderer Lehrer, sofern sie etwas von diesem hohen, ja heiligen Menschenbild und der damit einhergehenden Begeisterung aufgenommen haben.

Erst dann spürt man, dass es nicht um den Satz des Pythagoras geht, auch nicht um die x-te Schülergeneration, die man ,durchzuschleusen’ hat, sondern dass jeder Schüler und jede Schülerin ein einzigartiger Mensch ist – und dass jeder von ihnen morgen für ,Fridays for Future’ auf die Straße gehen oder etwas ganz anderes tun kann ... und die Welt verändern. Und zwar hin zu etwas zutiefst Menschlichem – von dem wir alle wissen, was damit gemeint ist, obwohl wir es dennoch täglich verleugnen und so tun, als müsste die Welt nicht von Grund auf und in ihren Fundamenten neu gegründet werden.

Die Waldorfpädagogik hat dieses Wissen nie aufgegeben – und da, wo sie wirklich lebt, hält sie jeder einzelnen Seele von neuem den Weg dafür frei und die Tür dafür offen. Es geht um etwas Unendliches. Und die Waldorfpädagogik hat nicht nur ein Gefühl dafür, sondern auch ein Wissen darum.

Quelle:

[1] Bernd Kramer: "Waldorf hat den Charakter einer Sekte". Süddeutsche.de, 7.9.2019.