30.10.2019

Den Turbokapitalismus in die Hirne impfen

Zur bodenlosen Dummheit der Tagespresse. Ein Beispiel.


Inhalt
Ein unfassbarer Artikel
Die Wahrheit


Ein unfassbarer Artikel

Die Verdummung der Menschen durch die Presse ist bodenlos – und die Konditionierung auf einen heillosen Kapitalismus hat unvorstellbare Ausmaße. Man fragt sich, ob die zuständigen Redakteure selbst so bodenlos dumm und indoktriniert sind, oder ob sie bewusst Lügen verbreiten.

Im heutigen ,Tagesspiegel’ steht auf dem Titelblatt: ,Die Geldvernichter. Wie falsch die Deutschen mit ihren Ersparnissen umgehen.’ Und auf Seite 15 kommt dann die eigentliche Story: ,So spart Deutschland’.

Und was erfährt man dort? Mit einem Vermögen aller Deutschen von 13.800 Milliarden Euro ist Deutschland das viertreichste Land der Welt hinter USA, China und Japan. Die Ungleichverteilung ist jedoch größer als anderswo in Westeuropa. Hierzulande besitzt das reichste Prozent fast ein Drittel dieses Gesamtvermögens – und über 40 Prozent haben gar kein nennenswertes Vermögen (die übrigen knapp zwei Drittel entfallen auf knapp zwei Drittel der Bevölkerung, natürlich auch ungleichmäßig). Dabei sei die Arbeitslosigkeit ,auf einem Rekordtief’ und gelte Deutschland als ,Nation der Sparer’. Jedoch würden die Deutschen zu viel Geld ,horten’, statt ,es anzulegen’. 2.500 Milliarden Euro würden zuhause, auf Girokonten oder Sparbüchern liegen – das sei ,fatal’, weil dies kaum Zinsen gebe. Manche Banken würden bei über 100.000 Euro bereits Negativzinsen verlangen. Trotzdem sind nur knapp neun Prozent in Aktien oder Aktienfonds angelegt. Daher seien Aktienkonzerne wie Daimler, Bayer und Adidas mehrheitlich in ausländischer Hand. Auch lägen 58 Prozent des Gesamtvermögens in Immobilien, und ,nur’ knapp die Hälfte der Bevölkerung sei Eigenheimbesitzer – weit weniger als in anderen EU-Staaten. Entsprechend sei ,die Zahl derer begrenzt, die von den steigenden Immobilienpreisen profitieren’. Die Tatsache, dass das Vermögen der Engländer ,sehr viel gleichmäßiger verteilt’ sei, zeige, dass ,die Deutschen Geld verbrennen’. Der mittelste Engländer (Median) besitze 87.766 Euro, der Deutsche 31.803 Euro. Engländer wohnen seltener zur Miete und sind ,aktienaffiner’.

Die Wahrheit

Nun zu dieser unendlichen Verdummung die Tatsachen:

• Der Aktienmarkt ist ein riesiges Kasino, wo Scheinwerte entstehen und in ,Kursstürzen’ wieder ,verbrennen’, aber nur, weil dies alles rein virtuelle Werte sind. Ist ein Unternehmen mehr wert, wenn seine Aktien begehrter sind? Kein bisschen – virtuell aber schon. Doch nur in dieser Riesenspielhalle findet ,Verbrennen’ statt.

• Die großen Aktienkonzerne sind seit jeher global agierende Kolosse, die möglichst viel Steuern vermeiden. Hier ,Nationalismus’ zu schüren, ist naiv und idiotisch. Für das Wohl einer Gemeinschaft sind Kleinunternehmen und Mittelstand unendlich viel wertvoller – es sei denn, man würde auch die Konzerne wieder radikal ehrlich besteuern, ohne Ausfluchtmöglichkeiten und Steuerlücken.

• Die Arbeitslosigkeit ist nur deshalb auf einem ,Rekordtief’, weil die prekären Beschäftigungsverhältnisse auf einem Rekordhoch sind – Tendenz weiter steigend. Wer aber miese Arbeit hat, weil die Politik es nicht schafft, gerechte Verhältnisse gesetzlich festzuschreiben, sondern weiter auf Raubtierkapitalismus setzt, der kann auch nicht sparen. Wie auch?

• Die Ungleichheit in Deutschland geht auch aus dem hochselektiven deutschen Schulsystem hervor. Wer reiche Eltern hat, hat einfach nach wie vor bessere Chancen. Würde das staatliche System den inklusiven Ansatz etwa der Waldorfschulen verfolgen, wäre dies anders.

• Die deutschen Mieter vertrauen seit Jahrzehnten auf eine Gerechtigkeit, die es nicht gibt. Dass Grund und Boden überhaupt ,verschachert’ werden und ,Profit abwerfen’ kann, ist ein Irrsinn. Statt galoppierender Bodenpreise müsste der nur begrenzt vorhandene Grund und Boden der ganzen Gemeinschaft gehören, das heißt, verstaatlicht sein. Dann würden die Mieten nur moderat sein, weil sie einzig dazu dienen müssten, die Baukosten zu amortisieren. Auch hier also stehen wir nur wieder vor absurden Folgen eines irrwitzigen Ansatzes (Privateigentum von Erdfläche).

• Anstatt den Deutschen vorzuwerfen, zu wenige seien Eigenheimbesitzer, müsste man dafür sorgen, dass man nicht Eigenheimbesitzer sein muss, um nicht zu verarmen. In einem Land mit einem gerechten Wirtschaftssystem wäre dies das Normalste der Welt – dass ein Mieter nicht verarmen würde!

• Aber der ,Tagesspiegel’ geht noch weiter und will die Leute nun auf den Aktienmarkt treiben – also mitten hinein in dieses sinnlose Spielkasino, wo es nur um Scheinwerte geht, ohne dass reale Wertschöpfung stattfindet. Wie verrückt kann man denn noch sein? Früher hieß es, man ,horte’ Geld, wenn man es nicht zur Bank bringe – jetzt heißt es, man ,horte’ Geld, wenn man es nicht in wilde Aktienrisiken steckt. Ein Wahnsinn! Dies zeigt nur, dass unser Wirtschaftssystem in ein völliges Chaos gerät. In einer gesunden Wirtschaft würde alles wunderbar funktionieren: Menschen arbeiten, sie bekommen, was sie zum Leben brauchen, sie konsumieren, alles ist miteinander vernetzt, und allen geht es gut. Das funktioniert nur dann nicht, wenn gewisse Mechanismen dazu führen, dass sich schon die Einkommen viel zu ungleich verteilen – etwa durch Steuerlücken, durch den Wahnsinn der Bodenpreise etc. etc., auch durch den mangelnden Mut hohe Einkommen und Vermögen entsprechend durchgreifend zu besteuern.

• Die Idee ewigen Wachstums hat keine Zukunft. Der Zinswahnsinn musste bzw. muss irgendwann an ein Ende kommen – denn Geld kann sich nicht von selbst vermehren. Auch nicht auf dem Aktienmarkt. Irgendwer ist immer das reale Opfer.

• Statt die Menschen auf immer virtuellere Wege der ,Vermögensvermehrung’ zu treiben, sollte man endlich beginnen, sich über reale und dauerhaft gerechte Gestaltungen eines Wirtschaftssystems Gedanken zu machen. Das wäre die Aufgabe eines ehrlichen und gründlichen Journalismus. Stattdessen spuckt der ,Tagesspiegel’ dem verarmenden Normalbürger belehrend ins Gesicht und betreibt PR für einen längst nicht mehr zukunftsfähigen Kapitalismus. Wie die Musikband auf der ,Titanic’. Grauenvoll...

Quelle:

So spart Deutschland. Tagesspiegel, 30.10.2019, S. 1 & 15. [Online-Version hier]