24.06.2022

Die Zukunft, oder: Was ist reaktionär?

Gedanken zu einem unsäglichen WELT-Artikel.


Inhalt
Der Meister der Perversion
Die reaktionäre Vereinnahmung der Linken
Von der Lüge des Weltmarkts
Von Drohnen und Sensoren
Rückwärtsgewandte Ideologie
Aggressive Lügen
Teile und herrsche
Fortschritte und das Neue


Der Meister der Perversion

Die WELT ist bekannt für ihre reaktionär-ultrakapitalistische Haltung. Die perfideste Technik, die angebliche Alternativlosigkeit eines immer menschenfeindlicheren Kapitalismus in die Köpfe zu impfen, ist, die menschlichen Alternativen selbst als ,reaktionär’ zu etikettieren. Das ist ungefähr so, wie wenn sich ein Vergewaltiger in einer Welt der Vergewaltiger hinstellt und all jene, die eine ganz andere Welt als Möglichkeit und als allein menschlich erkennen ... als Vergewaltiger bezeichnet!

Diese Perfidie hat einen ihrer Meister in Alan Posener, der in einem nicht langen Meinungs-Artikel mit dem Titel ,Die Documenta 15 ist reaktionär’ das Gift völliger Begriffsverwirrung und -perversion verspritzt, um jedes klare Denken auszurotten und ein Delirium zu hinterlassen. Einst hieß es, ,Religion ist Opium für das Volk’. Posener braucht keine Religion – es reicht Perversion. Man verdrehe sämtliche Begriffe, und das Volk hat sein Opium, nach dessen unfreiwilligem ,Genuss’ es keine Fragen mehr stellt und so benebelt ist, dass es den Führern weiter willig in den Untergang folgt.

Folgen wir kurz Poseners Argumentation, um sie dann ausführlich in ihrer ganzen Perfidie zu entlarven.

Er beginnt mit der Feststellung: ,Es gab mal eine Zeit, da waren Linke progressiv. Sie glaubten an den Fortschritt.’ Marx und Engels hätten die Entstehung einer Weltkultur aufgrund der Globalisierung begrüßt. Nationale Einseitigkeit und Beschränktheit würden zunehmend unmöglich, auch geistig bilde sich eine Weltliteratur etc. Hätte man ihnen gesagt, dass 175 Jahre später eine documenta eine eigene Kultur des ,Globalen Südens’ behaupten würde, hätten sie ungläubig den Kopf geschüttelt. Hätte man ihnen vom ,Lumbung’ gesprochen, der gemeinsamen Beratung über die Verteilung der Ernte, so hätten sie gefragt, warum nicht gleich ein germanisches Ting.

Die Landwirtschaft trägt in Indonesien gerade noch 14 % zum BIP bei, vor allem mit Palmöl und Kautschuk. Industrie und Dienstleistungen stellen 83 %. Bauern ,labern’ auch nicht über die Verteilung von Reis, sondern sind ,Produzenten von Cashcrops für den Weltmarkt’ – mit Drohnen zur Schädlingsbekämpfung, Sensoren für den Bodensäuregehalt, Wetter-Apps usw. Der von ,westlichen Romantikern herbeihallizunierte’ ,Globale Süden’ sei wie der von Marx und Engels kritisierte ,deutsche oder wahre Sozialismus’, eine ,rückwärtsgewandte, antikapitalistische und antiprogressive Ideologie’. Der wirkliche Globale Süden wolle damit nichts zu tun haben.

Das Pro-Kopf-Einkommen von Indonesiens Nachbar Malaysia ist mit 790 USD höher als das von Russland, Ukraine, Georgien, das von Südafrika mit 1600 USD höher als in China, Polen oder Portugal. Der ,Club’ des Südens wähle seine Mitglieder also anscheinend nach der Hautfarbe, also rassistisch. Und so sei es kein Wunder, dass hier ,der Antisemitismus Konsens’ sei.

Wer wirklich links sei, begrüße die Fortschritte der bürgerlichen Gesellschaft und baue auf ihnen auf. Wer damit nichts anzufangen wisse, sei reaktionär – wie überhaupt das ganze Gerede vom ,Globalen Süden’, der angeblich ,einen ganz anderen, moralisch besseren, vom Kapitalismus unverdorbenen Blick auf die Welt habe’. Lumbung sei Humbug.

Die reaktionäre Vereinnahmung der Linken

Beginnen wir mit der Entlarvung von Poseners Perversionen.

,Es gab mal eine Zeit, da waren Linke progressiv. Sie glaubten an den Fortschritt.’ Das ist richtig. Aber das Wesentlichste wird weggelassen: Es ging nicht nur um den technischen und geistigen Fortschritt. Sonst hätten sie mit der reaktionären Klasse der Besitzenden und Ausbeuter gemeinsame Sache machen können – aber dann wären sie keine Linken mehr gewesen. Marx und Engels glaubten an den Fortschritt – aber entlarvten schneidend, wie umfassend Ausbeutung, Akkumulation von Macht, Ungleichheit und Aufrechterhaltung all dessen funktionieren. Der wahre Fortschritt war für sie, dieses System zu beenden.

Nationale Einseitigkeit und Beschränktheit würden zunehmend unmöglich, auch geistig bilde sich eine Weltliteratur etc. – Ja, richtig. In diesem Zusammenhang aber auch mehr und mehr eine global aufwachende Arbeiterklasse, eine Gemeinschaft der Ausgebeuteten und Unterdrückten, die ihre Gemeinsamkeit immer unmittelbarer erkennt. Globalisierung des Bewusstseins von der wahren Natur des Kapitalismus – und globale Einigkeit in dessen Bekämpfung und der Schaffung echter Alternativen in einer weltumspannenden Solidarität und Progressivität.

Der ,Globale Süden’ hat nicht nur mit dem heutigen Pro-Kopf-Einkommen zu tun, sondern auch mit einer langen Geschichte kolonialer Unterdrückung und Demütigung, die sich in das kollektive Bewusstsein eingeschrieben hat. Der Norden hat hier eine ewige Schuld auf sich geladen – die bestehen bleibt, weil die sogenannte ,Globalisierung’ fortwährend unter dieser Ausgangslage stattfindet: Unter zutiefst ungerechten Verhältnissen. Und überhaupt unter dem Zeichen des aggressiven Kapitalismus, in dem es unterschwellig stets um die Maximierung des eigenen Nutzen, also des Eigennutzes geht. Reaktionärer geht es also nicht.

Der ,Lumbung’ ist ein Symbol, eine Metapher, eine Vision. Posener gibt sich absichtlich begriffsstutzig. Natürlich geht es nicht um die physische Reisscheune! Das gerade ist das Gift, das er in die Köpfe spritzt. Es geht darum, dass das ,gemeinsame Verteilen der Ernte’ global eine Realität werden muss! Dass nur dieses Gemeinsame, dieses Kollektive, dieses regelrecht Geschwisterliche die einzige Option ist, die wirklich menschlich zu nennen wäre. Alles andere ist und bleibt reaktionär, Verhinderung des Menschlichen, Verhinderung des einzigen Fortschritts im tiefsten, wahrsten Sinne.

Von der Lüge des Weltmarkts

Ja, in Indonesien geht es nicht romantisch um Reisanbau. Die Landwirtschaft trägt nur 14 % zum BIP bei, und selbst hier sind die wichtigsten Produkte Palmöl und Kautschuk. Posener schreibt, die Bauern ,labern’ auch nicht über die Verteilung, sondern sind ,Produzenten von Cashcrops für den Weltmarkt’.

Cashcrops – das ist der Anglizismus für Pflanzen bzw. Ernten (crops), die Geld (cash) bringen, weil sie exportiert werden. Auch lokaler Verkauf würde Geld bringen, aber nicht Devisen. Es geht also um die Einbindung in den ,Welt-Markt’. Wie wir aber sahen, hat der Globale Süden hier viel schlechtere Bedingungen. Der ,Weltmarkt’ – das ist ein Konstrukt, das vor allem von der Macht des Kapitals diktiert wird. Der Bauer muss liefern, findet er keine Abnehmer, so verdirbt seine Ernte. Das Kapital sitzt also von vornherein am längeren Hebel.

Die Rede vom ,Weltmarkt’ klingt immer so herrlich anonym und gleichberechtigt. Das aber ist die Grundlüge derer, die reaktionär das Bestehende aufrechterhalten wollen, weil sie davon profitieren – während andere täglich ausgebeutet werden. Nicht nur ungerechte Löhne sind Ausbeutung – ungerechte Preise sind dies noch viel ,eleganter’. Denn wer würde leugnen, dass es einfach nur um ,Angebot und Nachfrage’ ginge? Welch eine Lüge! Es geht um Marktmacht. Es geht um das gegenseitige Ausspielen verschiedener Anbieter gegeneinander – und je perfekter man dieses Spiel spielt, desto verzweifelter lassen sich die ,Anbieter’ auf jeden Preis ein, den man ihnen ,bietet’, und wenn es ein Hungerlohn wäre!

Der ,Fortschritt’ ist immer der Fortschritt der Mächtigen – derer, die ohnehin schon im Überfluss leben –, und ein wenig kommt dann (vielleicht!) am Ende auch bei allen übrigen an. Das Heilsversprechen des ,Weltmarkts’ ist eine große Lüge. Vielen Bauern und ganzen Regionen der Erde wäre es besser gegangen, hätten sie sich nie auf diese romantisierte (!) Lüge des wunderbaren Weltmarktes eingelassen. Nun aber können sie nicht mehr anders – sie sind in ihn eingebunden, die lokalen Märkte sind zusammengebrochen. Jetzt können sie nur noch ,mit den Wölfen heulen’ und die fortwährende ,Selbstoptimierung’ und ,Zurichtung’ als Sklave des Weltmarktes und insbesondere des Nordens fortsetzen, immer weiter, ohne Hoffnung auf Erlösung...

Von Drohnen und Sensoren

Wer dann so gnadenlos in diesen anonymen ,Weltmarkt’ eingebunden ist – der aber immer sehr konkret aus ganz realen ,Abnehmern’ besteht, die einem auch sehr gnadenlos ihre Bedingungen diktieren können (wobei dies noch nicht einmal diejenigen sein müssen, die am Ende die wirklichen Profite machen) –, dem bleibt als Sklave dieses brutal-unmenschlichen Systems nichts anderes übrig, als jedes Mittel zu nutzen, um irgendwie zu überleben.

Der Ertrinkende greift nach dem letzten Strohhalm. Und warum auch nicht? Drohnen zur Schädlingsbekämpfung. Wenn man sie sich leisten kann!? Einschließlich der ganzen Programmierung, der Kenntnisse, an deren Vermittlung wieder andere verdienen, während der Bauer sich auch hier wieder gnadenlos verschuldet. Aber es klingt ja erstmal modern... Und was wird dann verspritzt? Vielleicht Gifte, die in Europa gar nicht zugelassen wären, die aber die Hightech-Pharmakonzerne im ,Globalen Süden’ noch profitabel loswerden? Und die dank der Drohnen nur noch die Umwelt vergiften, aber nicht mehr den Menschen (erst über die Nahrungskette wieder)?

Völlig unreflektiert betet Posener einen ,Fortschritt’ an, der unzählige Menschen im Globalen Süden in den Ruin treibt. Offenbar hat er noch nie von den ungezählten Selbstmorden von Kleinbauern weltweit gehört – oder diese sind ihm egal, da dieses ganze ,Kleinbauern-Kroppzeug’ ohnehin ein Hindernis für den Fortschritt ist. Fortschritt – das sind die Großkonzerne. Das sind die ,Leistungsträger’, von denen auch ein Poschardt ständig schwafelt. Wir sehen die zynisch-reaktionäre Weltsicht dieser Menschen hier in Reinform. Und wo es ihnen angeblich auch um die Kleinbauern geht, da hängen sie einer romantisierenden Vorstellung von ,Moderne’ an, die sämtliche Widersprüche, Machtstrukturen etc. einfach ausblendet. Aber natürlich mit Absicht – insofern ist selbst das Wort ,romantisierend’ noch zu wohlwollend. Es ist bei ihnen reine Ideologie. Reaktionäre Ideologie, die davon lebt, sämtliche Unterschlagungen und Lügen möglichst unsichtbar zu halten. Ihre Erzählungen von der Moderne sind Propaganda-Märchen für Grundschüler.

Es gibt aber weltweit auch Bauern, die brauchen überhaupt keine Sensoren für den Bodensäuregehalt, selbst wenn sie sie sich leisten könnten. Ihnen geht es nämlich nicht um eine brutale, rücksichtslose Ausbeutung der Natur, sondern um ein nachhaltiges Zusammenleben mit ihr. Diese Bauern schützen den Boden. Sie kennen den Säuregehalt auch so – und fördern den Bodenhaushalt, wo sie können. Wer in die ,Cashcrop’-Sklaverei eingebunden ist und damit oft genug eine ,Pakt mit dem Teufel’ unterschrieben hat, hat diese Möglichkeit nicht mehr. Er hat oft nur noch die Wahl, sich die gleiche Brutalität zueigen zu machen, die auch ihm widerfährt – auch er muss nun die Natur versklaven, die Einzige, die noch unter ihm steht...

Rückwärtsgewandte Ideologie

Den Höhepunkt triefender Perversion erreicht Poseners reaktionäre Agitation da, wo er Marx und Engels so direkt wie möglich zu zitieren vorgibt. Die beiden Sätze lauten:[1]

Der „Globale Süden“, wie er von westlichen Romantikern herbeihalluziniert wird, ist, wie der von Marx und Engels kritisierte „deutsche oder wahre Sozialismus“, eine rückwärtsgewandte, antikapitalistische und antiprogressive Ideologie. Der wirkliche Globale Süden will damit nichts zu tun haben.

Zunächst einmal suggeriert er geradezu, die ,westlichen Romantiker’ würden den Globalen Süden fast wie den ,edlen Wilden’ Rousseau’scher Art hinstellen. Der wirkliche Globale Süden wolle damit nichts zu tun haben – und der Subtext ist: Der Globale Süden will einfach mitmischen, im knallharten Geschäft des Kapitalismus, des Weltmarkts, der Cashcrops und der Moderne. Poseners Aussage ist also einmal mehr: Das alles ist alternativlos, und gerade der Globale Süden will nichts hören von pseudoromantischem Gesäusele. Im Grunde gibt Posener hier den ,Versteher’ des Globalen Südens!

Er unterschlägt nur, dass es nicht westliche Romantiker sind, um die es hier geht, sondern Ruangrupa selbst, also originäre Vertreter des Globalen Südens. Sie sind es, die das Symbol des ,Lumbung’ zur documenta nach Kassel brachten – das Posener in gut kolonialistisch-paternalistischer Art als ,Humbug’ diffamiert und völlig vom Tisch wischt, früher hätte man auch gesagt: nach Gutsherrenart. Mit welchem Motiv wohl? Weil er einer der Profiteure des Bestehenden ist.

Marx und Engels hatten aber in ihrer Kritik am sogenannten ,deutschen oder wahren Sozialismus’ gerade darauf hingewiesen, dass die Deutschen ,Philosophen, Halbphilosophen und Schöngeister’ die französische sozialistische Literatur ,förmlich entmannt’ hätten. Und wodurch? Indem nur noch allgemeine Floskeln wie ,Entäußerung des menschlichen Wesens’ verwendet wurden, nicht aber ganz konkret die Entfremdung aufgezeigt wurde. Vor allem aber wurde eines unterschlagen: Der ganz klare Klassengegensatz. Ich zitiere Marx und Engels [o]:

Und da sie in der Hand des Deutschen aufhörte, den Kampf einer Klasse gegen die andre auszudrücken, so war der Deutsche sich bewußt, die „französische Einseitigkeit“ überwunden, statt wahrer Bedürfnisse das Bedürfnis der Wahrheit und statt der Interessen des Proletariers die Interessen des menschlichen Wesens, des Menschen überhaupt vertreten zu haben, des Menschen, der keiner Klasse, der überhaupt nicht der Wirklichkeit, der nur dem Dunsthimmel der philosophischen Phantasie angehört.

Der Vertreter dieser nebelhaften Unkonkretheit hielt schlicht das Bestehende aufrecht – und gab noch ,jeder Niederträchtigkeit desselben einen verborgenen, höheren, sozialistischen Sinn, worin sie ihr Gegenteil bedeutete’. Und genau so geht Posener vor!

Aggressive Lügen

Die Essenz Poseners war also, die ,romantisch herbeihalluzinierte’ Version vom Globalen Süden sei wie der ,deutsche Sozialismus’ rückwärtsgewandt, antikapitalistisch, antiprogressiv. Und er unterschlägt, dass Marx und Engels den Fortschritt des Kapitalismus nur in einer Richtung sehen: als Fortschritt einer egoistischen Klasse zu ihrem eigenen Wohl. Der wahre Fortschritt für Marx und Engels aber war die Zunahme der Widersprüche, die Selbstermächtigung der ausgebeuteten Klassen – und die (bei ihnen revolutionäre) Beendigung dieser Ausbeutungsstrukturen auf allen Ebenen. Was bei Marx und Engels der ,Schöngeist’ und ,Spießbürger’ war, das sind heute die Poseners aller Coleur, die antiprogressiv und rückwärtsgewandt vernebeln, dass der Kapitalismus an seinen eigenen Widersprüchen erstickt – und jegliche Geopolitik allein schon offenbart, was die wahre Wirklichkeit ist.

Dass der Kapitalismus progressiv sei und Antikapitalismus antiprogressiv sei, ist eine offene Lüge. Posener verwechselt progressiv mit aggressiv. Der Kapitalismus ist aggressiv und vertritt immer weiter die Interessen der Profiteure, nichts anderes. Wirklich progressiv sind nur jene Strömungen, die diesen inhumanen und stets neue Unmenschlichkeiten hervorbringenden Zustand beenden wollen – und längst Alternativen kennen, leben, voranbringen.

Progressiv ist die Abkehr von der aggressiven Lüge einer angeblich nicht von Machtinteressen und Ungleichheit dominierten ,Globalisierung’. Progressiv ist die Entlarvung aller wohlfeilen, interessegeleiteten Lügen und Vernebelungen der wahren Struktur dieser heutigen ,Globalisierung’ – und das entschiedene Aufzeigen, dass eine völlig andere Wirtschafts- und Lebensweise möglich ist, auch als globaler Zusammenhang der einen Menschheit, die dies unter den Vorzeichen des Kapitalismus jedoch nie sein wird.

Es geht nicht darum, ,Cashcrops’ völlig abzuschaffen. Aber es geht darum, die Bedürfnisse jedes Menschen zu erfüllen – in diesem Fall also die Bedürfnisse des indonesischen Bauern. Wo sich Bauern umbringen, weil sie keine Perspektive mehr sehen, sind sie Opfer reaktionärer Strukturen der Globalisierung geworden. Und auch da, wo sie dauerhaft in Armut gehalten werden – von denselben Strukturen.

Warum werden denn überall die ,Portfolio-Strategien’ beworben? Die Aktienanlagen, die Derivate, die Wertpapiere, die grandiosen Möglichkeiten von Spekulation und Wetten? Weil die Finanzmärkte viel größere Gewinne versprechen als das reale Leben des mühsamen Produzierens für andere Menschen. Weil es zu vielen Menschen und zu vielen Strukturen darum geht, ,Geld zu machen’. Man kann Geld aber nicht ,machen’ – man kann es nur anderen wegnehmen. In dieser Welt existieren gigantische ,leistungslose Einkommen’ – und jedem einzelnen dieser Einkommen entsprechen Menschen, die nicht bekommen, was sie verdienen. Das ist die Realität. Eine Realität, mit der alle progressiven Strömungen dieser Welt brechen.

Teile und herrsche

Posener spielt dann die einzelnen Länder gegeneinander aus. Er führt an, dass Malaysia ein höheres Pro-Kopf-Einkommen habe als die Ukraine, Südafrika ein höheres als Polen oder Portugal – und bezeichnet auf diese Weise den ,Globalen Süden’ wahlweise als ,elitären Club’ oder als Konstrukt. Welch eine zynische Heuchelei! Der elitäre Club ist gerade der Norden – aber Poseners Neusprech nach bester Orwellscher Art wird nicht müde, Gift in die Köpfe zu träufeln, um jedes klare Denken völlig zu verwirren.

In der Tat offenbart es viel über den Norden, dass selbst in Polen oder Portugal das Einkommen niedriger ist als in Südafrika. Es offenbart, dass selbst innerhalb der EU krasseste Unterschiede existieren – trotz Transferleistungen, Förderprojekten und so weiter. Selbst innerhalb der EU ist eine wirkliche Angleichung des Wohlstands nicht gewollt, schon hier regieren krasse Egoismen, die nie wirklich überwunden wurden. So, wie von der Einen Menschheit im Zeichen des Kapitalismus niemals die Rede sein kann, so auch schon von dem Einen Europa nicht. Letztlich ist sich jeder selbst der Nächste. Und der Kapitalismus belohnt dies und erzieht dazu.

Wer dieses System aufrechterhalten will, muss Zwietracht säen – denn um das ,Teile und herrsche und profitiere’ geht es gerade. Und so redet Posener von ,elitären Clubs’, während es um die halbe Welt mit Kolonialismuserfahrung und bleibender Benachteiligung geht. So redet er davon, dass in diesen ,elitären Club’, der von Südafrika bis Malaysia reicht, selbst die noch ärmeren Länder wie Ukraine und Portugal keine Aufnahme finden, es also anscheinend ,rassistische Kriterien’ gebe – kein Argument ist ihm zu pervers, und dann kommt der Satz: ,Kein Wunder, dass im Club der Antisemitismus Konsens ist.’ Dies offenbart Poseners ganzes Denken. Es ist der blanke Hass, offene zynische Antipathie, nur diese können so absolut narzisstisch übersteigerte Lügen produzieren – die Selbstherrlichkeit verhindert jede Erkenntnis des Wahnwitzes eigener Behauptungen. Dem reaktionären Zynismus ist nichts zu billig.

Wahrscheinlich wäre es Posener sogar lieb, würde der Globale Süden die ehemalige Kolonialmacht Portugal und solche Länder wie Polen mit in seinen Kreis aufnehmen – sind sie dem marschierenden Kapitalismus doch eher ein ,Klotz am Bein’. Aber andererseits liefern sie eben auch billige Arbeitskräfte, kann man Standorte dorthin verlagern, um die Profite zu steigern und so weiter. Alles schwierig...

Fortschritte und das Neue

Und so polemisiert Posener weiter. Bei ihm wird nie klar, ob der ,Globale Süden’ nun ein Konstrukt des Nordens oder des Südens selbst ist – aber das ist auch nicht wesentlich für das ,Teile und herrsche’. Hauptsache man stiftet Verwirrung und Unfrieden und kann irgendwo jemanden gegeneinander ausspielen.

Am Ende heißt es bei ihm dann, das Gerede vom Globalen Süden als einer Region, die ,angeblich einen ganz anderen, moralisch besseren, vom Kapitalismus unverdorbenen Blick auf die Welt habe’, sei reaktionär. Dies ist entlarvend. Warum reaktionär? Warum nicht einfach falsch? Aus einem schlichten Grund: Weil es nicht nur darum geht, dass selbst der Süden vom Kapitalismus verdorben wurde – sondern weil, im Gegenteil, der Kapitalismus verherrlicht werden soll. Nicht als Paradies, aber als Nonplusultra. Es gibt nichts Besseres. Das ist die Grundbotschaft eines Posener.

Und dafür entblödet er sich nicht, Marx und Engels ein weiteres Mal zu pervertieren und zu vergewaltigen. Wer wahrhaft links ist, so Posener, ,begrüßt die Fortschritte der bürgerlichen Gesellschaft und baut auf ihnen auf. Wer mit diesen Fortschritten nichts anzufangen weiß, ist reaktionär’. Und im nächsten Satz bezeichnet er die Documenta als reaktionär – implizierend, dass sie mit den Fortschritten nichts anzufangen wisse.

Das alles ist eine große Lüge – bevor man Posener in einem Satz widerlegen kann, hat er schon den nächsten zurechtgelogen. So funktioniert Orwell, so funktioniert Neusprech. Maschinengewehr-Stakkato der Absurditäten. Und wenn die Leute mit diesem Opium zugedröhnt sind, kann man zur Tagesordnung übergehen. Von den Cashcrops des Globalen Südens profitieren und den Zulieferern des globalen Hinterhofs ihren ärmlichen Sklavenlohn zahlen.

Die Fortschritte der ,bürgerlichen Gesellschaft’ sind die Fortschritte der einen Menschheit – nur dass die Superreichen davon am meisten profitieren, während die Menschen, die unter schmutzigsten Bedingungen die Rohstoffe für die Handys etc. gewinnen, am meisten darunter leiden. Aber anfangen können damit alle etwas – auch Ruangrupa kommuniziert mit Handys. Womit Ruangrupa und alle wahrhaft linksgerichteten, progressiven Geister nichts anfangen können, das sind die Rückschritte der kapitalistischen Gesellschaft, die eine zerfallende Gesellschaft ist, weil die prekären Arbeitsverhältnisse, die ,Pflege’ alter und kranker Menschen im Minutentakt, die Ungleichheit, die Unmenschlichkeit, die Visionslosigkeit immer weitere Ausmaße annehmen – und keiner mehr wirklich profitiert, außer ganz Wenige.

Nicht der ,Globale Süden’ ist moralisch besser – auch er wurde vom Kapitalismus, wie Posener richtig formuliert, verdorben. Aber es haben sich dort, gerade auch angesichts des Kolonialismus und darauffolgender Diktaturen noch kulturelle Errungenschaften erhalten, die man mit ,Zusammenhalt’, ,Solidarität’ und ,Wohlwollen’ bezeichnen kann. Auch im Norden gibt es zahllose Menschen, die für dieses Neue stehen. Denn es ist gleichzeitig das Neue, das Progressive, die Zukunft. Nicht Lumbung ist Humbug. Der Kapitalismus ist Humbug. Ein zynischer, lügenhafter Humbug. Es ist Zeit, seine Illusionen so sehr zu entlarven, dass sie sich nicht mehr verstecken können. Hinter keiner Pseudoromantik ideologischer Profiteure.

Quelle

[1] Alan Posener: Die Documenta 15 ist reaktionär. Welt.de, 23.6.2022.

Zum Weiterdenken

Die folgende winzige Auswahl ließe sich ins Endlose verlängern...

[o] Indien: Selbstmord-Serie unter Baumwollbauern. ARD, 29.9.2013.
[o] Tabu-Thema: Selbstmorde von Landwirten. www.agrarheute.com, 22.5.2019.
[o] Das Märchen vom fairen Handel: Wie die EU Ghanas Geflügelwirtschaft zerstört. Deutschlandfunk, 14.12.2015.
[o] Reis-Rekord-Ernte durch biologischen Anbau. Globalmagazin.eu, ca. 2013.
[o] Freihandel - Projekt der Mächtigen. Rosa-Luxemburg-Stiftung, 2014.
[o] „Neoliberale Ideologie ist gescheitert“. taz.de, 16.12.2017.
[o] Neoliberales Denken: Im Kern demokratiefeindlich. Deutschlandfunk, 28.2.2021.