28.06.2022

Was ist das Glück...?

Filmbesprechung: Lunana. Pawo Choyning Dorji (Regie), BHU 2020, 109 min. | Trailer. | DVD (20 €).

Ein tief berührender Film aus Bhutan.

Inhalt
Wider Willen bis ans Ende der Welt
Das Werden eines Lehrers
Bhutan – zerrissen...
...zwischen Tradition und Moderne
Reinheit der Herzen
Singen als Wahrheit der Seele
Ein Yak im Klassenzimmer
Pem Zam
Ein anderer Mensch
Abschied
Aussieland
Ein Wunder
Epilog

Wider Willen bis ans Ende der Welt

Bhutan – ein Land im Himalaya irgendwo zwischen China und Indien. Ein junger Lehramtskandidat, der eigentlich gar kein Lehrer mehr werden will, weil er viel lieber nach Australien gehen möchte – vielleicht als Sänger, denn er spielt schon jetzt mal mit der Gitarre in einem Club in der Hauptstadt Thimphu, deren Namen sicherlich die wenigsten bisher auch nur gehört haben.

Wegen des erhaltenen staatlichen Stipendiums hat Ugyen jedoch noch ein letztes Pflichtjahr zu unterrichten, worauf ihn die zuständige Beamtin unmissverständlich hinweist. Und schlimmer noch. Sie schickt ihn nach Lunana. Seine Frage, ob dies nicht in Gesa liege, bejaht sie lapidar. Es handelt sich um die abgelegenste Gegend sogar noch in Bhutan – und Lunana ist die abgelegenste Schule überhaupt, sicherlich sogar weltweit. Als Ugyen versucht, zu behaupten, er habe ein Höhenproblem, erwidert die Beamtin, er sei Bhutaner, er habe kein Höhenproblem, allenfalls ein Einstellungsproblem.

Gezwungenermaßen verabschiedet sich Ugyen also von seiner Freundin und seinen Kumpeln – sein Freund hat ihm vorher noch versprochen, die letzten Dinge für das Australien-Visum zu regeln. Ugyen aber fährt lustlos mit dem Überlandbus seinem Pflichtziel entgegen, ohne Blick für die Landschaft, mit ipod-Musik auf den Kopfhörern, bis zu dem Ort, von dem aus es nur zu Fuß weitergeht. Dort wird er von Michen erwartet, der die achttägige (!) Reise zu Fuß als einen schönen Spaziergang am Fluss entlang ankündigt. Irgendwann, als Ugyen bald am Ende seiner Kräfte scheint, weil es ständig nur bergauf geht, entschuldigt sich Michen – eine andere Auskunft hätte den Lehrer nur entmutigt...

In Wirklichkeit aber wird der neue Lehrer hoch geachtet. Vor dem Aufstieg wurde sogar Toilettenpapier besorgt – alle anderen begnügen sich mit Laub. Auch bei der ersten schlichten Nachtunterkunft wird deutlich, dass der Lehrer der Ehrengast ist. Der letzte Teil der Reise ist nur noch per Zelt möglich. Auf einer Passhöhe opfert Michen den Geistern und Göttern, auf deren Wohlwollen die Yak-Hirten schlicht angewiesen sind – während Ugyen davon nichts wissen will. Auch sein iPod hat längst seinen Geist aufgegeben. Strom gibt es nun nicht mehr, ,Netz’ sowieso nicht.

Bereits zwei Stunden vor dem Dorf warten nahezu alle der rund fünfzig Einwohner auf den Lehrer, und es gibt eine schlichte zeremonielle Begrüßung, die aber bereits die ganze Dankbarkeit des Dorfes deutlich werden lässt. Gemeinsam dann schließlich in Lunana angekommen, eröffnet Ugyen dem Dorfvorsteher Asha und Michen jedoch gleichwohl, dass er nicht Lehrer sein möchte und nicht bleiben könne – das übrige Dorf steht erwartungsvoll an den glaslosen Fenstern. Asha und Michen sind innerlich wahrscheinlich tief bestürzt. Aber die tief friedvolle Haltung der Yak-Hirten zeigt sich bereits hier: Sie nehmen die Worte des erhofften Lehrers bedingungslos an ... und können nur darauf verweisen, dass die Tiere etwas Ruhe brauchen und man erst nach ein paar Tagen wieder aufbrechen könne...

Das Werden eines Lehrers

Am nächsten Morgen wird er dann aber durch ein Klopfen an seiner Tür geweckt. Er hat den Unterrichtsbeginn verschlafen – vor ihm steht ein aufgewecktes, neunjähriges Mädchen, Pem Zam, die ,Klassenchefin’, ehrerbietig-höflich, voller Lernbegierde, und so lernt Ugyen notgedrungen seine ihn heiß erwartenden Schützlinge zumindest einmal kennen. Und irgendwie schleichen sie sich in sein Herz... Er beschließt, erst einmal zu bleiben. Er schreibt zunächst mit Kohle an die einfache Lehmwand, bevor mit Hilfe einiger weiterer Dorfbewohner eine schlichte Tafel hergestellt wird.

Und dann ist da noch Saldon, eine junge Frau von einer schlichten, aber tiefen Schönheit, die ihn mit ihrem Gesang berührt. Sie singt einfach so auf einem Hügel – auch wieder als Opfergabe an alles um sie herum. Und allmählich beginnt Ugyen, sich diesem Ort, an den es ihn geführt hat, diesen Menschen und ihrer Kultur immer verbundener zu fühlen. Er lernt von Saldon das schwierige Lied Yak Lebi Lahdar. Als das Material, um das er seinen Freund gebeten hat, noch nicht da ist, reißt er das als Windschutz gedachte Papier von seinem Fenster ab, damit die Kinder weiter lernen können. Saldon wiederum bringt ihm ein Yak ins Klassenzimmer, damit er nicht immer so aufwendig Yakmist suchen muss.

Seine wachsende Verbundenheit geht so weit, dass er, als der Winter einzubrechen beginnt, gar nicht wieder aufbrechen will, zumal er den geplanten Stoff für die Kinder noch gar nicht geschafft habe. Aber es hilft nichts – er muss sich verabschieden, will er nicht den ganzen Winter eingeschneit sein. Als er schließlich abreist, erwartet ihn wieder das ganze Dorf an derselben Stelle. Der Blick von Pem Zam ist herzzerreißend. Mit Tränen in den Augen überreicht sie ihm einen kleinen Abschiedsbrief aller Kinder... Saldon läuft ihm noch nach und überreicht ihm einen kostbaren weißen Schal. Sie geht davon aus, dass sie sich wahrscheinlich niemals wiedersehen werden...

In den letzten Minuten sehen wir Ugyen, wie er in einer australischen Kneipe Musik macht – ,Beautiful Sunday’. Er wird bezahlt, Live-Unterhaltung zu liefern. Irgendwann hört er einfach auf zu spielen... Man spürt, er fühlt sich fremd, fern einer wirklichen Heimat. Der Barkeeper fragt ihn mahnend, was los sei, er bezahle ihn dafür, dass er singe. Längst haben sich alle aufgrund der Stille nach ihm umgedreht. Da holt er den alten, gefalteten Australien-Flyer aus seiner Tasche, auf dem er das traditionelle Lied abgeschrieben hat, und beginnt, dieses anzustimmen... Die letzte Rückblende zeigt den verlassenen Klassenraum in Lunana. Ob er zurückkehren wird, weiß man nicht. Dass seine Liebe aber diesen Menschen gehört, das ist sicher...

Bhutan – zerrissen...

Bhutan ist ein Land, das zwischen Moderne und Tradition zerrissen wird. Wer hier die ,Moderne’ eindeutig als das Positive konnotiert, irrt gewaltig.

Das buddhistische Königreich Bhutan ist aber auch das einzige Land der Welt, in dem ganz offiziell das Glück der Menschen Staatsziel ist. Schon im Rechtskodex von 1629 hieß es: ,Wenn die Regierung kein Glück für ihr Volk schaffen kann, dann gibt es keinen Grund für die Existenz der Regierung.’ Lange blieb dies dann unerwähnt, bis 1979 der vierte König Bhutans in einem Interview auf die Frage nach der Höhe des Bruttoinlandsproduktes antwortete, in Bhutan sei das Bruttonationalglück wichtiger. Erneut vergingen zwanzig Jahre, bis 1997 im Fünfjahresplan darauf verwiesen wurde. Im Jahr darauf definierte der Premierminister als dessen vier Säulen eine sozial gerechte Entwicklung, die Bewahrung und Förderung von Religion und Kultur, den Schutz der Umwelt und gute Regierungs- und Verwaltungsstrukturen.[o]

2004 entwickelte das Zentrum für Bhutanstudien in der Hauptstadt neun Domänen: Psychisches Wohlbefinden (Lebenszufriedenheit, Spiritualität), Gesundheit, Zeitnutzung (Arbeit, Schlaf), Bildung, kulturelle Vielfalt und Resilienz, gute Regierungsführung (inklusive politische Partizipation und Freiheit), Lebendigkeit der Gemeinschaft, ökologische Vielfalt (Umweltverschmutzung, städtische Probleme).[o]

Bei der Befragung von 2010 waren 41 % der Menschen glücklich, 49 % eingeschränkt glücklich, mehr als die Hälfte beschrieb sich als sehr spirituell. Auf dem Land waren nur 37 % glücklich, unter den Frauen nur 33 %. 2015 hatten sich diese Werte leicht verbessert, auch bei den Frauen waren nun immerhin 39 % glücklich – der Anteil der sehr spirituellen Menschen war jedoch stark zurückgegangen.[o]

Erst 1999 geschah ein folgenschwerer Schritt: In Bhutan wurde Fernsehen und Internet eingeführt. Die damit einhergehende Veränderung des Bewusstseins brachte sämtliche Erscheinungen der ,Modernisierung’ mit sich: Zusammenbruch traditioneller Lebensweisen und Werte, Zersplitterung von Großfamilien, Landflucht, zunehmender Materialismus. Zu den unglücklichsten Menschen gehören nicht nur Bauern, sondern auch junge Menschen. Viele verlassen das Land, um woanders ,ihr Glück zu suchen’ und an der Moderne teilzuhaben. Die Suizidrate ist zuletzt gestiegen und die sechsthäufige Todesursache, Bhutan liegt hier heute an 18. Stelle weltweit.[o]

...zwischen Tradition und Moderne

Diese Zerrissenheit des Landes spielt im Film eine große Rolle. Es ist offensichtlich, dass Ugyen das, was er als ,Enge der Tradition’ wahrnimmt, nicht aushält. Er will nicht Lehrer sein, er will nicht bei seiner Großmutter leben – er will nach Australien! Musik machen! Hinaus in die Welt!

Die Gegenseite wird immer wieder angesprochen. Als Ugyen mit seinen Freunden anfangs in einem Club ist, fragt ihn einer der Freunde, warum er unbedingt nach Australien wolle, er habe einen geachteten Job... Und seine Großmutter – lasse er sie etwa alleine zurück? Später sagt auch seine Großmutter: ,Es ist eine Ehre und du willst den Job aufgeben?’ Und: ,Es gibt nur noch uns zwei. Warum willst du weg?’ Als er sie fragt, ob sie überhaupt wisse, wo Lunana liegt, erwidert sie: ,Egal, wohin sie dich schicken, geh einfach hin.’ Aber dann ist die Liebe doch immer hilflos: ,Was soll’s, tu, was du willst...’

Doch zunächst muss Ugyen tun, was er nicht will – sein letztes Pflichtjahr hinter sich bringen und in die Einöde gehen. In der ärmlichen Unterkunft, in der sie beim Aufstieg zunächst noch Rast finden, geht der Vater trotz Kälte barfuß – er habe nie Schuhe gehabt, es sei so bequemer, außerdem habe er kein Geld. Ugyen sieht dann, wie aber der kleine Sohn der beiden Gastgeber neue Gummistiefel hat. Elternliebe...

Auch sein Führer Michen hat nur Gummistiefel. Ugyen hatte sich vor der Abreise teure Goretex-Schuhe gekauft, aber entgegen der Versprechung sind sie nicht dicht. Schlammübersät fragt er Michen, wie er es mache, dass seine Stiefel so sauber sind. Dieser erwidert: ,Ich versuche, nicht in den Schlamm zu treten.’ Ugyen weist entgeistert auf den Weg: ,Wie meinen Sie das? Da ist überall Schlamm!’ Michen wiederum erwidert, hätte er so schicke Schuhe wie Ugyen, könnte er damit wahrscheinlich gar nicht gehen... Selbst solche Szenen leisen Humors tauchen tief ein in etwas still Menschliches – und bereits in der nächsten Szene reibt Michen Ugyens Füße mit etwas Heilendem gegen die Blasen ein und hängt seine nassen Socken ans Feuer.

Bald darauf hat Ugyens iPod keinen Strom mehr, und seine Kopfhörer werden nutzlos. Nun hat er die Moderne zunächst völlig hinter sich gelassen. Sein einziger Luxus wird das vor dem Wind schützende Papier vor den Fenstern seiner Hütte sein – die anderen Dorfbewohner haben selbst dies nicht.

Reinheit der Herzen

Ugyen kann zunächst nicht das Geringste mit den Liedern anfangen, die schon die beiden Männer während des Aufstiegs am Feuer singen – die aber zutiefst die Seelen-Wahrheit dieser einfachen Yak-Hirten offenbaren:

     Wie Milch in einer Porzellantasse
     so rein ist das Herz, So rein,
     selbst wenn die Tasse zerbricht,
     die Milch bleibt Milch.

Und später:

     Wie das Wasser in einer Vase
     so klar ist das Herz. So klar,
     dass sich unendliche Schönheit
     in seinen Tiefen spiegelt.

In einer Szene weist Michen auf die Schneegipfel, die nur noch teilweise bedeckt sind: ,Als ich ein Kind war, waren alle diese Berge mit Eis und Schnee bedeckt. Heute sind sie nie mehr weiß.’ Ugyen erwidert: Wegen des Klimawandels, der Erderwärmung. Michen versteht nicht einmal das Wort: ,Keine Ahnung, was Sie mit Erderwärmung meinen. Aber der mythische Schneelöwe lebt in Eis und Schnee. Da es immer weniger Schnee und Eis gibt, verliert er sein Zuhause. Ich fürchte, dass der Schneelöwe für immer aus unserer Welt verschwindet.’

Michen lebt noch ganz im Einklang mit der Natur und der mythischen Realität. Er und der andere Yak-Hirte opfern am letzten Pass den Schutzgöttern, bessern liebevoll die dort hängenden Wimpel aus und rufen in die Weite: ,Sieg den Göttern!’. Da ist nichts ,bloße Tradition’ – dies ist alles noch aufrichtig gemeint, gefühlt, erlebt...

Der Dorfvorsteher Asha ist dann ein sehr einfacher, gütiger, stiller Mann. Als das ganze Dorf Ugyen begrüßt, sieht man die ärmlichen Gesichter der Menschen. Asha weiß, wie kostbar jegliche Bildung ist. Ehrerbietig heißt er Ugyen willkommen und sagt, als sie sich zu zweit für einen kurzen zeremoniellen Tee auf den Boden gesetzt haben: ,Sie sind unserer Lehrer, und ich hoffe, dass Sie diesen Kindern, die Bildung vermitteln, damit Sie mehr als bloße Yak-Hirten und Pilzsammler werden...’

Asha geht es darum, diesen Kindern eine Zukunft zu bereiten. Er möchte ihr Bestes. Er weiß um die Ärmlichkeit und Härte dieses Lebens in fast fünftausend Meter Höhe. Er denkt nicht daran, dass diese Kinder einst selbstbezogen ein materielles Glück suchen sollen – im Grunde geht es nur um eine tiefe Liebe, die noch ganz ohne falsche Kontur das Beste will... Es ist im Grunde reine Wärme-Hoffnungs-Kraft für die nächste Generation der Kinder...

Singen als Wahrheit der Seele

Gesang ist ein Mysterium. Es ist eine heilige Äußerung des tiefsten Menscheninneren. Es ist kein Zufall, dass auch in dem von mir kürzlich besprochenen Anime-Film ,Belle’ das Singen eine so zutiefst erlösende Bedeutung hat.

In Lunana hört Ugyen die junge Saldon singen. Er erfährt, dass sich das Lied ,Yak Lebi Lhadar’ nennt. Das erste Mal begegnet er ihr, als er vergeblich versucht hat, Feuer zu machen, und Michen ihm zeigt, wie hierfür der kostbare Yakmist getrocknet wird. Ugyen geht los, um welchen zu sammeln. Längst hat er alle falschen Empfindungen soweit abgestreift, dass er mitten in noch feuchten Yakmist hineingreift und diesen in einen Korb legt. Als er dann auf die singende Saldon trifft und sich versehentlich mit noch etwas schmutziger Hand das Gesicht wischt, ist sie auf sehr berührend-bescheidene Art belustigt.

Auf seine Frage, ob sie immer hier auf dem Hügel singe, nickt sie nur. Als er fragt, warum, sagt sie: ,Einfach so... Es sind meine Opfergaben...’ Sie geht dann, aber er läuft ihr hinterher: ,Warten Sie! Was meinen Sie mit Opfergaben? Ich verstehe das nicht.’ Und erneut zeigt sich die Seelenreinheit dieser Menschen: ,Ich bringe das Lied allen Lebewesen dar, allen Menschen, den Tieren, den Göttern, allen Geistern in unserem Tal.’ Noch immer fragt Ugyen: ,Was meinen Sie damit?’ Und sie erwidert: ,Wenn die Schwarzhalskraniche singen, kümmern sie sich nicht darum, wer es hört oder was die anderen denken. Es sind ihre Opfergaben. Genau so will ich singen.’

Irgendetwas in Ugyen ist davon tief berührt. Er fragt Saldon, ob sie ihm das Lied beibringen könne. Sie ist erstaunt – und sagt dann, na gut, irgendwann mal... Bevor sie nun endgültig geht, gibt sie ihm noch den zarten Hinweis: ,Sie sollten den trockenen sammeln... Den trockenen Yakmist.’

Die junge Saldon ist eine der still leuchtenden Seelen in diesem Film. Sie drängt sich nie auf – sie entzieht sich eher. Mehrmals geht sie, als bei Ugyen vielleicht die entscheidenden Fragen und Empfindungen gerade erst zu keimen beginnen. Aber gerade dadurch ist sie eine stille Säerin von Fragen, von Sehnsucht ... nach etwas Unbekanntem. Nicht nach ihr, das vielleicht auch ein wenig, vor allem aber nach dem, was sie so reich und so rein in ihrer Seele trägt und hütet...

Bei einem Essen bei Asha, dem Dorfvorsteher, erfährt er, dass vor vielen Jahren dessen Frau zusammen mit einem ungeborenen Kind starb. Die Mächte des Schicksals sind hier durch keinerlei moderne Medizin aufzuhalten. Darum aber ist auch jeder Moment tiefer. Als Ehrengast bekommt Ugyen beim Essen eine Holzschale, obwohl er zunächst abwehrt. Dann aber erinnert er sich an seine Großmutter, die ihn auch immer aus ihrer Holzschale essen ließ, das Essen schmeckte besser – und jetzt genau wie damals. Er vermisse sie in diesem Moment gerade...

An einem nächsten Tag erfährt Ugyen noch mehr über die Verbindungen untereinander, als er Saldon bei Asha antrifft, weil sie gerade frischen Käse gebracht hat. Saldons Mutter ist für Asha wie eine Schwester. Als sie jung war, brach sie sich beim Holzsammeln ein Bein, und das ganze Dorf kam und half ihr. Saldon war noch ein kleines Kind und weinte die ganze Zeit – und Asha habe gesungen, um sie zu beruhigen.

Ein Yak im Klassenzimmer

Ugyen ist nun so weit, dass er, als Asha ihm sagt, er tue den Kindern so gut und alle im Dorf seien sehr glücklich, erwidert: ,Ich bin glücklich, dass ich hier bin.’ Asha erwidert, das müsse eine karmische Verbindung sein. Und hier kommt nun auch diese Ebene zur Sprache – etwas, was eine materialistische Kultur völlig ausklammert und blind beiseite wischt. Ugyen erwidert halb scherzhaft: ,Ja, vielleicht war ich in meinem früheren Leben Yakhirte.’ An Ashas Antwort zeigt sich jedoch die tiefe Demut eines Menschen, dessen Erleben noch das tiefe Angewiesensein kennt. ,Nein, Sie waren mehr als bloß Yakhirte. Vielleicht waren sie ja ein Yak.’ Ohne die Yaks könnten die Menschen hier nicht überleben – und so ist ein Yak weit mehr als nur ein Nutztier.

In der nächsten Szene trifft Ugyen Saldon im Klassenzimmer an – und wird dann gleichsam von dem Anblick eines Yaks erschlagen, das sie hereingebracht hat. Auf seine fassungslose Frage erklärt sie ihm: ,Das ist Norbu, unser ältestes Yak. Ich bringe ihn Ihnen.’ Auf diese Weise muss der vom ganzen Dorf geehrte Lehrer nicht mehr die weiten Wege auf der Suche nach Yakmist machen. Der Name Norbu wiederum bedeutet ,wunscherfüllendes Juwel’, es ist eigentlich ein Ehrenname für verehrte menschliche Lehrer, etwa buddhistische Meister. Hier wird erneut deutlich, wie tief Demut, Bescheidenheit und Verehrungskräfte in den Seelen dieser Menschen noch leben.

Bevor sie geht, kommt Saldon seiner früheren Frage in einem schlichten Moment einen weiteren Schritt näher: ,Hier, der Text von Yak Lebi Lhadar...’ Er aber fragt, ob sie es ihm beibringe – und auch dazu ist sie bereit. Und als sie auf Saldons Hügel sitzen, wird das enge Band zwischen Mensch und Tier vollends offenbar, denn die junge Frau lässt ihn nun völlig an dem Geheimnis dieses Liedes teilhaben:

,Das Band zwischen einem Yak und seinem Hirten ist heilig. [...] Ihr Leben lang sind Yaks uns so nützlich. Wenn das Dorf Fleisch brauchte, trieben sie alle Yaks zusammen, warfen ein Lasso aus, und das Yak, das so gefangen wurde, wurde geschlachtet. Ein herzzerreißender Moment für das ganze Dorf. Wir hatten im Dorf einen Hirten, der nach Tibet auf den Markt ging. Weil sie ein gemeinsames Karma teilten, fiel das Lasso auf sein Lieblingsyak. Es musste geschlachtet werden. Dieser Hirte hat das Lied geschrieben. Hier schreibt er: Ich überlebe dank meinem Yak. Und dann noch, dass Yaks das Hochgebirgsgras und das Schmelzwasser im Frühling lieben. Aber eigentlich will er damit die Reinheit unserer Herzen preisen. Das reine, unverschmutzte Land, wo der Schnee das ganze Jahr liegen bleibt, ist eigentlich ein Abbild unserer Herzen. Am Ende des Lieds antwortet das Yak dem Hirten: Das Band zwischen uns wird niemals durchtrennt. [...] Ob in diesem Leben oder im nächsten, ich komme heim, wie ich das jeden Abend tue...’

Pem Zam

In diese Kultur einer schlichten, tiefen Gemeinschaft ist nun auch das Mädchen Pem Zam hineingeboren, die neunjährige ,Klassenchefin’ mit ihrem wachen, aufgeweckten Wesen – und ihrer großen, völlig natürlichen Ehrerbietung für den Lehrer, die auch nie übertrieben wirkt, immer aber tief berührt, weil man spürt, was ein Lehrer hier bedeutet. Auch Ugyen spürt das – und kann sich dem letztlich überhaupt nicht mehr entziehen.

Pem Zam ist es, die ihn am ersten Morgen weckt und ihm mit geradezu leuchtenden Augen erklärt, dass alle auf ihn warten... Sie ist es, die ihm den Schulgong überreicht, weil er den Anfang und das Ende des Schultages verkünden muss. Dabei hat dieses wunderbare Mädchen mit seiner so absolut natürlichen Ehrerbietung ein durchaus schweres Leben – denn ihr Vater ist dem Alkohol verfallen. Auch dies ist also in Einzelfällen bereits bis in die entferntesten Orte der Welt gedrungen. So lebt Pem Zam bei ihrer Oma. Als Ugyen dies von ihr selbst erfährt, ist es einer der frühen Momente, die ihn tief nachdenklich machen.

Was Bildung bedeutet, zeigt noch eine andere Szene, in der eine andere Großmutter ihre kleine Enkelin bringt, mehrere Stunden von einem anderen Berg kommend, weil es dort überhaupt keine Schule gibt... In dieser Zeit zeigt Michen ihm auch, wie man mit Yakmist ein Feuer entzündet und sagt: ,Wir setzen alles daran, dass Ihnen hier warm ist und Sie sich wohl fühlen.’ Es kommt dann zu folgenden kleinen Dialog:

,Sie sind alle viel zu ehrerbietig. Meine Freunde würden das witzig finden.’
,Na, Sie sind doch der Lehrer.’
,Ein Lehrer ist wie jeder andere.’
,Das kann man nicht vergleichen. Ein Lehrer berührt die Zukunft.’
Ugyen hat den Satz selbst auch vervollständigt, und auf Michens erstaunte Frage berichtet er:
,Der kleine Junge sagte es heute Morgen.’
,Asha sagt immer, dass jeder Lehrer respektvoll behandelt werden muss, denn er hat unsere Zukunft in der Hand.’
,Während meines Studiums zum Lehrer hat das niemand gesagt.’

Erst hier, bei diesen Menschen mit ihren reinen Herzen, wird das Geheimnis wahrhaft ausgesprochen – weil es noch in absoluter Tiefe empfunden wird.

Pem Zam bemerkt auch, dass das Papier, das der Lehrer auf einmal hat, als das andere verbraucht ist, seltsamerweise traditionelles ist. Ugyen behauptet, er habe es noch in der Truhe seines Vorgängers gefunden. Sie aber wird sehr bald begreifen, dass es sich anders verhält. Und sie wird es sein, die ihm beim Abschied mit Tränen in den Augen den schlichten Brief überreicht, den sie mit allen anderen Kindern gemeinsam geschrieben hat...

Ein anderer Mensch

Es sind kleine, geradezu symbolische Momente, die offenbaren, wie sehr Ugyen sich verändert hat. Irgendwann sitzt er bei sich zu Hause, und obwohl die Sonne scheint, muss er sich eine Decke umlegen, denn der Winter naht. Er übt das ,Yak lebi Lahdar’. Weil die Sonne scheint, gibt es für kurze Zeit sogar Strom. Der auf dem Boden liegende iPod geht in diesem Moment – aber Ugyen beachtet ihn gar nicht... Als er schließlich Lunana verlassen wird, wird er das kleine Gerät sogar völlig verstaubt vom Boden aufheben.

Noch einmal wird die Tragik deutlich, um die es geht, als Asha ihn mahnt, jetzt müsse er wirklich aufbrechen: ,Niemand will, dass Sie gehen. Aber es geht nicht anders. Kommen Sie in einem Jahr wieder. Im Interesse der Kinder.’ Ugyen gesteht ihm: ,Aber Asha, ich verlasse Bhutan.’ ,Für wie lange?’ ,Vielleicht für immer.’ Und nun fasst Asha den ganzen Widerspruch dieses kleinen, fast unbekannten Landes in schlichte Worte: ,Ich habe gehört, dass viele uns für das glücklichste Land der Welt halten. Doch Sie, jemand, der gebildet ist, der dem Land dienen kann, der die Zukunft unseres Landes ist, wollen das Glück woanders suchen?’ Und doch lässt die Ehrfurcht vor der Freiheit des Anderen ihn sofort hinzufügen: ,Ich werde Michen und Singye beauftragen, die Maultiere bereit zu machen. Sie sollten übermorgen aufbrechen.’

Ugyen wird hier in einer stillen Weise zutiefst mit der Ebene des Wesentlichen konfrontiert... Wenig später kommt es zu einer Begegnung mit Saldon, die ihn an einem Holzzaun aufsucht, allein schon die Bewegung ihrer Hände an dem Holz zeigt die tiefen Empfindungen, die mit diesen letzten Begegnungen verbunden sind.

,Asha sagte, dass Sie übermorgen abreisen.’
,Ja.’
,Sie kommen im Frühling nicht zurück?’
,Es sieht so aus.’
,Sie wollen nicht hier unterrichten?’
,Ich bin mir sicher, dass ein besserer Lehrer kommen wird.’
,Sagen Sie so etwas nicht. Sie werden nie erfahren, ob sie ein guter Lehrer sind oder nicht. Nur Schüler wie Pem Zam, Kencho und Pema könnten das sagen. Sie behaupten, dass sie noch nie so glücklich waren. Alle sind ganz traurig, dass sie weggehen. Mir wird Ihre Stimme in der Schule fehlen.’

Ugyen fragt sie, ob sie einmal in die Hauptstadt kommen werde. Sie verneint: ,Nein, hier ist mein Zuhause. Meine Mutter lebt hier. Sie wird langsam alt und die Kälte schmerzt in ihren Füßen. Ich will hierbleiben. Ich warte hier, bis Sie ,Yak lebi Lahdar’ perfekt beherrschen.’ Als sie geht, fügt sie noch hinzu: ,Singen Sie wie die Schwarzhalskraniche.’

Ugyens Pläne mögen sich scheinbar noch immer nicht geändert haben, aber jede kleine Szene lässt ahnen, wie sehr nichts anderes ihm je wieder so viel bedeuten wird wie dies alles – wie sehr, wie unaufhaltsam sich all dies in seiner ganzen Tiefe in sein Herz stiehlt, heimlich, still, rein und aufrichtig...

Abschied

Schließlich kommt es zu den letzten Szenen. Noch einmal sieht man das Yak im Klassenzimmer. Ugyuen sitzt ganz in seiner Nähe und spielt auf der Gitarre, übt den traditionellen Gesang. Wischt die Tafel ab, alles, was er für die Kinder darauf geschrieben hatte... Stellt die Bänke zusammen, für einen Nachfolger. Holt die Flagge ein, die vor der Schule wehte. Verstaut alle Materialien wieder ordentlich in der Truhe. Schließt die Fensterläden. Und führt zuletzt Norbu, das Yak, heraus.

Schließlich holt Michen ihn ab: ,Herr Lehrer, Singye und ich sind bereit.’ Schweren Herzens macht er sich auf den Weg. Und er versucht zu trösten: ,Im Frühling kommt bestimmt ein neuer Lehrer.’ Michen erwidert nur: ,Ja, aber keiner wie Sie...’ Noch einmal blickt Ugyen zurück, kann sich kaum lösen...

Am Ende wartet wiederum das ganze Dorf an derselben Stelle, wo es ihn auch empfangen hatte. Wieder gibt es eine stille, kleine Zeremonie. Und Asha spricht: ,Ich biete diesen Reiswein den Beschützern des Hochlands an. Bitte beschützt unseren Lehrer Ugyen, so wie ihr auch uns beschützt. Denn auch er ist ein Sohn Lunanas, der seit immer karmisch mit unseren schneebedeckten Bergen verbunden ist.’ – Dies ist die höhere Wahrheit. Asha empfindet sie ... und selbst Ugyen möglicherweise längst irgendwo in seinem Innern.

Dann kommt die kleine, zutiefst berührende Szene, in der Pem Zam den Brief der Kinder überreicht... Und danach noch jene, als zuletzt Saldon ihm nacheilt, um ihm den weißen Schal zu überreichen: ,Wir werden uns wohl nie mehr sehen.’ Ugyen dankt ihr für alles. Und Saldon sagt zum Abschied: ,Wir werden immer hier sein.’ Es braucht keine anderen Worte, die noch tiefer in das Herz dringen würden...

Michen weist ihn dann noch auf die Höhe, von der ein Gesang ertönt. Erstaunt begreift Ugyen, dass es Asha ist, der singt – und zwar das ,Yak Lebi Lahdar’. Michen entgegnet nur, dass die Yakhirten wie gesagt alle singen können. Außerdem sei es sein Lied. ,Das Yak Lebi Lahdar ist von Asha?’ ,Ja Asha galt als einer der besten Sänger im Dorf. Er war jung, als er das Lied das erste Mal sang. Aber ... dann hörte er auf zu singen, als seine Frau starb. Er sagte immer, er werde erst wieder singen, wenn sein Yak nach Hause zurückkehrt.’ Dies ist die Art des Dorfvorstehers, dem Lehrer die letzte Ehre zu erweisen und deutlich zu machen, wie dem ganzen Dorf nichts Kostbareres geschehen konnte... Auch die weißen Tücher, mit denen das Dorf ihm hinterherwinkt – in Wirklichkeit ist dies eine Tradition gegenüber hohen Lamas und Angehörigen des Königshauses...

Beim Hinabgehen öffnet Ugyen den zusammengefalteten Brief der Kinder: ,Danke, dass Sie uns unterrichtet haben. Sie waren uns der liebte Lehrer, Sie zeigten uns, wie wichtig es ist, ein gutes Herz zu haben. Wir werden nie vergessen, dass Sie das Papier von ihren Fenstern gerissen haben, damit wir lernen konnten. Um uns Kinder willen und für Norbu, das Yak, bitte kommen Sie wieder. Wir danken Ihnen sehr.’

In aller Tiefe erhebt sich die heilige Frage, wer hier eigentlich wessen Lehrer gewesen war. Und doch zeigt dies die unverbrüchliche Ehrfurcht und Liebe der Kinder zu ihrem Lehrer – jenem Lehrer, der mit ihnen die Lieder sang, die das Leben dieser Menschen in seinem ganzen Wesen offenbaren: ,Wie Milch in einer Porzellantasse so rein ist das Herz... Wie das Wasser in einer Vase so klar ist das Herz...’ Und dann auch: ,Wie Bambus, der im Wind tanzt, so bescheiden ist das Herz. So bescheiden, dass es sich dem Wind beugt und doch niemals bricht. Denn einem so reinen, klaren, bescheidenen Herzen folgt das Glück wie ein Schatten. Das Glück folgt wie ein Schatten...’

Aussieland

In einer der ersten Szenen sang Ugyen im Club der Hauptstadt begeistert von ,Aussieland’ (Australien), voller Träume – von Freiheit, von unbeschwertem Leben.

In den letzten Szenen ist er tatsächlich in Australien. Sie beginnen mit Wasser, das an einen Strand spült, mit der Kulisse des Opernhauses von Sydney. Der Meeresspiegel und die kurz eingeblendete Einwohnerzahl von Sydney bildet den absoluten Gegensatz zum Bisherigen: Thimphu, 101.238 Einwohner, 2201 Meter hoch – Gasa, der letzte Ort vor dem Aufstieg, 448 Einwohner, 2800 Meter hoch – Lunana, 56 Einwohner, 4800 Meter hoch.

Nun sitzt Ugyen wieder in einem Club, einer Kneipe, alle Leute unterhalten sich unbeschwert – er aber macht Musik, muss Musik machen, zur Unterhaltung der anderen. Und auf einmal steigt es unaufhaltsam in ihm herauf: das Gefühl der Fremde. Das Gefühl, dass er hier ein Fremder ist. Dass dies nicht das ,Glück’ ist – dass er es hier nicht gefunden hat. Er war in die Fremde, in die Ferne gegangen, weit weg – aber das Glück hat er hier nicht gefunden. Er spielt für Geld, zur Unterhaltung anderer...

Und dann kann er auf einmal nicht mehr weiterspielen. Er kommt mit den tieferen Schichten seiner Seele in Berührung, die ihn damit konfrontieren, dass er die Wahrheit, die Tiefe, das Eigentliche gerade verlassen hat. Und geführt von einer unabweislichen Sehnsucht, sich mit diesem Wahren, Wesentlichen in Übereinstimmung zu bringen, holt er den abgegriffenen, gefalteten Flyer aus seiner Tasche, faltet ihn auf ... und beginnt verletzlich – denn dies ist für ihn nun wirklich intim, heilig, bedeutsam –, das Yak Lebi Lahdar anzustimmen.

Damit endet der Film, genauer gesagt mit einer Rückblende auf den Klassenraum in dem ärmlichen Dorf Lunana, wo Ugyen so tief verändernde Erlebnisse gehabt hatte. Wo jeder jeden kannte und mehr als nur kannte. Und wo selbst die Tiere alle Namen hatten, sogar die einfachen Lasttiere. Eine Welt, in der alles Überflüssige abfällt, das Wesentliche aber umso reiner leuchtet. Still... Niemals zwingend, nicht einmal drängend. Einfach nur da seiend. ,Wir werden immer hier sein...’

Es bleibt offen, was Ugyens Zukunft sein wird. Aber es ist völlig offensichtlich, was für immer seine Heimat sein wird. Die innerste Heimat, die ihm jeder einzelne dieser Menschen geschenkt hat: Michen, Asha, Pem Zam, Saldon – und auch alle anderen. ,Aussieland’ ist nicht Ugyens Heimat. Diese geht viel, viel tiefer...

Ein Wunder

Mit seinem ersten Film hat Pawo Choyning Dorji ein stilles, kleines, unvergängliches Meisterwerk geschaffen. Und dieser Film war von kleinen Wundern regelrecht gesäumt.

Das erste Wunder ist bereits, dass ein solcher Film entstehen konnte. Nichts ist hier gestellt – und das bedeutet, schon das Zubehör musste mit über 70 Maultieren an einen der allerentlegensten Orte der Erde geschafft werden. Die Vorbereitungen dauerten anderthalb Jahre – die Drehzeit dann noch zwei Monate, September und Oktober, die einzigen beiden Monate, in denen die Sonne scheint, denn Lunana bedeutet wörtlich ,das dunkle Tal’.

Auch Dorji war auf Solarenergie angewiesen. Letztlich gab es nur eine einzige Kamera. Wäre diese ausgefallen, wäre das Projekt gestorben. Die tägliche Energie reichte nicht einmal dafür, die gedrehten Szenen noch einmal anzusehen. Es ist dort oben auch wirklich kalt. Duschen gibt es nicht – und selbst wenn es sie gäbe, würde man sie wegen der Kälte nicht benutzen können. Schon zum Schlafen kann man sich im Grunde nicht umziehen... Wohl kaum ein anderes Team wäre auch nur zu den Rahmenbedingungen bereit gewesen. Die eigentliche Postproduktion musste dann in Taiwan erfolgen, weil es in Bhutan für diese Schritte nicht einmal die nötige Technik gab.

Der Film hatte zunächst keinerlei Fürsprecher – das kleine Team musste alles selbst machen. Nachdem der Film aber im Oktober 2019 seine Weltpremiere bei einem Filmfestival in London hatte, wurde über soziale Medien die Agentur ,Film Boutiques’ aufmerksam und engagierte sich – und nun waren die nächsten Schritte möglich. Der Film wurde auf über sechzig Festivals gezeigt, gewann mehrere Preise, unter anderem kurz vor der Corona-Krise Anfang 2020 den Publikumspreis in Palm Springs – und wurde schließlich sogar für den Oscar vorgeschlagen. Zunächst scheiterte alles weitere, weil der Vorschlag nicht angenommen wurde, da Bhutan nicht einmal ein Auswahlkomitee hatte. Erst als die Regierung dieses etabliert hatte, konnte der Film für 2022 noch einmal vorgeschlagen werden.

,Lunana’ war einer von 93 Filmen und stand an letzter Stelle der Rangliste. Für die Möglichkeit eines Oscars bräuchte man unbedingt einen Vertrieb und ein Werbeteam in den USA, hörte Dorji, und beides hatte er nicht. Als der Film es trotz allem Ende 2021 in die Shortlist schaffte – wiederum an letzter Stelle von fünfzehn Oscar-Kandidaten –, fanden sich ein US-Vertrieb und Werbeteam. Nun wurden die Medien auf den Film aufmerksam – und das Unmögliche geschah: ,Lunana’ wurde als einer von fünf Filmen für die endgültige Oscar-Entscheidung nominiert.

Damit war etwas geschehen, was niemand auch nur im Entferntesten für möglich gehalten hatte. Ein kleines, aber zutiefst reales Film-Wunder hatte die internationale Aufmerksamkeit, die es verdiente, im Grunde mehr als jeder andere Film.

Epilog

Trotz dieser Erfolgsgeschichte und dieses einzigartigen Kleinods von Film berichteten nur wenige der großen deutschen Medien [o o o] – und lief der Film Anfang 2022 offenbar nur in sehr wenigen, ausgewählten Kinos. Noch immer gibt es nicht einmal einen Wikipedia-Eintrag.

Dies zeigt, nach welchen falschen, zutiefst fragwürdigen Mechanismen heute alles läuft – beginnend bei den Medien und dann erst recht in der Film- und Kinoindustrie. Sicherlich wird immer mit dem Interesse der Leser und Kinogänger argumentiert werden, aber Medien und Industrie antworten nicht nur auf ,Geschmack’ und ,Interesse’, sie schaffen diese auch. Die Industrie mit Millionenetats für Werbung und entsprechende ,Blockbuster’. Dass hiermit die Seele aber von Anfang an korrumpiert wird, scheint nicht einmal mehr reflektiert zu werden. So sind alle Seiten fortwährend an der ,Materialisierung’ der Seele beteiligt.

Dorji, der sich selbst sehr wohl auch als Weltbürger fühlt, weil er als Kind eines Diplomaten in Indien, im Mittleren Osten und in Europa aufwuchs und in den USA studierte, sagt über seine Heimat dennoch:[o]

The Bhutanese spiritual traditions and culture are so uniquely Bhutanese, yet most of us rush to become a modern developed nation. We are trying so hard to strip these away as globalisation calls for all of us to be as similar as possible. I’m worried that in our rush to be a modern nation, we are losing what makes us Bhutanese. I was motivated to make this movie to highlight the beauty of Bhutanese traditions.

Auch die Szene mit dem ,Schneelöwen’ war von Dorji selbst erlebt – und er erzählt darüber:[o]

One time I was hiking in Lunana and this man told me, “When I was young, there was snow and ice all over the mountain, but now every year it’s becoming less and less.” And I said “Oh it’s global warming.” He said, “I don’t know what global warming is, but this is the home of the snow lion. And the snow lions are disappearing from the world.”
And I realized the wisdom of this because what he’s saying is that the heart of enlightenment is disappearing because of over-consumption, because of putting our wants ahead of our needs.

Dorji hielt die Reinheit der Seelen der Menschen in Lunana fest, bevor auch sie am Verschwinden ist. Immer wieder fragte er sich, ob es richtig sei, diesen Film überhaupt zu machen und das Dorf nicht viel eher ganz in Ruhe zu lassen. Aber der ,Fortschritt’ war ohnehin nicht aufzuhalten. Kaum waren die Dreharbeiten vorbei, kamen völlig unabhängig davon Telekom-Arbeiter in das Dorf und installierten einen 3G-Sendemast, und die Regierung begann, auch in Richtung dieser entlegenen Region Straßen zu bauen.

Der materielle Lebensstandard der Dorfbewohner von Lunana wird sich verbessern – aber Schönheit und Reinheit, beauty und purity, werden verschwinden.

Die Menschheit steckt in so unendlich tiefen Krisen – und begreift noch immer nicht, ja immer weniger, welche einzigartige Kostbarkeit das Heiligtum der Seele ist. Leerer und leerer wird die Welt, während die Flut der ,Genüsse’ und Ablenkungen zunimmt, aber die Herzen mehr und mehr das Heilige wahrer Heimat verlieren. Diese Heimat wäre gerade die Reinheit – und alles, was diese Reinheit dann als Heimat empfinden würde...

Quellen

[o] Interview: The Director of 'Lunana' on making the Oscar finals, working with yaks, and meeting Ang Lee. thefilmexperience.net, 26.1.2022.
[o] Director of Bhutan’s First Oscar Nod on Being the Underdog and Happiness. www.tatlerasia.com, 11.3.2022.
[o] From the World’s Smallest Classroom to the Oscars – Interview with Pawo Choyning Dorji. www.davestravelcorner.com, 31.3.2022.
[o] Wikipedia: Bruttonationalglück.
[o] Bhutan verlässt das Glück. Ärztezeitung, 18.3.2019.