22.11.2023

Das stille Leuchten

Filmbesprechung: The Quiet Girl. Colm Bairéad (Regie), IRL 2022, 96 min. | Trailer.


Inhalt
Die Handlung
Völlig unerwarteter Erfolg
Hintergründe
Einer der zärtlichsten Filme...
Zur Schau gestelltes Leid?
Zwischen Konkurrenz, Empowerment und Hass
Die stille Botschaft des Mädchens
Das heilige Leuchten


Die Handlung

Ein wunderschöner Film aus Irland. Er basiert auf der Kurzgeschichte ,Foster’ der irischen Autorin Claire Keegan, die 2010 in der Zeitschrift ,New Yorker’ und kurz darauf erweitert als eigenes Büchlein erschien.

Die Handlung ist schnell umschrieben. Im Frühjahr 1981 ist das Mädchen Cáit (gespielt von der elfjährigen Catherine Clinch) die jüngste Tochter einer kinderreichen, dysfunktionalen Familie, in der sie keinerlei Zuwendung erfährt. So ist sie extrem scheu und spricht so gut wie überhaupt nicht. Da die Mutter ein weiteres Baby erwartet, fährt der Vater sie zu entfernten Verwandten aufs Land. Die Frau, Eibhlín, begegnet dem Mädchen jedoch mit ausgesprochener Liebe, und Cáit erfährt zum ersten Mal, was es bedeutet, geliebt zu werden. Eibhlíns Mann Seán ist jedoch ebenfalls abweisend. Nach und nach erweist sich, dass er selbst eher begegnungsscheu ist – und dass es auch noch einen anderen, traurigen Grund gibt... Schließlich findet auch er Wege der vorsichtigen Begegnung, und Cáit erlebt mehr und mehr, was ,Familie’ und Geborgenheit bedeuten würde. Dann aber geht der Sommer zu Ende, und ihre leiblichen Eltern wollen sie wohl oder übel wieder zurück, weil die Schule wieder anfängt...

Völlig unerwarteter Erfolg

Der Film wurde in Irland selbst zu einer kleinen Sensation, da es bisher kaum irisch-sprachige Filme gibt. Nach der Premiere auf der Berlinale 2022, wo er den Preis des Wettbewerbs ,Generation Kplus’ (Filme über die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen) bekam, blieb der Film ein ganzes Jahr lang auf der grünen Insel im Kinoprogramm – und gewann bei dem wichtigsten irischen Filmfestival in gleich sieben Kategorien, sogar vor dem hochkarätigen Film ,Belfast’ von Kenneth Brannagh. Am Ende wurde ,The Quiet Girl’ sogar für einen Oscar nominiert.

Wie ist der leise Erfolg dieses Films zu erklären? Sicher zum einen durch seine generelle, tief menschliche Botschaft. In ruhigen Bildern – und wie die Vorlage, der er sehr treu bleibt, aus Sicht des Mädchens – eröffnet sich der Kontrast zwischen trister, erschütternder Vernachlässigung und echter, tiefer menschlicher Wärme ... und inmitten dessen dieses scheue, stille, im Grunde tief traumatisierte Mädchen.

Das ist die eine Seite. Ein tief menschlicher Film, in dessen Mittelpunkt die zeitlose Frage von Leid und Liebe steht – und dies nicht nach simpler Art eines ,Feel-good-Movie’. Ein Film voller ruhiger Bilder, dem es wirklich gelingt, das Erleben eines Mädchens ins Zentrum zu stellen; der ohne Special Effects und ohne jegliche aufgebauschte Dramatik daherkommt, ohne Komik und flotte Sprüche – all das ist heute zutiefst selten geworden, und allein dies alles macht den Film schon zu einer kostbaren Rarität, einer kleinen, ebenso stillen, scheuen, unaufdringlichen Perle.

Das andere aber, was den so ganz unerwarteten Erfolg des Films allein erklären kann, ist seine Hauptperson und ihre Darstellerin. Catherine Clinch hat zwar schon Bühnenerfahrung, aber hat noch nie in einem Film mitgespielt – geschweige denn eine Hauptrolle. Ebenso wie es für Regisseur Colm Bairéads sein überhaupt erster Langfilm war. Eine Low-Budget-Produktion von nur 25 Drehtagen und gerade einmal 1,2 Millionen Dollar – die aber inzwischen bereits über 6 Millionen Dollar eingespielt hat. Und das liegt an diesem Mädchen. Mit einer Empathie ohnegleichen kann sich die selbst auch stille Catherine Clinch in die Protagonistin hineinversetzen – und die Intensität ihrer scheuen Darstellung nimmt den Zuschauer buchstäblich mit, in jeder Hinsicht. Unmittelbar wird der Film gleichsam ein Seelen-Raum, ein existenzieller Raum voller Traurigkeit, Einsamkeit, voller Wortlosigkeit, Sehnsucht und Verletzlichkeit.

Wer sich auf dies alles einzulassen vermag, wird tief beschenkt. Denn wo in dieser Welt ist überhaupt noch Raum für diese Art existenzieller Stille? Für eine Stille, die nicht sofort übertönt wird – von der eigenen Seele, von irgendwelchen äußeren ,Interventionen’, von Effects, anderen ,Handlungstreibern’ oder was auch immer? Sondern die einfach sein darf... Stille, vorsichtige Annäherung, ganz vorsichtiges Auftauen, ganz zaghaftes Aufblühen, zaghaftes Heilen jahrelanger Wunden...

Hintergründe

Gerade in der Zeit, in der der Film spielt, gab es in Irland noch sehr viele kinderreiche, arme Familien, weil die katholische Konfession Verhütung verbot. In entsprechend vielen Familien existierte eine seelische Not der Kinder, die zu wenig Beachtung, Liebe, Geborgenheit erfuhren [o].

Als Regisseur Colm Bairéad, damals selbst gerade frisch zweifacher Vater geworden, im Sommer 2018 die Kurzgeschichte ,Foster’ innerhalb von einer Dreiviertelstunde gelesen hatte, war er von der zurückhaltenden, aus der Sicht des Mädchens erzählten Geschichte zu Tränen gerührt – und wusste sofort, dass er daraus einen Film machen wollte [o]. Generell fühlt er sich von der Vorstellung angezogen, dass ,an kleinen Orten etwas ganz Großes und Tiefgründiges zu finden ist’ [o] – und dies trifft für ,The Quiet Girl’ zweifellos zu.

In der Corona-Zeit suchte er mit seinem kleinen Team – die Produzentin etwa war seine Ehefrau – nach einer Hauptdarstellerin auch über die Einsendung von Video-Tapes – und sehr schnell war klar, dass nur Catherine Clinch die Rolle bekommen konnte. Dies erwies sich auch bei den Dreharbeiten 2020 als völlig eindeutig. Mit ihr mussten viel weniger Szenen mehrfach gedreht werden als mit allen anderen Darstellern. Immer wieder bekamen Regisseur und Team das Gefühl: ,Oh my God, this girl is incredible.’ Das Spiel von Catherine war so intensiv, dass die erwachsenen Darsteller der Pflegeeltern auch bei Nachdrehs kein Double (für die richtige Augenhöhe etc.) brauchten, sondern mühelos noch die vor einer halben Stunde gedrehte Szene und gleichsam jede Geste des Mädchens erinnerten... [o]

Als der Film auf der Berlinale gezeigt wurde, kam auch die junge Hauptdarstellerin mit ihren Eltern nach Berlin – aber aufgrund eines positiven Corona-Tests konnten sie dann doch nicht am Festival teilnehmen [o].

Bairéads Frau und Produzentin Cleona Ní Chrualaoí berichtet, wie das Team die Preisverleihung des irischen Filmpreises IFTA wahrnahm:[o]

I think the first win was for John Murphy, our editor, then our production designer Emma Lowney and then Stephen Rennicks for the music and Kate McCullough for cinematography. The big moment was when Catherine won because I suppose we were thinking that because she’s a child actor, maybe we won’t get the same level of votes. That was a real breakthrough. And then Colm won best director, and that’s when we thought, “Whoa, we might have a chance at best film now.” And we won!

Und eine Art zarte Offenbarung ist es, wie gerade die junge Darstellerin reagierte... [o, ab 2:20 min]. Auch ein anderes Interview zeigt berührend ihr Wesen [o].

Einer der zärtlichsten Filme...

In einer Rezension heißt es über die berührende Protagonistin und ihre Darstellerin:[o]

Warum THE QUIET GIRL so wunderbar ist, ist […] auch ein großer Verdienst der Hauptdarstellerin Catherine Clinch. Trotz ihres jungen Alters erlangt man als Zuschauer immer wieder den Eindruck, dass ihr zu jeder Zeit bewusst ist, wie ihre Figur in den einzelnen Szenen fühlt oder denkt. Ein solche emotionale Intelligenz ist besonders in diesem jungen Alter äußerst selten zu finden.

Gerade die kleinen Momente und Gesten, so die Rezension weiter, und die wunderbare Kameraarbeit von Kate McCullough ,machen THE QUIET GIRL zu einem der zärtlichsten Filme, die es seit langem in den Kinos zu sehen gab.’

Zu einem der zärtlichsten Filme! Da ist wie gesagt auch diese Ruhe, diese Liebe zu einfachen, schlichten Bildern und Momenten – die der heutigen Gewohnheit so völlig abgehen … und doch gleichzeitig so notwendig sind, um wirklich bis zur Ebene des Seelischen durchzudringen und sich ergreifen zu lassen. In genau diese Richtung hilft einem dann auch die sparsame, wunderbare Filmmusik, die in ihrer ruhigen ,Stille’ unmittelbar an Arvo Pärt erinnert.

Aber wie kann es ein so ruhiger Film sein, wenn das Leid der Protagonistin so groß ist?

Das ist eine gewichtige Frage. Aber es geht ja gerade um eine Heilung. Und der andere Aspekt ist, dass selbst diese Ruhe auf der anderen Seite die tiefe Einsamkeit spiegelt, in der dieses Mädchen all die Jahre gelebt hat.

Doch selbst das ist nicht die ganze Wahrheit. Hinter dieser Einsamkeit, hinter diesen ständigen Verletzungen und Wunden, diesem Abgewiesenwerden, diesem Desinteresse der Außenwelt – hinter all dem steht noch etwas, lebt und leuchtet noch etwas. Und das ist die reine Seele. Dieses Mädchen hat eine solche, und dass es niemals Gelegenheit hatte, sich ,bequem nach außen auszuleben’, ist sicherlich zutiefst mit dafür verantwortlich. Denn es ist absolut kein Wunder, dass gerade derart stille Mädchen sehr oft eine so reine Seele haben – sie konnten sie sich einfach bewahren.

Und dies ist der andere Grund dafür, warum dieser Film eine so seltsam berührende Ruhe ausstrahlen musste. Denn nur dadurch wird das Wesen dieses Mädchens erlebbar, klingt in der Seele nach, noch lange, nachdem der Film zu Ende gegangen ist. Eine reine Seele … ohne alle Auflagerungen, Trübungen, Narzissmen, Egoismen, ohne Geltungsdrang und Anspruchshaltungen, wie sie so unzählig viele Seelen, ja unsere gesamte Zeit immer und immer mehr prägen.

Eine reine Seele...

Zur Schau gestelltes Leid?

Die moderne Seele dagegen könnte sehr, sehr leicht zu einem geradezu abfälligen Urteil kommen. Sie könnte sagen, dass das Mädchen – sei es Cáit, sei es Catherine Clinch – mindestens den halben Film über kaum etwas Anderes tue, als ein armseliges Sich-unwillkommen-Fühlen zur Schau zu stellen.

Es ist naheliegend, dass unsere ,modernen’, ach so ,emanzipierten’ Seelen auf eine solche Darstellung sehr schnell geradezu regelrecht allergisch reagieren können. Denn sie ist, wie gesagt, außerordentlich intensiv. Dieses Mädchen hat bis ins Innerste aufgenommen und verinnerlicht, dass es nicht willkommen ist.

Die ,moderne’ Seele insbesondere ,emanzipierter’ Frauen und Mädchen kann sich dann schnell hinstellen und sagen: ,Scheiß doch mal drauf, Mädel! Lass dich doch jetzt nicht von der Außenwelt bestimmen! Nimm dein Leben selbst in die Hand und hör auf, mit dieser jämmerlichen Leidensmiene durch die Welt zu laufen – da kann einem ja schlecht von werden!’

Was liegt hier vor? Es ist das Symptom, dass Hilflosigkeit und Schwäche inzwischen selbst abgelehnt werden. Genau wie es die anderen Mädchen tun, die gelangweilt zuhören, wie Cáit in der Schule mühsam versucht, einige Zeilen vorzulesen. Und erst recht wie ihre Schwestern, die sich längst an die extreme Zurückgezogenheit dieser Jüngsten gewöhnt haben und ihr dementsprechend auch keinerlei Beachtung mehr schenken – denn wozu auch? Auch für sie selbst ist das Leben ja schwer genug, mit einem unsteten Vater und ohne Geld, und wozu sich dann noch mit jemandem belasten, der sein stilles Leid geradezu auf die Spitze treibt? Da hat man doch andere Sorgen! Wenn sie mit ihrem Unglück ,glücklich’ ist – bitteschön...!

Auf diese Weise ist der Film unerwartet auch ein hochaktuelles Zeugnis für unsere ganze Zeit – eine Zeit zunehmender Rücksichtslosig- und Gleichgültigkeit. Denn wozu Empathie, um mich kümmert sich ja auch keiner!

Das ,Moderne’, das Dominierende und Herrschende ist also eine immer weiter zunehmende Kälte, geboren aus Erfahrungen von Kälte und dann genau dies spiegelnd eben auch eigener Kälte.

Zwischen Konkurrenz, Empowerment und Hass

Wir haben also zwei parallele Aspekte im Zusammenhang mit einer solchen, sehr, sehr naheliegenden Reaktion: die zunehmende Härte des Kapitalismus mit einer stetig wachsenden Konkurrenz, Arbeitsverdichtung, Arm-Reich-Schere und so weiter. Und die Haltung großer Teile der Emanzipations-Bewegung, die sich in etwa formulieren lässt: ,Wir müssen uns selbst-ermächtigen, Empowerment ist angesagt. Wer das nicht hinkriegt, ist selbst schuld. Jeder könnte es. Schluss mit der Leidensmiene, nehmt euer Schicksal selbst in die Hand!’

Auffallend ist, dass diese Signale auffallend deckungsgleich sind. Warum ist das so? Weil auch die sogenannte ,Empowerment’-Strömung erwartet, dass man ihrer Botschaft folgt – und wenn nicht, tja, Pech gehabt, Mädchen, dann willst du offenbar nicht...

Und wenn man diesen Film gesehen hat, kann man sich fiktiv auch einmal vorstellen, wie es wäre, wenn dieses Mädchen emanzipativ ,empowered’ worden wäre – stark gemacht, resistent, mehr auf sich selbst vertrauend, letztlich buchstäblich auf die übrige Welt ,scheißend’. Und ja – dann wäre eben auch genau so ein Mädchen dabei ,herausgekommen’, eines der unzähligen Mädchen, die auf eigenen Füßen stehen können und stehen und die auf das, was ihnen nicht passt ... ,scheißen’.

Aber, und das ist das Entscheidende – es wäre nicht mehr Cáit gewesen. Nicht mehr diese Cáit.

Und die entscheidende Frage ist: Ist diese Cáit etwa nur eine Reduktionsform der ,wahren’ Cáit? Eine unterdrückte Zwergform, wie es etwa die ,Krüppelkiefern’ in den Bergen sind?

Würde man zu diesem schnellen Urteil kommen, würde man etwas sehr Essenzielles übersehen. Ja, diese Cáit ist scheu, kann sich nicht entfalten, ist gleichsam ganz und gar in sich zurückgestaut wie ein tiefer See, der nicht fließen darf. Aber dafür kommt diese Tiefe auch zum Vorschein – sie existiert wirklich! Im Grunde sieht man es unmittelbar: Cáit hat mehr, unendlich viel mehr Seele als all ihre Schwestern zusammen – die im Grunde nur Hass auf ihre Lebensverhältnisse akkumulieren und im Inneren sicher längst hoffen, dem allen möglichst bald entfliehen zu können.

Oder man könnte auch andere Parallelen ziehen: Verwöhnte Großstadt-Kids, die nicht einmal im Ansatz mehr zu schätzen wissen, was sie eigentlich haben. Sowohl im Leid als auch im Wohlstand können Arroganz und Anspruchshaltung ins Grenzenlose wachsen, nur die Form ist jeweils verschieden.

Aber Cáit ist anders. Und was genau ist es, was anders ist? Cáit leidet – aber sie hasst niemanden. Selbst ihr Schicksal hasst sie nicht. Sie leidet einfach nur... Und das macht ihre Seele so grenzenlos tief. Dass sie in keine Richtung – nicht einmal an sich selbst! – einen Vorwurf hat. Sie ist gleichsam das vollkommene Opfer, das reine Opfer. In keine einzige Richtung Täter. Nicht einmal ,retten’ tut sie sich, sie hat keinerlei Möglichkeit zu einem ,Empowerment’ – oder vielleicht würde sie es nicht einmal wählen, wenn sie diese Möglichkeit hätte. Cáit leidet – und lässt das Leid wie einen Meteor in ihre Seele einschlagen... Aber der Krater ist genau diese ungeheure Tiefe, die ihre Seele dann hat...

Die stille Botschaft des Mädchens

Was Cáit sich bewahrt und was dieser ganze Film als seine eigentliche Botschaft vermittelt, das ist das Mysterium der reinen Seele.

Rein kann eine Seele nur sein, wenn sie absolut schutzlos ist. Alles andere wäre ein Widerspruch in sich. Und Cáit ist schutzlos. Deswegen strahlt ihre Seele genau das aus, was man erlebt und wahrnimmt. Und deswegen ist der Gegensatz zur realen heutigen Welt so grenzenlos.

So groß, dass sie regelrecht zum Ärgernis werden kann. Weil sie ja ständig nur leidet, als wäre der Schritt aus dem Leid heraus soo riesengroß! Aber mit jeder Antipathie, die leise in der eigenen Seele aufkommen könnte, offenbart man nur selbst die eigene Gefühlsarmut. Die Schnelligkeit, mit der man mit seiner eigenen Geduld am Ende ist, ist eben genau jenes Maß an Kälte, mit der man heute auch an den Bettlern vorbeigeht, mit der einem die Klimakatastrophe im tiefsten Grunde auch relativ egal ist – wie auch sonst unendlich vieles.

Aber Cáit ist anders. Gerade weil sie leidet. Was sie in keinem einzigen Augenblick auch nur ansatzweise zur Schau stellt – aber man sieht es einfach. Aber ihr inneres Leid macht sie gleichzeitig auch grenzenlos empfindsam. Und als sie langsam auftaut, ist eine ihrer ersten Fragen, warum die Kälbchen nicht die Milch ihrer Mutter bekommen dürfen. Dies ist ein Mädchen voller Seele, einem Meer an Seele. Man sieht diese Seele in jedem einzelnen Blick von ihr. In dieser schüchternen grenzenlosen Sehnsucht nach ein bisschen echter Wärme und Zuwendung. Wie viel Seele man da sieht, tut regelrecht weh, aber nur, weil man es nicht mehr gewohnt ist, von etwas grenzenlos berührt zu werden. Cáit tut das.

Und das ist die Botschaft dieses wunderbaren Mädchens, das von alledem sicherlich am wenigsten weiß. Aber es bewahrt sich diese Reinheit, die mit der Botschaft geradezu identisch ist.

Das Mysterium ist diese Botschaft. Und es lebt nicht da, wo die Ansprüche leben, sondern da, wo die Augen so klar sind wie ein Gebirgssee. (Als ich aus dem Kinosaal ging, musste es jemand buchstäblich aussprechen: ,Diese Augen...!’). Da, wo sie die Sehnsucht kennen, aber nicht die Schadenfreude oder den lockeren Humor oder die Langeweile oder die Abneigung. Da, wo ein zärtliches Wort noch unendlich viel mehr zählt als das neueste iPhone. Wo ein Verstandenwerden die größte Kostbarkeit ist – und nicht etwa die ,Coolness’, mit der man ,seinen Weg geht’. Denn was nützt jeglicher Weg, wenn er in einer Sackgasse endet?

Jener Sackgasse, in der die Menschheit sich seit langem verrennt. Immer kühler, immer hektischer, immer selbstgewisser, selbstgerechter, selbstbezüglicher, immer blinder.

Ein Mädchen wie Cáit aber sieht alles, empfindet alles ... und ein vorsichtiges, zaghaftes Lächeln auf ihrem scheuen Gesicht ist kostbarer als ganze Berge von Handys, Netflix-Serien, Likes und was der immer seelenlosere Wohlstand noch so an die Küste der modernen Einsamkeit spült. Die stille Botschaft von Cáit ist das Mysterium der Unschuld.

In einer Welt, die diese Unschuld rasend schnell verliert, mag es den meisten Seelen nicht deutlich sein, dass gerade dies so unendlich fehlt und dass gerade dieses Fehlen wirklich sämtliche Katastrophen heraufbeschwört, unter denen wir, wie ,empowered’ auch immer, immer mehr leiden werden. Aber genau so ist es. Je mehr wir dieses Mysterium verraten, desto mehr werden wir leiden. Aber anders als Cáit. Denn ihr Leiden ist noch wahrhaftig. Und gleichzeitig hütet sie in ihrer ganzen Seele die Rettung. Dies zu begreifen, ist unserer Zeit so schwer wie nur irgendetwas. Da hilft alles Empowerment nichts. Da bräuchte es das Gegenteil.

In Wirklichkeit ist gerade Cáit von einer heiligen Stärke – sie lässt ihre Seele nicht korrumpieren. Sie leidet – aber ihre Seele leuchtet. Sie muss nur gerettet werden. Aber das Leuchten kann ihr niemand nehmen...

Das heilige Leuchten

Es ist eine Wahrheit. Die Seele dieses Mädchens leuchtet. Und warum? Weil sie gelitten hat, so viele Jahre. Weil sie ,gelernt’ hat, dass sie nichts zählt, dass sie bedeutungslos sei, eine Belastung, jemand, der einem ,die Haare vom Kopf frisst’.

Was war die Folge? Cáit konnte keinerlei Selbstwertgefühl entwickeln. Aber auch nicht jene Selbstbezüglichkeit, die fast alle Seelen korrumpiert. Und doch hätte sie es theoretisch gekonnt – denn ihre Schwestern konnten es ja auch. Konnten den Weg der stillen Auflehnung und Verachtung wählen, der sie unzufrieden und hässlich macht, unwillkürlich kommt einem der Gedanke an die Pechmarie und die Goldmarie, es ist so offensichtlich...

Cáit hat den Weg der Pechmarie abgelehnt – ihr Wesen konnte ihn schlicht nicht gehen. Und so ging es den anderen Weg: Das Leid der Einsamkeit still in sich hineinzunehmen, wie die Muschel das Sandkorn in ihr eigenes Fleisch einschließt, woraufhin in all der Stille dann die Perle wächst...

Cáit hat keinerlei Gegenwehr, denn sie hat kein ,Selbstbewusstsein’. Stattdessen aber eine tiefe Liebessehnsucht und Empathie, einhergehend mit einer erschütternden Hingabefähigkeit. Wie sie die Menschen, die sie umgeben, jeweils scheu anblickt, macht einen fast fassungslos. Die Reinheit ihrer Seele, ihrer Augen, besteht darin, dass sie immer wieder geradezu im Umkreis lebt – da ist kein modernes ,Ich’, das im Inneren des Leibes seine Zelte aufschlägt. Cáit schlägt ihre Zelte in der Welt auf, die sie umgibt. Und so wird gerade dieses Mädchen, das so viele Jahre nicht geliebt wurde, zu einem Wesen, das seinerseits so grenzenlos liebefähig ist. Und zugleich jedem Menschen in tiefer Aufrichtigkeit antwortet, wenn es gefragt wird.

Auf einer gewissen Ebene hat Cáit eine Seele, die am wenigsten von allen traumatisiert wurde – nicht überfallen und eingeholt von jedwedem Ego-Impuls, sondern so rein bleibend wie eine weiße Taube, das Symbol eines grenzenlosen Friedens. Und das ist dieses Mädchen wirklich, ein Engel des Friedens. Ein leises Mädchen mit einem Herz aus Gold. Das wahre Ich des wahren Menschen lebt im Umkreis, in dem Geheimnis des guten Willens. Immer wenn wir voller Hingabe in etwas eintauchen, selbstvergessen, für Momente ebenfalls unschuldig werden, berührt die Seele dieses Geheimnis. Wo wir uns von etwas berühren lassen, ohne diese Berührung gleich wieder ,genießen’ zu wollen. Wo wir uns wahrhaft selbstlos etwas anderem öffnen. Überall da können wir das Geheimnis dieses wahren Ich ahnen und uns zart darin einleben.

Cáits ganze Seele aber offenbart dieses Geheimnis des wahren Ichs auf tief berührende Weise. Und in ihren Augen liegt gleichsam die ganze Menschheitszukunft... Das Leuchten der Philadelphía – einer zarten, aufrichtigen, tiefsten Geschwisterlichkeit aller Menschen.

The Quiet Girl...

Nachtrag 3.3.2024

Die schönste Filmbesprechung in der Presse erschien wahrscheinlich im ,Neuen Deutschland', wie ich jetzt entdeckte.