02.12.2023

Ken Loach – Licht in kapitalistischer Finsternis

The Old Oak oder: Menschlichkeit als einzige Hoffnung.


Inhalt
Unter die Haut
Der Einzelne, die Gemeinschaft und das System
Der tiefe Ernst des Sozialisten
Der Letzte seiner Art?
Innere Wahrheit
Weltfremde Ideologie?
Die Unwahrhaftigkeit einer ,aufgeregten Welt’
Dem Verfall überlassen
Solidarität? Nicht profitabel...
Das Ärgernis der Botschaft


Unter die Haut

Seit einer guten Woche läuft in den Kinos der letzte Film des inzwischen schon legendären, heute 87-jährigen britischen Regisseurs Ken Loach.

Wie seine beiden vorherigen Filme ,Ich, Daniel Blake’ (2016) und ,Sorry We Missed You’ (2019) spielt auch ,The Old Oak’ im armen Nordengland. ,Daniel Blake’ handelt von einem Zimmermann, der nach einem Herzinfarkt einen aussichtslosen Kampf gegen die Bürokratie des desaströsen britischen ,Wohlfahrtssystem’. ,Sorry We Missed You’ zeigt ebenso schonungslos die absolut unmenschliche Ausbeutung der Postzusteller-Branche (Stichwort ,Amazon’). ,The Old Oak’ wendet sich nun dem Thema ,Flüchtlinge’ und dem Problem des Rassismus zu, wie es gerade unter den gesellschaftlich abgehängten Schichten und Regionen schnell Platz greifen kann.

Die grobe Umriss der Handlung ist schnell beschrieben. Auf Wikipedia finden wir:[o]

„The Old Oak“ ist das letzte verbleibende Pub in einem ehemaligen Grubendorf in der Grafschaft Durham im Nordos-ten Englands. Weil die Gruben geschlossen werden, verlassen die Menschen das Land. Die Häuser sind hier daher billig und stehen leer, weshalb man in der Bergarbeiterstadt im Jahr 2016 syrische Flüchtlinge unterbringt. Eine von ihnen, die junge Yara, freundet sich mit ihrem Vermieter TJ Ballantyne an, dem Besitzer des „Old Oak“, der ihnen seine Räumlichkeit als Refugium zur Verfügung gestellt hat. Gemeinsam versuchen sie, die lokale Gemeinschaft wiederzube-leben, indem sie eine Armenküche einrichten, die Menschen unabhängig von ihrer Herkunft Essen gibt.

Eine solche ,Story’ könnte jeder Regisseur irgendwie umsetzen. Doch Loachs Filme sind anders. Sie gehen wirklich unter die Haut. Fern von schnellen Lösungen zeichnet er die wirklichen Probleme, die wirklichen Härten, in einem echten sozialen Realismus – und dazu trägt entscheidend bei, dass er immer wieder, in jedem Film, zu einem großen Teil auf Laiendarsteller setzt, die tatsächlich direkt vor Ort leben.

Die Ablehnung der Fremden, der ,Kopftuchträger’, seitens der noch verbliebenen Stammkundschaft in Ballantynes Pub ist unmittelbar authentisch. Und man versteht diese Menschen, die selbst alles verloren haben. All dies macht den Film so eindrücklich. Ballantyne ist auf Seiten der Flüchtlinge, hilft auch tatkräftig mit seinem Lieferwagen, aber er hat in seinem Leben so viele Fehler gemacht und so viel einstecken müssen, dass er im übrigen zunächst wenig Haltung bezieht, zumal er von seinen Gästen auch abhängig ist und einige darunter zu seinen längsten Bekanntschaften gehören. Dann aber ist es die junge Syrerin Yara, die ihn daran erinnert, dass so etwas wie Gemeinschaft möglich sein könnte – und dies in Wirklichkeit das Einzige ist, um das zu kämpfen sich lohnt...

Der Einzelne, die Gemeinschaft und das System

Loachs letzter Film ist großartig. Und während die beiden Vorgänger den Zuschauern bis zum bitteren Ende Schritt für Schritt jede Hoffnung nahmen, ist ,The Old Oak’ letztlich ein Film voller Hoffnung, kraftvoll, bis ins Innerste zu Herzen gehend, mit der Botschaft: Ja, es ist es möglich.

Aber man würde Loach nicht gerecht, wenn man an dieser Stelle den Blick nicht weiten würde – nämlich genau auf die Frage: wie? Und unter welchen Umständen?

Es geht um die Polarität zweier ganz verschiedener Fragen. Was vermag der Einzelne? Was vermag nur das Ganze? Doch diese Fragen sind verknüpft. Denn in ,The Old Oak’ erinnert sich das ehemalige Grubendorf, erinnert sich insbesondere auch Ballantyne noch sehr genau an den letzten großen Streik aus dem Jahr 1984, der mittlerweile über drei Jahrzehnte zurückliegt, aber noch biografisch prägend war. Es war das Erlebnis einer einzigartigen Solidarität, eines echten Zusammenhalts unter ungezählten Menschen. Man gehörte zusammen – und stand zusammen. Man aß zusammen, und dies schweißte zusammen.

Warum ist dies so entscheidend? Weil hier genau die Frage, wieviel der Einzelne ausrichten kann, mit der anderen zusammenfällt: Ist er überhaupt ein ,Einzelner’? Und Loachs Antwort ist: Der Einzelne kann nichts ändern – aber das System des Kapitalismus macht den Menschen überhaupt erst zu einem isolierten Einzelnen. Es ist das System selbst, das den Zusammenhalt immer weiter korrumpiert.

Und zwar auf verschiedenen Ebenen. Einerseits bereits massivst durch die Anonymisierung an sich, den zunehmenden Druck, die fortwährende Botschaft der ,Konkurrenz’ und auch ,Selbstverwirklichung’. Andererseits dadurch, dass es jeglicher Alternative immer mehr die Lebensgrundlagen entzieht. Im Film versuchen Ballantyne und Yara einen neuen Mittelpunkt sozialen Lebens aufzubauen – in einem alten, viele Jahre lang nicht mehr benutzten Raum des alten Pub. Aber der Kapitalismus führt nun dazu, dass überhaupt nicht die Mittel vorhanden sind, auch nur ein Minimum an Infrastruktur (Wasserrohre, Elektrik) zu reparieren. Wie soll dann soziales Leben wieder aufblühen, selbst wenn viele Menschen sich engagieren? Es bräuchte auch die Mittel dazu.

Gemeinschaft könnte also (wieder neu) entstehen – aber es ist das System, das den Menschen selbst das Nötigste nimmt, eine massive Klassengesellschaft jederzeit in Kauf nimmt, weil die Verlierer in diesem System keine Stimme haben, es per Definition aber Verlierer und Gewinner vorsieht. Die Ungerechtigkeit dieses Systems nimmt jenem Teil der Gesellschaft, die zu den Verlierern gehört, selbst die Luft zum Atmen. Und so ist auch Gemeinschaft irgendwann nicht mehr möglich. Es sei denn, die Menschen erkennen die systemischen, strukturellen Ungerechtigkeiten und wachen für die Tatsache auf, dass das gesamte System nicht mehr stimmt – und nie gestimmt hat.

Der tiefe Ernst des Sozialisten

Man könnte sich fragen: Was wäre passiert, wenn einige Flüchtlinge ,Probleme’ gemacht hätten. Oder wenn nicht zumindest Yara bereits so gut Englisch sprechen würde? Oder, oder, oder. Aber darum geht es in diesem Moment nicht – sondern um die sozialkritische Botschaft: Dass echter Zusammenhalt über anfängliche Fremdheit hinweg immer möglich ist – und das das Trennende, Auseinanderreißende, Demütigende, Herabsetzende ganz woanders liegt...

Und um es erneut zu betonen: Loach greift die Thematik nicht im Ansatz nach Art des Sozialkitsch auf. Er klagt an. Schmerzlich wirft er die Frage auf, warum denn Jugendliche so arm sind, dass sie nicht einmal genug zu Essen im Bauch haben. Warum sie seelisch so verloren gehen können, dass sie sich gefährliche Pit Bulls halten, um etwas ,darzustellen’. Auch wenn nicht jeder Zuschauer es merkt – all diese Fragen sind an ihn gerichtet: Welche Gesellschaft lassen wir alle zu? Wo liegen die Ursachen? Wo genau wird es schlimm, falsch, unmenschlich – und warum? Welche wirksamen Kräfte stecken dahinter?

Und gleichzeitig ist es tief berührend, im Laufe des Films zu erfahren, was Ballantynes eigene Hündin Marra ihm bedeutet und warum. Überhaupt die Hintergründe einzelner Leben zu erfahren. Zu erleben, dass hinter jedem einzelnen Menschen ein ganzes Schicksal steht, einzigartige Erlebnisse, eine nicht weiter zu benennende ,Würde’, für die der Blick so sehr verloren geht, weil man gar keine Ruhe mehr hat, keine Stille mehr kennt, selbst umhergetrieben wird von den Umständen...

Der Film berührt in einem viel mehr, als man im ersten oder zweiten Moment formulieren könnte. Er geht in stille, existenzielle Tiefen. Und das ist eben Loachs Meisterschaft – die er der Tatsache verdankt, dass er es ernst meint. Dass er durch und durch an das Gute im Menschen glaubt, aber nicht auf sentimental-romantische Art, sondern auf die Art eines noch ganz und gar aufrichtigen Sozialisten.

Man begreift heute kaum noch, dass dies Realitäten sind. Es handelt sich hier nicht einfach nur um Weltanschauungen. Es geht um die innere Substanz einer Seele. Wer diesen Fragen keine Wichtigkeit mehr zumisst – solche Wichtigkeit, dass man über Jahrzehnte hinweg Filme mit diesem Impuls machen kann –, sondern sich einfach mit den Umständen ,mittreiben’ lässt, hat seine eigene Seele eigentlich schon verloren und verraten. Es gibt eine Qualität, die ein Film und eine ganze Biografie nur haben kann, wenn man es durch und durch ernst meint. Viele meinen es heute ernst mit dem Egoismus. Das sind dann oft die Gewinner des Kapitalismus – die sich am Ende, wenn sie Millionen oder Milliarden besitzen, auch wieder ein ,philantropisches’ Mäntelchen umhängen können und sogar selbst daran glauben.

Loach dagegen meint es ernst mit der vollen Verantwortung des Einzelnen für das Ganze, die nur die Idee des Sozialismus kennt. Weil der Kapitalismus per Definition auf Konkurrenz ausgerichtet ist. Dann kann man gönnerhaft oder patronistisch-patriarchal noch so viel von ,Verantwortung’ schwafeln (und erneut sogar selbst daran glauben), man hinterfragt die eigenen Privilegien und das dahinterstehende Unrecht nicht einmal im Ansatz. Dies tut nur ein Sozialist wie Loach. Und so hat auch nur er wirklich ein Auge für den Einzelnen.

Der Letzte seiner Art?

Man kann sich fragen, wie ein Sozialist ein derart bekannter und geehrter Regisseur werden konnte. Und vielleicht ist Loach tatsächlich auch der Letzte seiner Art – und wird dies künftig überhaupt nicht mehr möglich sein.

Leicht ist es auch ihm nicht gewesen. Aufgewachsen in einer Familie, deren Vater sich zum Vorarbeiter hochgearbeitet hatte und in der die nationalkonservative Boulevardzeitung ,Daily Express’ die tägliche Lektüre war, musste Loach erst erwachsen werden, um durch andere Begegnungen politisiert zu werden und sich sozialistischen Idealen zuzuwenden. Dann aber, in den 60er Jahren, begann er Filme zu machen, die in ihrer ganzen Art und Thematik völlig anders waren als das Bekannte. Loach orientierte sich am Realismus des tschechischen und italienischen Films und griff gesellschaftlich virulente Themen auf: unverschuldete Armut in dem für das Fernsehen produzierte Sozialdrama ,Cathy Come Home’ (1966), in dem einem arbeits- und obdachlos gewordenen Paar sogar dessen Kind weggenommen wird, in weiteren Filmen dann heimliche Abtreibungen, Arbeiterrechte, Todesstrafe, verlorene Kindheiten:[o]

From the mid-60s to the end of that decade, everything Loach did created headlines and set agendas. It wasn’t just that the films looked and felt different; the subject matter was radical, too. Up The Junction started a debate about backstreet abortions, The Big Flame about workers’ rights and Three Clear Sundays about the death penalty. This run culminated in 1969 with Kes, the film based on the Hines novel about a working-class boy whose love for a kestrel brings him out of his shell. Loach’s film is as unsentimental as it is heartwrenching, as brutal as it is beautiful, and features one of the funniest football scenes in the history of cinema when the games teacher, played by Brian Glover and kitted out in a Bobby Charlton top, insists on taking a penalty that never was.

1971 dann brach sein ganzes bisheriges Leben zunächst zusammen, als er bei einem Autounfall seinen fünfjährigen Sohn verlor und auch seine Frau fast gestorben wäre. Rund zehn Jahre stagnierte seine Arbeit im Grunde, und in den 80er Jahren der Thatcher-Ära bekam er längst heftigen Gegenwind, wurden seine Arbeiten – zunächst nun vor allem Dokumentarfilme – abgelehnt, abgesetzt, unterdrückt, ,gecancelt’:[o]

As well as a loss of confidence, there was another problem: Loach kept getting banned. In 1983 he made Questions Of Leadership, a series that asked whether workers were being betrayed by trade union officials, but Channel 4, which had commissioned it, refused to broadcast it, saying it was unbalanced. His 1984 film Which Side Are You On?, about striking miners’ songs and poems, made for Melvyn Bragg’s South Bank Show, was shelved by London Weekend Television for being too political. In 1987, his production of Jim Allen’s play Perdition, which examined an alleged collaboration between Zionist leaders and the Nazis, was cancelled by Max Stafford-Clark at the Royal Court theatre just 36 hours before opening night. By the late 80s, he couldn’t get anything commissioned, let alone shown, for love nor money. To his eternal shame, he made a commercial for McDonald’s.

Eine Werbung für McDonalds zu drehen... Loach sieht dies im Rückblick als größte Schande seiner Biografie. Und es zeigt erneut die schmutzigen Mechanismen des Kapitalismus. Man muss dem Menschen nur jede andere Möglichkeit des Wirkens nehmen ... dann wird er angekrochen kommen... Es geht um Macht und Kontrolle. Nicht um die Wahrheit. Nicht um den Menschen. Die Wahrheit lebte in Loachs Filmen – aber die Thatcher-Ära war nicht wahrhaftig genug, um sie hören zu wollen. Und dies gilt bis heute. Um die Wahrheit geht es im Kapitalismus nicht...

Innere Wahrheit

Zu dieser Zeit weiß Loach nicht mehr weiter – und denkt sogar daran, Anwalt zu werden, was er ursprünglich schlecht und recht studiert hatte. Doch zum Glück konnte er sich seinem Gewissen treu bleiben und die Durststrecke überwinden. Und nur so konnte er der wirkliche Anwalt werden, der er wurde...

Sein nächster Film ,Hidden Agenda’ (1990) markiert sein Comeback. Er behandelt in Form eines Thrillers den Staatsterror des britischen Geheimdienstes in Nordirland (ausführlicher Artikel hier) – und gewann den ,Preis der Jury’ in Cannes. Es folgten Filme über den Spanischen Bürgerkrieg (Land And Freedom, 1995), den Contra-Krieg gegen die Sandinisten in Nicaragua (Carla’s Song, 1996), den Kampf um basale Arbeiterrechte in den USA (Bread And Roses, 2000), den irischen Unabhängigkeitskampf der 1920er Jahre (The Wind That Shakes The Barley, 2006) und immer wieder über den Kampf um Arbeit, Würde und Gerechtigkeit.

1999 wählte das ,British Film Institute’ Loachs frühen Film ,Kes’ auf Platz 7 der 100 besten britischen Filme des Jahrhunderts. Mit ,The Wind...’ gewann Loach 2006 schließlich die Goldene Palme in Cannes – und zehn Jahre später mit ,Ich, Daniel Blake’ (2016) erneut. Seine Filme besaßen eine solche Qualität und innere Wahrheit, dass sie schlicht nicht mehr übergangen werden konnten. Ja, Abgeordnete forderten sich sogar gegenseitig auf, sich den letztgenannten Film anzuschauen, ,um die alltäglichen Auswirkungen ihrer Entscheidungen besser nachvollziehen zu können’.[o]

Wie viele RegisseurInnen arbeiten so? Dass sie intensiv vor Ort recherchieren, den Menschen zuhören – und schließlich auch noch mit ebensolchen Menschen als Laienschauspielern arbeiten? Dies aber ist es, was dann auch die Menschen, die solche Filme sehen, wirklich berührt, tiefer und nachhaltiger als andere Filme. Loachs Drehbuchautor Paul Laverty, mit dem er seit ,Carla’s Song’, also über ein Vierteljahrhundert zusammenarbeitet, formuliert es einmal mit folgenden Worten:[o]

Man muss seinem Instinkt vertrauen. Ungerechtigkeit ist überall zu finden. Wenn man ausreichend recherchiert, genügend Menschen trifft und ihnen zuhört, kann es sein, dass sich eine Geschichte herauskristallisiert. Wenn sie die Menschen berührt, dann liegt das wahrscheinlich daran, dass wir etwas aufgewühlt haben, das die Erlebnisse von Millionen von Menschen widerspiegelte.

Das ist der Punkt: Die Erlebnisse von Millionen von Menschen. Sunderland, Standort der ehemaligen Zeche, um die es in dem Film geht, und in deren Nähe auch Hauptdarsteller Dave Turner lebt, der selbst einmal in einem Pub arbeitete – Sunderland ist eben überall. Und auch ganz Nordengland ist überall – in jeder einzelnen Großstadt, in jedem Dorf, überall in Europa und weltweit. Überall gibt es abgehängte Menschen, die dem Kapitalismus völlig egal sind, die aber eben jenes System unmittelbar auf dem Gewissen hat. Unmittelbar. Strukturell und systemisch. Das ist die innere Wahrheit von Loachs Filmen.

Weltfremde Ideologie?

Eine unbestechliche Ablehnung des Kapitalismus hat es heute schwerer denn je. Wurde man früher ermordet, was unmittelbar zeigte, dass man sehr ernst genommen wurde, wird man heute unter Umständen nur noch belächelt – für die angebliche Weltfremdheit. Das aber zeigt nur, wie erschütternd diese menschenfeindliche Ideologie, die gerade der Kapitalismus ist, inzwischen gesiegt hat – in den Köpfen, in den Herzen.

Das darf man nie vergessen – dass der Kapitalismus eine Ideologie ist. Ideologie ist alles, was auf Ideen beruht (und der Mensch als geistiges Wesen kann gar nicht ohne Ideen existieren, er würde zum Tier) – und was sich durch die Einseitigkeit dieser Ideen letztlich gegen das Wesen des Menschen selbst richtet. Im Kapitalismus geschieht dies durch die Ideen und Grundsätze des Profits, der Konkurrenz etc., die letztlich nichts weiter als einen Sozialdarwinismus begründen, in dem es Opfer geben muss. In der es eben nicht darum geht, dass alle Menschen ein gutes, menschenwürdiges Leben haben, sondern in der Reichtum und Akkumulation Einzelner ungleich viel stärker geschützt werden als das echte Wohl aller. Sonst könnten so etwas wie Obdachlosigkeit oder Kinderarmut, aber auch Gewalt gegen Gebärende und unzählige andere Dinge, gar nicht existieren.

Der Kapitalismus produziert systemisch Realitäten, die grundlegenden Menschenrechten widersprechen. Er kann nicht anders. Und es ist nicht im Interesse der Privilegierten, daran etwas zu ändern.

Diese Privilegierten würden das niemals offen ansprechen. Und so ist es letztlich gar nicht erstaunlich, dass es ausgerechnet eine sich als ,links’ verstehende Tageszeitung wie das ,Neue Deutschland’ ist, die Ken Loach in Bezug auf seinen letzten Film in den Rücken fällt. Nach einigen würdigenden Absätzen heißt es in einem Artikel nämlich:

Der mittlerweile 87-jährige Loach hat mit »The Old Oak« einen Film aus seinem üblichen ideologischen Setzkasten gemacht. Das menschenverachtende kapitalistische Schweinesystem entsolidarisiert und frustriert uns. Städte verfallen und wo keiner mehr lebt, der noch als Wähler taugt, kümmert sich die Politik auch nicht darum, ob der Bus noch fährt oder das Schwimmbad geöffnet bleibt. [...] Doch »The Old Oak« fehlt die Bissigkeit, der Kampfgeist von »Ich, Daniel Blake« oder »Sorry We Missed you«. [...]
Statt sich an die alte Reporter-Regel »Show, don’t tell« zu halten, wird aufgesetzter Arbeiter-Kampfgeist serviert. Wenn zum Beispiel die Geflüchtete Yara zweimal im Film zu Monologen ansetzt, die klingen, als hätte man einer KI gesagt, sie solle eine Rede zu den Themen Hoffnung und Zuversicht schreiben, dann scheint auch das Drehbuch [...] völlig dem letzten Kreuzzug Loachs verfallen zu sein, noch mal kräftig die geschundene Klassenkampfseele zu bauchmiezeln. Aus linker Perspektive ist das politisch alles hochgradig korrekt, als Film aber eine fürchterlich langweilige altlinke Soli-Schnulze.
Ist es zynisch, bürgerlich [...], diesen Film nicht zu mögen? Nein, denn im Gegensatz zu »Ich, Daniel Blake« verlässt man nach »The Old Oak«, der dieses Jahr in Cannes im Hauptwettbewerb lief, das Kino nicht mit der geballten Faust in der Tasche, sondern fühlt sich allerhöchstens links bewegt. Das ist eigentlich nie Loachs Anspruch gewesen.

Solche Absätze sagen mehr über die Artikelschreiberin als über Loach. Denn man muss nicht immer nur Ausweglosigkeit zeigen. Wer sich bei ,The Old Oak’ auf einmal nur noch sentimental ,links-bewegt’ fühlt und bei den Worten Yaras Assoziationen einer ,künstlichen Intelligenz’ hat, begreift eine ganz zentrale Wahrheit nicht: Solidarität und überhaupt Seele sind nicht ,altlinke Schnulzen’, sondern das Einzige, was den Kapitalismus letztlich überhaupt überwinden könnte – denn mit was will die Autorin dies tun? Mit unsentimental ,neulinker Analyse’? Gerade das ist eine Illusion, denn es wird nicht funktionieren. Es braucht auch die Menschen – wen denn sonst? Und es waren Menschen, die sich 1984 miteinander solidarisiert und miteinander gestreikt haben, um sich gegen den ungeheuerlichen Sozialkahlschlag der Thatcher-Regierung zu wehren.

Nur ein neuer Zusammenhalt könnte dem Kapitalismus der Macht und der Macht des Kapitalismus etwas entgegensetzen.

Die Unwahrhaftigkeit einer ,aufgeregten Welt’

Es sind gerade die ,Neulinken’, die viel zu intellektuell daherkommen. Wie ist es möglich, bei Loach von einem ,ideologischen Setzkasten’ zu sprechen, dann wieder Filme wie ,Ich, Daniel Blake’ vorbehaltlos anzuerkennen, aber einen nächsten Film, der einem aus welchen Gründen auch immer zu ,aufgesetzt’ erscheint, gleich wieder niederzumachen? Im Grunde ist es dieser Schreibtisch-Intellektualismus, der das eigentlich Fatale ist – denn in seinem Prinzip unterscheidet er sich nicht vom Kapitalismus. Auch er koppelt sich von der Realität ab.

Loach geht zu den Leuten – die Artikelschreiberin urteilt mal eben, und dies über einen fast 90-jährigen Veteranen sozialer Anwaltschaft, der seit sechzig Jahren nicht müde wird, dass die Menschheit im Kapitalismus ihr eigentliches Wesen verrät. So lässt die Autorin das zentrale Prinzip der Solidarität gerade vermissen – und ist damit gar nicht fähig, echte Sozialistin zu sein. Und ist auch nicht besser als eine andere Autorin vom RBB, die schreibt:[o]

Loach ist und war immer schon Regisseur und Anwalt der sogenannten "kleinen Leute" – die er groß macht in seinen wunderbaren Filmen. Ihre Schicksale, die gerne übersehen werden in unserer aufgeregten Welt, liegen dem heute 87-Jährigen am Herzen.

Der erste Satz ist wunderbar wahr – der zweite verrät dann aber eine erschütternde Anpassung. Denn was soll das sein, unsere ,aufgeregte Welt’? Es ist klar, dass man in einem staatlich finanzierten Sender nicht deutlicher werden kann, aber wahrscheinlich will sie das auch gar nicht. Das Reden von einer ,aufgeregten Welt’ ist etwa so unverbindlich wie die sprichwörtliche Sonntagsrede. Dieselbe Autorin kann ihren Artikel sogar einem Zitat von Loach beginnen: ,Nichts wird sich verändern, solange wir das System nicht ändern.’ Mitten im Establishment zitiert, tut er überhaupt nicht mehr weh. Jeder weiß, dass manche Dinge nicht wirklich stimmen, dass jederzeit ,Optimierungspotenzial’ besteht. Aber an eine Änderung des ,Systems’ glaubt niemand mehr wirklich. Und gerade das ist das ungeheure Problem.

Und auch die Unwahrhaftigkeit. Man zitiert etwas, das man selbst im ganzen folgenden Artikel schlicht übergeht, buchstäblich gleich wieder totschweigt. Und dann heißt es am Ende nur noch: ,...gerne übersehen werden in unserer aufgeregten Welt’. Anstatt: ,...Tag für Tag übersehen werden in unserer völlig kranken Welt’.

An diesen ,Feinheiten’, die aber Welten ausmachen, könnte man aufwachen für die Gretchenfrage: Wie ernst meint man es eigentlich selber? Loach meint es ernst – aber man kann ihn ,feiern’, ohne ihm auch nur einen Schritt zu folgen.

Viel ehrlicher ist eine Rezension auf ,filmstarts.de’, in der es zum Problem der Ausländerfeindlichkeit sehr konkret heißt:[o]

Wenn die Jungen der Stadt, die oft den ganzen Tag lang nichts richtiges zu Essen bekommen, traurig zusehen, wie ein syrisches Mädchen ein gebrauchtes Fahrrad gespendet bekommt, dann ist der Reflex, ihnen zu erklären, dass sie nicht eifersüchtig sein sollen, denn die aus dem kriegsgebeutelten Syrien geflüchteten Menschen hätten es ja noch viel schwerer als sie. Das stimmt ja auch – und trotzdem stellt Ken Loach stattdessen die Frage, warum die Jungs in einem der reichsten Länder der Welt nicht auch ein Fahrrad und ausreichend Essen bekommen sollten? [...]
Ken Loach verdammt den Rassismus kein bisschen weniger als andere Filmemacher*innen – und trotzdem versteht er besser als die allermeisten, woher diese Wut [...] stammen könnte und wohin sie eigentlich gerichtet werden sollte: Nämlich nach oben, so wie damals beim Minenstreik, und niemals in die Richtung der noch Schwächeren.

Dem Verfall überlassen

Tatsache ist doch, dass die Politik überhaupt keine Visionen hat – und innerhalb eines kapitalistischen Systems auch gar nicht haben kann. Helmut Kohl versprach ,blühende Landschaften’ im übernommenen Osten Deutschlands – und was haben wir heute? Abgehängte Regionen wir in Nordengland. Rechte Aufmärsche in Sachsen, möglicherweise bald überall im Osten Deutschlands die AfD als stärkste Partei.

Dies liegt nicht etwa daran, dass die Menschen im Osten ein Demokratiedefizit hätten – für Demokratie und Freiheit sind sie ja gerade 1989 auf die Straße gegangen. Sondern es liegt daran, dass ganze Regionen ihrem Schicksal überlassen wurden, weil, man kann es nur wiederholen, ein kapitalistisches System kaum etwas anderes tun kann. Im Einzelnen wiederholt sich dies mit jedem Bauernsterben, mit dem Kliniksterben, mit Laden- und Geschäftsschließungen und in unzähligen anderen Symptomen, auch mitten in den Zentren des Kapitalismus.

Loach sagt über die Entstehung dieses letzten Filmes – und es sind bezeichnenderweise nicht etwa der RBB oder das ,Neue Deutschland’, die dieses Interview veröffentlichen, sondern ein unbekanntes Szene-Magazin:[o]

Wir hatten schon zwei Filme im Nordosten Englands gedreht. Beides Geschichten über Menschen, die in dieser zerrissenen Gesellschaft gefangen sind. Beide endeten unweigerlich schlecht. In dieser Zeit haben wir dort aber so viele warmherzige und unbeugsame Menschen getroffen, die sich diesem Leben mutig und entschlossen stellen, dass wir auch das unbedingt zeigen wollten. Wir hatten das Gefühl, einen dritten Film machen zu müssen, der genau das widerspiegelt, ohne dabei die Probleme in dieser vernachlässigten Region zu verharmlosen. Es gab hier eine noch größere Geschichte für uns, wenn wir in der Lage wären, sie zu finden.
Unser Ausgangspunkt war der Verfall dieser Region. Die alten Industrien, Schiffbau, Stahl- und Kohlebergbau sind verschwunden und es ist nichts Neues an ihre Stelle getreten. Zahllose Gemeinden, die auf stolze Zeiten der Solidarität und lange kulturelle und sportliche Traditionen zurückblicken, wurden von Politikern beider großen Parteien dem Verfall überlassen.

Wieder sehen wir hier jenen Punkt, der den ,neulinken’ Autorinnen völlig entgeht: Dass in diesem Nordosten Englands noch reale seelische Substanz lebt, gerade weil diese Gesellschaft von Gewerkschaftskampf und Solidarität geprägt war. Es sind zutiefst reale Wirklichkeiten, um die es hier geht. Deswegen handelt es sich nicht um ,Sozialromantik’, sondern um das Realste, was es gibt – und was Loach, sein Drehbuchautor und seine Produzenten einfach zeigen wollten, natürlich auch als Vision, als Utopie, aber reale Utopie.

Und der andere Punkt ist: Diese Regionen wurden von der gesamten Politik, welcher Partei auch immer, dem Verfall überlassen. Es gab keine Visionen, und der Kapitalismus kann keine entwickeln. Sowohl der politische Mut als auch die Mittel für Visionen müssen innerhalb eines solchen Systems schlicht fehlen. Loach sagt weiter:[o]

Die Schwächung der Gewerkschaften ließ die Einzelnen in ihrem Kampf allein zurück. Wenn es keine starke Gemeinschaft mehr gibt, wenn das Unternehmertum angebetet wird und nicht das Miteinander, dann verändert sich das Bewusstsein und alte Wertvorstellungen verlieren ihre Kraft. All das hat einen Einfluss darauf, ob man die neu ankommenden syrischen Familien willkommen heißt oder nicht.

Und hier schließt sich der Kreis. Der Kapitalismus hat keinerlei Antworten. Aber er zerstört jene menschlichen Zusammenhänge und Kräfte, die Antworten hätten – weil sie sie noch im Herzen tragen. Das geht verloren. Denn der Kapitalismus vereinzelt, und er will die Zusammenhänge zerschlagen, weil sie eine Konkurrenz zu seiner Allmacht wären... Die Anonymisierung ist ganz im Sinne der profitierenden Kräfte – etwa, wie im Film, auf der Steueroase Zypern angesetzte Firmen, die Häuser jenes Ortes für einen Spottpreis aufkaufen...

Solidarität? Nicht profitabel...

Es geht in unserer Zeit ganz und gar um diese entscheidende Frage: ob es der Menschheit gelingt, vom desolaten, ruinösen Kapitalismus zu einer Gemeinwohlökonomie zu kommen, die das Einzige ist, was wirklich menschlich wäre. Schon jedes Kind könnte und würde das einsehen.

Aber in der Schule lernt man nur ,soziales Verhalten’, während der Kapitalismus über die einzelne Biografie gnadenlos hinweggehen kann, wenn man es nicht schafft mitzuhalten. So wird das Problem auf den Einzelnen abgeschoben, das doch eine Frage der ganzen Gemeinschaft sein müsste – die aber de facto gar nicht existiert. Deswegen ist und bleibt die Frage echter Solidarität die entscheidende – wie es der echte Sozialist Loach gerade in seinem letzten Film fast vermächtnishaft betont. Und er sagt, auch über die beiden vorherigen Filme:[o]

Die drei Filme, die ich im Nordosten Englands gedreht habe, waren eine beeindruckende Erfahrung für mich. Die Klischees, die man immer wieder über diese Region hört, stimmen: hier leben warmherzige, großzügige Menschen, es gibt eine atemberaubende Landschaft und eine Gemeinschaftskultur, die von Entbehrungen, Kampf und Solidarität geprägt wurde. Auch wenn sie sich in den Details unterscheiden, gilt das auch für die anderen Arbeiter-Viertel und Gegenden, in denen wir Filme gedreht haben. Seien es Glasgow und Clydeside, Liverpool und Manchester, South Yorkshire und andere. Wir haben diese Orte nicht zufällig ausgewählt, hier haben große Schriftsteller ihre wichtigen Geschichten geschrieben. Und natürlich gibt es noch andere Regionen, in denen Härte, andauernder Kampf und große Solidarität Teil der DNA sind. Und nicht zuletzt natürlich unsere menschliche Stärke und Entschlossenheit, die uns eines Tages hoffentlich so weit bringt, dass wir wirklich zusammenfinden und es nicht mehr nötig ist, zu kämpfen. Wir haben lange genug gewartet.

Das ist der Punkt. Welche Vision dagegen haben ,neulinke’ Artikelschreiber, die bei Yaras Gedanken über Wärme und Hoffnung, über Zusammenhalt und Menschlichkeit an willkürlich aus dem Netz gezogene Begriffe einer ,künstlichen Intelligenz’ denken? Es ist erschütternd, wie selbst in linken Zusammenhängen die entscheidende Essenz linker Kämpfe und Utopien immer weniger gesehen wird. Will man etwa keine solidarische Welt? Wenn man sie aber will, muss man doch erkennen, dass Solidarität niemals nur ,Ziel’ sein kann, sondern immer auch der Weg ist und sein muss!

Für den Kapitalismus ist Solidarität der Feind. Deswegen werden nicht nur bei Amazon Gewerkschaften bekämpft, sondern war die gewerkschaftliche Organisation immer schon das rote Tuch der Mächtigen und Profiteure. Das Leid des Einzelnen hat noch nie interessiert. Als Loach ,Ich, Daniel Blake’ drehte, traf er auch wieder unzählige Menschen, die diesem System zum Opfer gefallen waren: ,We met so many people who had been humiliated and destroyed and lost all sense of being able to hold their own in the world.’[o]

Menschlichkeit, Solidarität, Gerechtigkeit, ein wahrhaft menschliches Leben für jeden Einzelnen – das ist in diesem System nicht vorgesehen. Es wird daher auch nicht gewollt, allenfalls auf den Lippen getragen. Die Realität ist eine andere – und muss es in einem kapitalistischen System sein. Als Loach sich in den 60er Jahren politisierte, war die Kritik am Kapitalismus teilweise noch sehr theoretisch – damals konnten sich die Sozialisten (die den Stalinismus der Sowjetunion ebenso ablehnten wie den westlichen Kapitalismus) gleichsam kaum vorstellen, dass sich der Kapitalismus tatsächlich so krisenhaft entwickeln würde, wie sie voraussagten, aber genau dies trat durch den sozialdarwinistischen Neoliberalismus ein:[o]

The consequences of Thatcher and Blair have eroded the sense that we are responsible for each other, that we are our brothers’ and sisters’ keeper.  [...] We said that every crisis means more demands on the working class, more exploitation, but we were saying it in the abstract. People weren’t imagining zero-hours contracts, agency work, food banks. Who would have thought in the 60s that it would be acceptable and normal to starve unless you got charity food? It’s grotesque that we now accept this.

Heute hat man sich mit den Obdachlosen, den Working Poor, den unzähligen Katastrophen abgefunden, weil man nicht mehr begreift, dass jeder Einzelne und die ganze Gemeinschaft der ,Hüter seines Bruders’ ist. Dieses Wort stammt von Kain (1. Mose 4,9) – aber heute trägt das ganze System das Kainsmal, es wird schuldig an ungezählten Einzelnen. Weil es nicht menschlich ist, sondern im Zweifelsfall unmenschlich. Tag für Tag.

Das Ärgernis der Botschaft

Viele können diese Botschaft Loachs nicht ertragen – aber er spiegelt uns allen nur, wo wir als Menschheit stehen. Es ist ein Leichtes, die fortgesetzte Sozialkritik als naiv und ewiggestrig zu verleumden, aber, wie der britische ,Guardian’ mit vollem Recht kommentiert:[o]

Critics say Loach’s weakness is that he has never changed: he is still delivering the same Marxist sermon he was half a century ago. His fans argue that this is his strength. Loach himself, now an unlikely 80 years old, would ask why on earth he should change when the system remains the same.

Es ist eben eine Scheinwahrheit, dass der Kapitalismus sich gewandelt habe und daher heute auch anders bekämpft werden müsse. Die Linken, die ihn bisher nicht überwunden haben, flüchten sich in diese Scheinwahrheit, um ihr schlechtes Gewissen zu betäuben. In Wirklichkeit ist das Problem noch immer das gleiche – einfach nur verschärft, weil Anonymisierung und Vereinzelung inzwischen rasant weiter zugenommen haben. Solidarisierung wäre daher um so wesentlicher. Nicht etwa abstrakte Analyse oder ähnliches, denn Analyse gab es in der gesamten Geschichte sozialistischer Bewegungen genug. Immer wurde erkannt, wie schädlich der Kapitalismus ist. Was ihm entgegentreten konnte, war aber ebenfalls immer wieder das Gleiche: Solidarität untereinander.

Das Aufkommen linker Bewegungen ist ein Zeichen dafür, dass die Menschen diese Notwendigkeit begreifen. Und so sagte Loach 2016: ,I think people are getting the sense that the world cannot be sustained like this. The impulse behind Syriza, Podemos, Bernie Sanders in the US and Jeremy Corbyn is that another world is possible. There is a sense that we really have to change things now.’[o] Man hat Corbyn (2015 bis 2020 Labour-Vorsitzender) vorgeworfen, er würde zu sehr nur nach einer Bewegung, zu wenig nach der Macht streben. Aber es geht gerade um die Bewegung: ,It has to be a movement, in that it isn’t just an electoral machine. That’s what Blair and his acolytes never understood or never wanted. They just wanted the machine that would give them power as a clique. What the Labour movement is about is a broad mass of people actively engaged in a democratic process.’[o]

Es gibt jedoch immer mehr Menschen, die nur in Kategorien von Politfunktionären denken – und die an echte Veränderung gar nicht mehr glauben. Oder sie ohnehin nicht wollen, weil sie für die unglaublichen Ungerechtigkeiten überhaupt keinen Blick haben. Ein weiteres Beispiel hierfür gibt die ,Frankfurter Rundschau’, die an ,The Old Oak’ kritisiert:

Die Syrer erscheinen allesamt herzlich und selbst bärbeißige Briten haben im Grunde ein gutes Herz, an das sich appellieren lässt. Fast holzschnittartig einfach und klar lautet demnach die Botschaft des überzeugten Sozialisten Loach: Wenn man nur zusammenhält, egal wer man ist und woher man kommt, entsteht eine lebenswerte Zukunft.

Das Schockierende ist, dass diese desillusionierten Schreiberlinge sich diese Zukunft wahrscheinlich nicht eine Minute lang vorzustellen bemühen. Sie fühlen sich wohl mit ihrer bequemen Schreibtischanalyse, Loach sozialromantische Klischees unterschieben zu können, und kommen sic dabei sehr aufgeklärt, fortschrittlich und modern vor. Aber sie sind nur moderne Opfer der täglichen unsichtbaren Indoktrination, dass so etwas wie ein real geschwisterlicher Sozialismus (wie auch immer man ihn dann nennt) eine bloße Illusion sei.

Ansonsten müsste ihnen die eigene Unlogik doch wie Schuppen von den Augen fallen. Denn natürlich entsteht eine lebenswerte Zukunft immer dann, wenn man zusammenhält, egal wer man ist und woher man kommt. Und ... natürlich hat jeder Mensch ein gutes Herz, an das sich appellieren lässt – es sei denn, er ist hoffnungslos und unheilbar gedemütigt und verhärtet worden. Und dann bleibt die Frage, wodurch... Und natürlich ist auch dies Loachs Frage...

Seine Botschaft aber ist wie ein lebendiger Advent: Man kann nicht zwei Herren dienen. Und die Welt wird sich erst wandeln, wenn man dies bis ins Innerste erkennt – und sich seines wahren Menschentums bewusst wird. Nicht nur die frühen Christen haben den Kapitalismus konsequent abgelehnt. Aber auch heute sind dessen Impuls und der Impuls der Liebe und Solidarität schlicht unvereinbar.