23.12.2023

Wim Wenders’ zärtliche Utopie über das wahre Leben

Filmbesprechung: Perfect Days. Wim Wenders (Regie), JAP, 2023, 123 min. | Trailer.


Inhalt
Poesie eines schlicht erfüllten Lebens
Die verborgene Sehnsucht nach Sinn
Stille Zärtlichkeit – statt Seelentod
Das Geheimnis des Gemeinsinns


Poesie eines schlicht erfüllten Lebens

Was für ein wundervoller Film! Ruhig, zärtlich und so voller Seele – ,Perfect Days’, der neue Film von Wim Wenders, des Regisseurs von ,Paris, Texas’ (1984) oder ,Der Himmel über Berlin’ (1987).

In diesem Film geht es um den längst über sechzig Jahre alten Hirayama, der in Tokio als Toilettenreiniger arbeiten. Sein schlichtes, bescheidenes Leben ist aber auf gewisse Weise reine Poesie. Denn er verwirklicht das, wonach so unendlich viele Menschen streben: eine tiefe Zufriedenheit, eine Verbundenheit mit allem, eigentlich eine Haltung des Zen – aber bereichert durch eine Liebe zum Leben.

Die japanische Kultur hat eine ausgesprochene Nähe zu dieser existenziellen Poesie – man denke etwa an die Haikus, an die Kalligrafie, die eng mit dem Zen zusammenhängende Blumenkunst und anderes. Gleichzeitig aber ist natürlich auch die japanische Kultur inzwischen hoch industrialisiert, sind die Großstädte eigentlich Beton- und Stahlwüsten – und geht die Lebenskunst auch hier radikal verloren.

Aber – Hirayama hat diese Kunst zu seinem Wesen gemacht. Jeden Morgen steht er früh auf, geweckt von dem Geräusch eines Reisigbesens auf der Straße, legt seine Matratze ordentlich zusammen, seine Arbeitskleidung an, steigt in seinen kleinen Wagen und fährt zu seinen Arbeitsplätzen – Toiletten, die zu öffentlichen Parks gehören. Auf dem Weg hört er seine Lieblingsmusik der 60er und 70er Jahre, die er auf ein, zwei Handvoll alter Kassetten besitzt – der erste Song ist ,House of The Rising Sun’.

Die Musik dieser Zeit hatte noch wirkliche Seele – und die ganze Tiefe einer Seele spiegelt sich schon auf dem Gesicht Hirayamas, während er noch im Auto sitzt. Aufmerksam achtet er auf jede Kleinigkeit, eine tiefe Ausgeglichenheit strahlt von ihm aus, etwas, was man regelrecht ,Güte’ nennen könnte.

Wenn er dann seine Arbeit antritt, vollbepackt mit Utensilien, ein ganzes Bund voller Schlüssel am Overall, wird sein ganzes Verantwortungsgefühl für seine Arbeit sichtbar. Hirayama arbeitet so sorgfältig wie ein Arzt oder ein Uhrmacher. Er wird völlig eins mit seiner Arbeit, seiner Aufgabe – und die Toiletten, die er betreut, sind sauber; jeden Tag wieder stellt er einen Zustand her, der einen staunen lässt, der einen geradezu demütig macht.

Und dann geht er nach der Arbeit in diesem oder jenem immer gleichen kleinen Lokal oder Straßenstand etwas essen oder trinken, auch in ein schlichtes, einfaches Badehaus, und wenn er wieder in seiner Wohnung ankommt, liest er Weltliteratur, die er sich in einem kleinen Antiquariat kauft. Etwa William Faulkner. Oder auch Kurzgeschichten von Patricia Highsmith.

Die verborgene Sehnsucht nach Sinn

Für Hirayama ist dies keine Zerstreuung. Auch dies ist für ihn Hingabe – an wertvolle Literatur, an Dinge, die Wert haben. Es ist ein Eintauchen, eine Zeitgenossenschaft, eine Verbindung mit dem Menschheitserbe. Es ist ein Teilnehmen, ein Sich-Öffnen.

Und diese innere Geste sieht man ihm in jedem Moment an. Etwa, wenn er in der Pause einen kleinen Park betritt, an dessen buddhistischem Tor er sich immer kurz verneigt, um dann seine zwei halben Sandwichs zu essen, während er sich dem Lichtspiel in den Baumkronen hingibt und dieses auch ab und zu mit einer alten Kamera auf ebenso alten Schwarz-weiß-Fotofilmen festhält – die Schönheit des Lichtspiels, das so sehr für den jeweils einzigartigen Moment steht und wofür es nur im Japanischen ein eigenes Wort gibt: Komorebi.

Was Hirayama besitzt, wird um so eindrücklicher im Kontrast mit der übrigen Welt. Sein junger Kollege Takashi kann sich mit seinem ,Job’ (für ihn ist es nur ein Job) gar nicht anfreunden – lieber würde er Chancen bei Aya haben, in die er verliebt ist. Hirayama ist von seiner Nachlässigkeit überhaupt nicht begeistert, aber als Takashis Motorroller ausfällt, leiht er den beiden seinen Wagen, selbst auf dem Rücksitz sitzend. Aya will aber von dem ewig quasselnden Takashi eigentlich eher gar nicht viel wissen – was sie dagegen auf einmal berührt, ist die Musik von Hirayamas Kassetten.

Was sich hier offenbart, ist eigentlich eine tief verborgene Sehnsucht auch der Jugend nach echtem Sinn, nach Seele, nach Tiefe – die der ,moderne’ Alltag auch in Japan nirgendwo bereithält. Auch auf Spotify ist dies nicht zu finden ... und dann auf einmal plötzlich in wahrscheinlich irgendwann einmal sogar selbst zusammengestellten Kassetten. Die Tragik des modernen Lebens zeigt sich hier eindrücklich. Irgendwann, als sie Hirayama einen vorübergehend ,entwendete’ Kassette zurückbringt, drückt sie ihm sogar einen schnellen Kuss auf die Wange. Auch dies zeigt, dass diese junge Frau für diesen Mann, der das Leben tiefer kennt als jeder andere, mehr als nur Sympathie empfindet. Es geht nicht um Events, nicht um Sex, es geht um Sinn ... und ein tiefes Sich-Verbinden. Auch Aya spürt das unbewusst.

Und dann ist da noch seine zwölfjährige Nichte, die plötzlich mit dem Handy auf seiner Treppe sitzt, weil sie von zu Hause weggelaufen ist. Auch bei ihr ist es so, dass sie schön öfter daran gedacht hatte – und dass ihr dann immer nur dieser Onkel einfiel, den sie aber schon jahrelang nicht mehr gesehen hatte, sicherlich auch, weil er von der übrigen, wohlhabenderen Familie irgendwo als ,Absteiger’ ad acta gelegt wurde... Das Mädchen Niko aber lebt nun ein paar wenige Tage mit ihm, begleitet ihn bei seiner Arbeit, taucht ein in sein ruhiges Leben – und man sieht ihr förmlich an, wie auch sie dadurch noch einmal eine Essenz geschenkt bekommt, bevor sie von ihrer Mutter, Hirayamas Schwester, wieder ,aufgegriffen’ und zurückgeholt wird.

Stille Zärtlichkeit – statt Seelentod

Das Geheimnis von Hirayama ist eine tiefe Empfindungsfähigkeit. Seine Seele gibt sich den Dingen hin. Es ist der Gegenimpuls zum modernen Selbstbezug der Seele. Es ist die wirkliche Haltung des Zen ... aber bereichert durch einen zarten, stillen, bescheidenen Liebesimpuls. Im Grunde verwirklicht Hirayama in seiner Seele eine stille Zärtlichkeit. Diese Tiefe der Empfindung macht es möglich, dass er in den letzten Szenen des Films, wieder hinter dem Steuer seines Wagens, gleichzeitig lächeln und weinen kann. Es ist einfach die Fülle der Empfindungen, die ihn sanft überwältigen, weil er es zulässt. Schon lange.

Und es ist symptomatisch, dass davon dann sowohl die junge Frau Oya als auch das Mädchen Niko angezogen werden. Sie wollen in der Tiefe ihrer Seele gar nicht den ganzen seelenlosen Schnickschnack, der heute die ,Segnungen der modernen Zivilisation’ ausmacht. Sondern sie sehnen sich nach Sinn, nach Bedeutung, nach echter Begegnung und Tiefe. Hier lebt das Menschliche. Und das können sie noch spüren.

So offenbart der Film eigentlich in zarter Deutlichkeit, für jeden, der es sehen will, auch die ungeheure Destruktivität dessen, was sich heute eben ,moderne Kultur’ nennt – die aber seelenlos ist, anonym, leer, nur erfüllt mit materiellen Verlockung, jedoch nichts weiter.

Wim Wenders, der seit langem eine Liebe zu Japan hat, bringt dies im Interview eigentlich auch unmissverständlich zum Ausdruck:[o]

Sehen Sie, ich habe versucht, einen utopischen Film zu drehen, in einer Realität, in der uns viele Fragen zu entgleiten scheinen. Mir selbst ja auch! [...] In einer Gesellschaft, die einem einredet, dass man nichts verpassen darf, merkt man manchmal mit großer Wehmut, dass man deswegen das Wesentliche verpasst, allem voran die Aufmerksamkeit für das Heute, das Hier und Jetzt. Für Hirayama ist das anders. Er hat sich freiwillig reduziert und kommt damit großartig aus. Er erlebt trotzdem viel und sieht viel...

Die moderne Gesellschaft leidet eindeutig an einem krassen Zuviel von allem, wie er in einem anderen Interview deutlich macht [o]:

Eins ist klar: Wir haben alle zu viel von allem, vom Essen angefangen bis hin zu geistiger Nahrung, also Büchern, Musik, Filmen oder sonstigem Entertainment. Trotz dieses Zuviels sind wir alle nicht happy, im Gegenteil...

Der Kapitalismus mit seinem ständigen Zwang zu Produktionen, wie sinnlos und schädlich sie auch sein mögen, ist längst an Todespunkten angekommen. Sowohl die Erde als auch die Seele sterben längst, und noch immer erkennen wir nicht die Sackgasse... Und auch Wenders wird noch deutlicher [o]:

Viele dieser jungen Leute haben dieses große Bewusstsein, dass das Zuviel [...] das wirkliche Problem unseres Planeten ist. In der Tat ist die heilige Kuh des ewigen Wachstums unser großes Dilemma. Anders als die jungen Leute komme ich erst auf meine alten Tage darauf, dass man da nicht mehr mitmachen sollte.

Und er beschreibt auch die seelischen Todesprozesse, die gerade vom Handy ausgehen [o]:

Alle starren überall auf ihre Smartphones, und [...] es macht mich traurig, dass niemand mehr auf anderes oder andere achtet. Da ist eine regelrechte Blindheit für die Welt. Vor der Pandemie bin ich durch China gereist, und da war alles noch einen Zacken verschärfter. Ich war an einigen wunderschönen Orten, und da war ich oft umgeben von Hundertschaften, die das überhaupt nicht mehr gesehen, sondern nur noch mit ihren Handys fotografiert haben. Da wurde nicht mal mehr der Kopf gehoben. [...] Neulich gab es einen Versuch dazu in New York. Eine Gruppe von Menschen ging den ganzen Tag mit einer Karte durch die Stadt, eine andere mit ihren Handys und deren Navigationssystemen. Alle sollten dieselben Orte finden und anschauen. Die Gruppe mit den Karten hatte am Ende viel zu erzählen, die mit den Handys kaum etwas, da war nichts hängen geblieben.

Die Rettung der Seele wird erst dann beginnen, wenn dies alles wieder radikal ehrlich thematisiert werden wird – das ganze Ausmaß endlich begreifend und nicht mehr beschönigend.

Das Geheimnis des Gemeinsinns

Und dann gibt es noch einen weiteren Aspekt. In Japan ist der Egoismus noch nicht so weit fortgeschritten wie im Westen. Es gibt in Japan noch eine Kultur der Zurückhaltung, des Dienens. Natürlich kann dies auch ganz unzeitgemäße Hierarchien stützen – aber es kann auch den sozialen Zusammenhalt erhalten, der in den modernen oder postmodernen Gesellschaften im Grunde radikal wegbricht, auch dies vor allem, wenn nicht ausschließlich, eine Folge von Kapitalismus und Materialismus.

Wenders beschreibt im Interview, wie der Corona-Lockdown in Japan eine ganz andere Wirkung hatte als etwa in Deutschland. Hier in Deutschland ging der soziale Zusammenhalt in einer unvorstellbaren Weise verloren – weil einerseits Menschen, die sich nicht impfen lassen wollten, radikal ausgegrenzt wurden, andererseits ,Wutbürger’ sich ihrerseits vom staatlichen Gemeinwesen radikal lossagten. Jeder meinte, Recht zu haben, und das gesellschaftliche Klima wurde regelrecht vergiftet.

In Japan dagegen wurde der öffentliche Raum nach Ende der ganzen ,Maßnahmen’ wieder behutsam und vorsichtig erobert, gleichsam gemeinsam und in gegenseitigem Respekt [o]:

Bei uns hatte die Pandemie ein großes Opfer, fand ich, nämlich den Sinn für das Gemeinwohl. In Tokio war das Gegenteil der Fall: Als ich im Mai da war, kurz nach dem Ende eines irre langen Lockdowns, kamen die Leute zum ersten Mal endlich raus und haben die Straßen, Parks und öffentlichen Anlagen wieder in Besitz genommen. Aber im Gegensatz zu unseren Breitengraden geschah das mit großem Respekt für all das, was eben der Gemeinschaft gehört.

Auch dies inspirierte Wenders zu diesem Film. Hirayama ist ein Mann, der sich nicht nur seiner Arbeit, sondern gleichbedeutend damit der ganzen Gemeinschaft hingibt – denn die Toiletten gehören der Öffentlichkeit. Jeder Einzelne könnte sie jederzeit einmal benötigen. Hirayama will kein großes Geld verdienen – er braucht keines, nur das Wenige zum Leben. Er arbeitet, weil es Sinn ergibt, Sinn hat, seinen Mitmenschen dient, die er nicht kennt, die aber da sind und die er achtet, ganz selbstverständlich und ohne das eigens sagen zu müssen.

Hirayama ist kein ,Held der Arbeit’. Er ist ein stiller Held wahrer Menschlichkeit. Und ein zärtliches Vorbild echter Lebenskunst.

Aber diese Lebenskunst hat eben auch nur Sinn, wenn sie eingebettet ist in eine Liebe zum Ganzen. Das wird der westlichen Menschheit am schwersten fallen, wiederzufinden. Denn Meditationskurse kann jeder belegen. Aber für Einrichtung radikale stille Zärtlichkeit gegenüber dem Ganzen muss eine Seele wirklich eine existenzielle Entscheidung treffen. Und erst das ist wahres Glück. Wiederverbindung, Verbundenheit.