30.12.2023

Die Arbeitswelt als Schaltzentrale von Extremisten

Buchbesprechung: Sven Hartberger: Mallingers Abschied, oder Vom Sinn und vom Unsinn der Arbeit. Wien 2023.


Inhalt
Erschütternde Wahrheiten
Keynes’ Prophezeiung und der Irrsinn
Die sinnlos Gedemütigten
Was erst wahre ,Kultur’ wäre
Ökonomie – gekapert von Extremisten


Erschütternde Wahrheiten

Es gibt Bücher, die man eigentlich nur ganz zufällig findet und die trotzdem eine ungeheure Entdeckung darstellen. Weil sie zum Beispiel wie wenig andere zu einem echten Nachdenken anregen.

Ein solches Buch ist ,Mallingers Abschied’, das ich hier besprechen möchte. Geschrieben von Sven Hartberger und erschienen im Verlag ,Sonderzahl’ in Wien, befasst es sich mit den Absurditäten der heutigen ,Arbeitsgesellschaft’ – so unorthodox, dass es sie überhaupt erst in ganzer Tiefe offenbart.

Hartberger lässt verschiedene fiktive Charaktere zu Wort kommen, zunächst alles Patienten des Ich-Erzählers, eines Therapeuten, dem diese ihren persönlichen Blick auf die Arbeitswelt und ,die Wirtschaft’ preisgeben. Der Ausgangspunkt ist bereits zu Beginn klar – es ist die Verzweiflung des Therapeuten angesichts der Fülle von Leid, die ihm in den ganzen Jahren seiner Tätigkeit bereits begegnet ist und die immer wieder mit ebendiesen Verhältnissen zu tun hat, die alles dominieren. Krankmachend. Er spricht von ,deutlichen Zeichen der Besessenheit’, die der globalisierte Norden diesem Feld der Arbeit gegenüber an den Tag legt:

Und ich bin es nicht nur müde geworden, ich meine vielmehr, dass ich es gar nicht länger verantworten kann, wenn ich meine Hand zur Ruhigstellung von seelischen Alarmsignalen reichen soll, in denen ich nichts anderes erblicke als die grundvernünftige Weigerung von Leib und Seele, in Verhältnissen zu funktionieren, die dem Leben nicht zuträglich sind. Immer weniger bin ich bereit, solche Verweigerungen als Störung oder gar als Erkrankung zu sehen, und immer deutlicher erkenne ich sie als Umkehr ins Eigentliche, ins Lebenswesentliche, als jene von heftigen, aber in Wahrheit harmlosen Fieberschüben begleitete höchst notwendige Krisis, die ein als Krankheit missdeutetes Zeichen der beginnenden Gesundung ist. (10)

Die ,Ökonomisierung’ fast aller Lebensbereiche ist derart weit fortgeschritten, dass ,wir das Vorrecht von Ökonomie und Arbeit vor jeder anderen Lebensregung fraglos und ohne weitere Überlegung akzeptieren’. Und eine der größten Ungeheuerlichkeiten besteht darin, dass die Forderung eines Rechts auf Faulheit, wie sie Paul Lafargue 1880 in einer Streitschrift erhob, ein schwer sanktionierter Tabubruch wäre, während Intensität und Charakter der heutigen Arbeit längst den gesamten Planeten zerstört! (13).

Sabine Halstarnigg, einer der Charaktere, spricht ganz offen auch die krassen Ungerechtigkeiten dieses heute dominierenden ,Wirtschaftssystems’ an:

Kein Mensch kann ein Privatvermögen von zweihundert Milliarden verdienen. Verdienen, nämlich. Verdienen, das bedeutet, nach Regeln erwerben, die in irgendeinem vorstellbaren Sinn den geringsten Forderungen von menschlicher Gesittung, von Anstand und Gerechtigkeit entsprechen. Nach solchen Regeln kann ein dermaßen sagenhafter Besitz nicht aufgehäuft werden. Nie und nimmer. Möglich ist das nur nach den Gesetzen, die heute auf der ganzen Welt gelten. Und daraus folgt, das versteht sich von selbst, dass diese Gesetze ganz anderen Regeln folgen müssen als jenen von Sitte, Anstand und Gerechtigkeit. (19)

Und um nicht bloß auf Milliarden zu schauen – später wirft sie ihrem Profiteur-Onkel folgende Wahrheit an den Kopf: ,Ich habe gesagt, dass jeder, der dreihundert Mal so viel verdient wie seine Putzfrau, ein Dieb ist. Und übrigens auch jeder, der hundert Mal oder fünfzig Mal so viel einstreift.’ (120).

Sie verweist auch darauf, dass ein ,Bruttosozialprodukt’, das keinerlei Rücksicht auf soziale Anliegen nimmt, sondern nur ein ,nichtssagendes Additionsexempel’ ist, als ,Bruttoasozialprodukt’ bezeichnet werden müsste (21). Und auch sie kommt zu dem Schluss:

Wer will, dass die Erderwärmung, das Artensterben, das Brennen der Regenwälder und das Abschmelzen der Polkappen zu einem Ende kommen, muss vor allen anderen Dingen eines tun: weniger arbeiten. Viel weniger. (23)

Auch ein junger Mann sieht nicht ein, warum er mehr als nur das Nötigste arbeiten solle: , Die Republik, in der ich lebe, fördert umweltschädliche Wirtschaftsaktivitäten mit sechs Milliarden Euro, nicht im Jahr, Monat für Monat. [...] Und auch zum Brotbacken werde ich nicht gebraucht, solange in meinem schönen Land fünftausend Tonnen davon in den Müll wandern. Täglich.’ (33).

Obwohl die Arbeitsproduktivität seit 1975 um das Zweieinhalbfache gestiegen ist, ist die wöchentliche Arbeitszeit kein bisschen gesunken (35) – jedoch sind die Profite mächtiger Konzerne und Aktionäre stetig gestiegen. Und die Gesetze werden von den wechselnden Regierungen stets im Sinne der mächtigen Lobbyisten dieser größten Profiteure gemacht... (37f).

Keynes’ Prophezeiung und der Irrsinn

Einer der Profiteure, der Charakter Lars-Hagen Macher, tätig in der Autoindustrie, spricht dann auch ganz offen aus, was das eigentliche Ziel ist:

Das Produkt unserer Mühen sind aber in Wahrheit gar nicht die Fahrzeuge. Die erzeugen wir nur so nebenher. Was wir wirklich herstellen, ist Arbeit. Wir versorgen die Welt mit Arbeit, mit immer neuer, nie endender Arbeit. Und Arbeit, sehr viel Arbeit braucht die Welt. Natürlich nicht, um die Bedürfnisse von Menschen zu befriedigen. Das ließe sich beim heutigen Stand der Arbeitsproduktivität ohne Weiteres und auf sehr komfortablem Niveau mit einer Zwanzig-Stunden-Woche bewerkstelligen. Die meiste Zeit der heutigen Wochennorm wird nur zur Herstellung der zwei Hauptprodukte unserer Industrie gearbeitet, für die Erzeugung weiterer Arbeit und natürlich für den Profit. (44)

Technischer Fortschritt, wird nicht etwa zu besserem Haushalten mit begrenzten Ressourcen genutzt – nein, die Autos wurden immer größer und leistungsstärker. Nur so sind bleibende Profite möglich (46). Aktuellstes Beispiel sind die sogenannten ,SUVs’, ökologischer Irrsinn, aber inzwischen der meistverkaufte Fahrzeugtyp überhaupt!

Der titelgebende Charakter Mallinger, ein loser Bekannter des Therapeuten, erweist sich als eine Art gedanklicher Partisan gegen diesen ganzen Irrsinn. Er verweist auf den Wirtschaftswissenschaftler Keynes, der in seinem Werk ,Economic Possibilities for our Grandchildren’ 1930 vorausgesagt hatte, dass der Wohlstand in unserer Zeit (2030) achtmal so groß sein würde – bei einer Normarbeitszeit von gerade noch 15 Wochenstunden (56). Mallinger arbeitete in den 70er Jahren in seiner Doktorarbeit heraus, dass es 18 Wochenstunden wären – aber das Ziel nur erreicht werden würde, wenn der technische Fortschritt eben diesem menschlichen Zweck dienen würde und nicht etwa anderen Zwecken (59).

Natürlich geschah aber genau dies – und so sind heute nach wie vor die Menschen zu einer Vollzeitarbeit gezwungen, unter Verhältnissen, die junge Menschen immer mehr ablehnen. Mit vollem Recht, wie auch die engagierte Lehrerin Theodora Denk bekennen muss, die sich fragt, wie echte Bildung (die es ja gar nicht mehr gibt) noch zu einer katastrophalen Zukunft passt:

Welchen Wert sollte Bildung auch haben, die im Gegensatz zur Ausbildung keinem praktischen Zweck folgt und lediglich darauf abzielt, durch die abstrakte Weitung des geistigen Horizonts genau jene Art von Freiheit zu gewähren, für deren Nutzung im Leben der Zukunft nicht mehr viel Raum sein wird? (62)

Auch sie erweist die Behauptung, Arbeit diene der Versorgung der Menschen, als völligen Irrtum, da die Realität die tägliche gigantische Überproduktion ist:

Allein in den Ländern der Europäischen Union werden jedes Jahr achtundachtzig Millionen Tonnen Lebensmittel in vollkommen einwandfreiem, genießbarem Zustand entsorgt und mit ihnen die nutzlos getane Arbeit, die zu ihrer Herstellung, für ihre Verpackung, für ihren Transport und schließlich für ihren Abtransport und ihre Vernichtung notwendig war. Achtundachtzig Millionen Tonnen, das wirft man nicht einmal so eben in den Mistkübel, so dass die Zerstörung des Überschusses beinahe noch einmal so viel Arbeit macht, wie seine Herstellung. Von den ungeheuren Mengen an Kleidung, die im Wesentlichen für den Container und die Müllverbrennung produziert werden, sprechen wir da noch gar nicht, und auch nicht von den Milliarden in anderen Bereichen geleisteten Arbeitsstunden, mit deren Produktionserfolg unsere Landschaft, unsere Meere und unsere Leben sonst noch vermüllt werden. (66f)

Längst sind Heerscharen von Spezialisten damit beschäftigt, ständig neue Begehren zu erzeugen – nach Dingen, die im Grunde kein Mensch brauchen würde (66).

Auf die unfassbar arroganten Äußerungen eines weiteren Profiteurs wie Bernard Holländer, der sich darüber aufregt, soziale oder ökologische Verantwortung übernehmen zu sollen und sich für Menschenrechte schlicht nicht interessiert (mit Verweis auf die USA, die ebenfalls weder die Kinderrechtskonvention noch den Sozialpakt ratifiziert haben), verzichte ich, aber auch sie sind äußerst lesenswert, denn sie offenbaren, wie radikal das Gewisse abgetötet wird, sobald die Profite den Charakter erst einmal verdorben haben (71ff).

Die sinnlos Gedemütigten

Ihm gegenüber steht Laetitia Fröhlich, Mitarbeiterin beim ,Arbeitsamt’ (,Jobcenter’), die zutiefst darunter leidet, dass sie die Menschen in ,arbeitswillige’ und ,arbeitsunwillige’ einteilen soll, um den letzteren die ohnehin schon erbärmliche finanzielle Unterstützung zu sanktionieren – obwohl die ,Zumutbarkeitsregeln’ jeden Arbeitslosen heute eigentlich zum Sklaven machen, der überall hingehen muss, gedemütigt wird und nicht selten psychisch krank wird (82). Dieses ganze, extrem menschenfeindliche Sanktionsregime bindet gleichzeitig unglaublich viel Arbeitskraft – nur um jenen winzigen Bruchteil ,abzustrafen’, auf den man sich damit fixiert, während ein großer Teil der Sanktionen von Gerichten (mit Recht) wieder aufgehoben werden (83).

Fast kein Mensch verzichtet freiwillig auf ein vernünftiges Einkommen an einem echten Arbeitsplatz:

Es sind [...] sehr, sehr wenige, die bereit sind, auf Arbeit und Einkommen zu verzichten, und zu allermeist sind sie das nicht aus freiem Willen, sondern weil sie auf vielfältige Weise kranke, vom Leben gezeichnete Menschen sind. [...] Es wäre vernünftig, Erwerbslosen einfach und ohne viele Nachfragen das Notwendige zum Leben zu geben. Das reißt kein Loch ins Budget der Republik, und es ist auch kein Problem für die Versorgungssicherheit. Es ist nur ein Problem für schlechte Unternehmen, die schlechte Arbeit schlecht bezahlen und ihre Mitarbeiter schlecht behandeln. (84) Wir zwingen Menschen, Arbeit in Betrieben anzunehmen, von denen wir wissen, dass sie systematisch das Arbeitsrecht verletzen. (85)

Und während am unteren Ende um jeden Euro gefeilscht wird und in jedem zehnten (!) Haushalt der steinreichen EU das Geld für eine gesunde Ernährung fehlt, von kultureller und gesellschaftlicher Teilhabe ganz zu schweigen, werden am oberen Ende die Millionen und Milliarden gescheffelt... (86)

Und erneut: Jeder Mensch, der nicht oder weniger arbeitet, hilft dem gesamten Planeten zu überleben! (90).

Mallinger verweist dann gegenüber all den Profiteuren, die behaupten, sie würden am meisten von allen arbeiten, darauf, dass dies eine reine Schutzbehauptung ist, um nicht tauschen zu müssen – während schon Adam Smitz darauf hinwies, dass Arbeit nicht gleich Arbeit ist:

[...] und dass in der beschämend dürftig entlohnten Stunde, die [...] die Reinigungskraft putzt und scheuert, die Kassierin auf ihrem Sitz an der Kassa festgeschraubt ist und die Pflegekraft übergewichtige und inkontinente Patienten aus dem Bett wuchtet ein unendlich viel größeres Quantum an Arbeit steckt, als in der fürstlich bezahlten Stunde, in der alle diese Klugschwätzer auf ihren gepolsterten Sitzen in klimatisierten Räumen bei Konferenzen und Meetings verbringen und dafür sorgen, dass sich an den herrschenden Verhältnissen nichts ändert, und am allerwenigsten an der Arbeitslast, die andere Menschen zu tragen haben. (96f)

Und der ,Kuchen’ wächst noch immer stetig: ,Wäre es anders, könnten die Anzahl der Millionäre und der Milliardäre und ihre Vermögen ja nicht ständig zunehmen, während gleichzeitig die Werktätigen mit realen Einkommensverlusten kämpfen müssen.’ (99).

Wohin fließt der ,Fortschritt’ noch? Theatervorstellungen haben weder mehr Qualität als früher, noch schenken sie den Menschen mehr Freude als früher. Dennoch wird immer größerer Aufwand in die Produktionen gesteckt, hinzu kommen Administration und Wartung der neuen Technologien, höhere Ansprüche und Vorgaben an Kommunikation und Dokumentation. Überall wird Arbeit geschaffen, damit sie sich nicht verringert, während die Burnouts zunehmen... (100f).

Gleichzeitig wird völlig sinnlos von ,Altersarmut’ und ,Teilzeitfalle’ geredet, als könne dies nicht ganz einfach durch eine gerechte Verteilung des ja vorhandenen Wohlstands gelöst werden. Entgegen steht dem nur die Gier einiger mächtiger Profiteure und die politische Mutlosigkeit der gewählten ,Volksvertreter’ (102). Es läge so nahe:

Um den halben Preis an Anstrengung, den die Arbeitsgesellschaft fordert, könnten wir eine andere Art von Wohlstand bekommen, nämlich saubere Luft, sauberes Wasser, gesunde Böden, Artenvielfalt, unverbaute und frei zugängliche Natur, Stille und Bildung, Zeit für die Familie, für soziales Engagement, für Sport und für die Nutzung all unserer schönen Kulturgüter, für die wir jetzt nur das Geld, aber leider keine Zeit haben. (104)

Was erst wahre ,Kultur’ wäre

Bis in die Sprache hinein stellt Mallinger die Begriffe richtig: Was heute ,Kultur’ heißt, ist nur noch ein abgehobenes Anhängsel, während unsere ganze Gesellschaft in Kulturlosigkeit versinkt. Kultur zeigt sich nicht in Oper und Museen, sondern im echt menschlichen Miteinanderleben:

[...] in einer einigermaßen homogenen Verteilung von Einkommen, in gerechter Güterverteilung [...] und am Ausmaß der Allmende, also der Güter, die allen zur Verfügung stehen und die nicht einer zahlungskräftigen Minderheit vorbehalten sind. Der Grad, in dem eine Gesellschaft diese Art von Wohlstand gewährleistet, ist zugleich der Grad, in dem sie als Kulturgesellschaft bezeichnet werden kann. (106)

Heute wird aber nicht einmal mehr die Frage danach gestellt: ,Von den Kulturministerinnen müssten die Zielsetzungen vorgegeben werden, die von Wirtschaft, Finanz, Verkehr, Städteplanung, Gesundheit und allen anderen Fachministern zu erfüllen sind. [...] Für die Formulierung, für die Gestaltung einer solchen Kultur ist in unseren Regierungen aber niemand zuständig und für ihre Etablierung schon gar niemand.’ (108f).

Der aufrichtige Künstler Nikos Manikas beklagt denn auch, dass für echte Kultur schon eine gemeinsame Sprache fehle, die noch benennen könnte, was wahrhaft menschlich und wesentlich sei (115). Stattdessen schreitet im Kunstbereich etwa eine ,Event’-Unkultur voran, die das Gegenteil des deutschen ,Ereignis’ sei:

Der Event sei nichts weiter als ein planmäßig hergestelltes Nichts. Das Entscheidende an ihm sei, dass er stattgefunden hat, und dass man dabei gewesen ist. [...] Das Ereignis hingegen sei etwas grundlegend anderes, vollkommen unplanbar, es stelle sich ein, unverhofft und selten genug, auf geheimnisvolle Weise. Wer Zeuge eines wirklichen Ereignisses würde, werde von diesem tief berührt, verwandelt und von der Erfahrung durch ein ganzes Leben begleitet. (111)

Und immer wieder Fakten: Die allgemeine Inflation betrug in fünfzig Jahren 200 %, die Grundstückspreise aber stiegen zehnmal mehr, in großen Städten sogar über hundertmal (!) mehr (147). Dies zeigt den ganzen Irrsinn, wenn nicht vermehrbare Güter zum Profitobjekt werden – Güter, die niemals Ware hätten werden dürfen, sondern immer Eigentum der Allgemeinheit hätten bleiben müssen.

Laetitia Fröhlich setzt sich schließlich auch mit den Einwänden eines echten, bedingungslosen Grundeinkommens auseinander – dass ,die Leute’ nicht mehr arbeiten würden. Dass es ,nicht zu finanzieren’ sei. Dabei ist das jetzige Wirtschafts-, aber auch das ,Sanktionssystem’ derart unmenschlich, dass beide Menschen oft genug zu seelischen Wracks machen, was der Gesellschaft erst wirkliche Kosten auferlegt (151). Die meisten Argumente seien nichts weiter als:

[...] die Philosophie einer Diebsgesellschaft, die mit großer Selbstverständlichkeit ihr Recht behauptet, sich an den Mühen von Menschen zu bereichern, die in die Botmäßigkeit gedrückt sind und denen der gerechte Lohn nach den Gesetzen der Marktlogik vorenthalten werden kann. (154)

Interessanterweise sind gigantische Bauprojekte, Milliardenrettungen von Banken, Milliarden für Waffen und Kriege und anderer Irrsinn jederzeit finanzierbar – kein Krieg ist wegen zu wenig Geld abgesagt worden. Angeblich nicht finanzierbar dagegen ,sind regelmäßig Bildung, Krankenversorgung, Pflege und natürlich der Sozialstaat’ (156).

Der Irrsinn ist so groß, dass inzwischen schon Krankenhäuser Rendite-Unternehmen geworden sind. Personalmangel führt dann dazu, dass selbst die Grundversorgung der bettlägerigen Patienten oft nicht mehr gesichert ist. Dass Kinderstationen geschlossen werden, weil sie sich im Gegensatz zu oft sinnlosen, vorschnellen Operationen nicht mehr ,rentieren’ (161). Und während die PflegerInnen unterbezahlt und überlastet sind, bekommen die Chefärzte, die mit OPs etc. besonders hohe Gewinne einfahren, sogar noch Bonus-Zahlungen der Klinik-Konzernführungen... (163)

Ökonomie – gekapert von Extremisten

Am Ende verweist Mallinger auf die Essenz des Begriffes ,Ökonomie’ – ,Haushalten’. Darin steckt wesenhaft der Gedanke der Nachhaltigkeit. Die heutige Ökonomie aber ist das Gegenteil, sie ist eigentlich eine unmenschliche Anti-Ökonomie:

Es gibt keinen Mangel an Arbeitskraft. Es gibt nur eine Misswirtschaft, die das kostbare Gut rücksichtslos, ohne jedes Maß und vor allem ohne jedes vernünftige Ziel verschwendet. Deshalb und nur deshalb fehlt sie dort, wo sie tatsächlich gebraucht wird. Das wird auch ständig schlimmer werden, solange die Arbeit nach der Pfeife eines Marktes tanzt, der sie immer nur dorthin zieht, wo Geld und immer noch mehr Geld zu machen ist. (178)

Die eigentliche Aufgabe der Wirtschaftswissenschaft wäre es, staatliche Steuerinstrumente zu entwickeln, um die wahrhaft menschlichen Ziele zu erreichen (177). Stattdessen fehlen kostbare Ressourcen und Arbeitskraft für die Jugend und die Sorge für die Kranken und Alten – und wird dies ,vergeudet zur Herstellung von Milliarden Tonnen von Dingen, die entweder gar nicht oder nur sehr wenig genutzt werden, bevor der ganze Überfluss auf gigantischen, giftigen Deponien und in den Weltmeeren landet’ (178). Damit hat sich unsere Gesellschaft von jeder Zivilisiertheit verabschiedet, und von einem Gemeinwesen kann nicht gesprochen werden (180).

Das schrankenlose ,Eigentum’, das heute die obszönen Profite einer ganz kleinen Minderheit sichert und weltweit buchstäblich über Leichen geht ist im wahrsten Sinne extremistisch. Es ist extremistisch, ,Milliardenvermögen und die Kontrolle von systemrelevanten Institutionen in die Hand einzelner Privatpersonen zu legen’ (181). Die gegenwärtige Logik kann nur in die völlige Zerstörung alles Sozialen und Nachhaltigen führen:

Kein technischer Fortschritt wird jemals für die überfällige Korrektur der Normarbeitszeit eingesetzt werden, solange er nach den geltenden Regeln genauso gut zur weiteren Anhäufung von privatem Eigentum genutzt werden kann. Wenn wir dem Eigentumsrecht keine Grenze setzen, dann wird die Grenze der Nutzung der menschlichen Arbeitskraft dieselbe bleiben, die unsere Wirtschaftsordnung auch für die Nutzung jeder anderen Ressource vorsieht, nämlich die ihrer vollkommenen Erschöpfung. (182)

Die Ökonomisierung von Lebensbereichen, die nie ökonomisiert werden dürften (Bildung, Pflege, Grund und Boden, Wasser etc.) ist nichts weiter als eine Form von Imperialismus (194). Vorangetrieben hat diesen Wahnsinn die 1947 gegründete Mont-Pelerin-Society, die rund um den Ökonomen Hayek schon damals einen krassen ,Liberalismus’ vertrat (195), der sich gegen die Ideen einer sozialen Marktwirtschaft jedoch zunächst nicht durchsetzen konnte, bis er in seiner Radikalvariante als ,Chicagoer Schule’ schließlich den ab den 80er Jahren die Herrschaft übernehmenden Neoliberalismus prägte. Damals begann jener mörderische Kurs, dessen ,Früchte’ wir heute sehen.

Das völlig wirklichkeitsfremde Dogma dieser ,Ökonomen’ behauptet, selbst die gegenwärtigen Katastrophen seien mit ,neuen Fortschritten’ zu lösen – wofür diese ,Wissenschaftler’ regelmäßig auf die ,Naturwissenschaften’ verweisen, wo die rettenden Erkenntnisse und Technologien in stets naher Zukunft entwickelt werden würden – ungeachtet der Tatsache, dass:

[...] die angesprochenen Naturwissenschafter dieses Ansinnen von sich weisen, dass sie laufend die Respektierung der im Namen unserer Pseudoökonomie verletzten planetaren Grenzen einmahnen und die fabelhaften technischen Innovationen der Zukunft, die das Weiter-wie-bisher ermöglichen sollen, als allen Erkenntnissen der Wissenschaft widersprechende Ausgeburten einer blühenden Fantasie bezeichnen [...]. (196)

Die Rettung ist also erst möglich, wenn die Wissenschaft der Ökonomie zu ihrem Wesen zurückkehrt, sich von der gegenwärtigen Diktatur befreit und von Menschen betrieben wird, die die Aufgabe der Ökonomie wieder ernst nehmen:

Den Entwurf und die Durchsetzung eines Wirtschaftsmodells, das eine bedarfsdeckende Produktion und sinnvolle Verteilung bei schonendem Umgang mit allen Ressourcen, also ganz besonders auch mit der menschlichen Arbeit, gewährleisten würde [...]. (196)

Ein in seinem ganzen Stil grandioses Buch, das man gelesen haben muss, wenn man den Irrsinn durchschauen will, bis in seine Winkel – um sich mit jener Wahrhaftigkeit zu durchdringen, auf deren Boden allein das Neue, das Heilende und Rettende wachsen kann. Dafür muss das Kranke und Zerstörerische wirklich erkannt und demaskiert werden. Sven Hartberger ist dies auf eine ganz außergewöhnliche Weise gelungen, und man kann diesem Buch nur so viele Leserinnen und Leser wie möglich wünschen!