2012
04.06.2012

Gedanken zur LINKEN und zum Wesen des Menschen

Nach dem Parteitag der LINKEN: Der einzige Weg zu realer Brüderlichkeit.


Inhalt
Großartiges Programm und tiefe Zerstrittenheit
Ein Aspekt: Die Reinheit des Impulses erhalten
Wie innen, so außen – und umgekehrt
Der Mensch zwischen Egoismus und Brüderlichkeit
Die Idee des Menschen als erlebte Realität
Die reale Kraft einer spirituellen Weltanschauung

Großartiges Programm und tiefe Zerstrittenheit

Die LINKE hatte ihren Parteitag – und zwei neue Vorsitzende. Es sind zwei Menschen, die nicht das Charisma und die Begeisterung von Oskar Lafontaine oder Sahra Wagenknecht haben (von Bernd Riexinger wird wohl kaum einer zuvor überhaupt etwas gehört haben). Was dies für die Zukunft der Partei bedeuten wird, wird sich in den nächsten Monaten zeigen. Entscheidend aber wird eine noch ganz andere Frage sein.

Es geht um den unendlich traurigen, ungeheuer großen Widerspruch zwischen dem zukunftsweisenden Programm und den nur in eine sehr düstere Zukunft weisenden inneren Streitigkeiten. Dieser Widerspruch kam in den verschiedenen Redebeiträgen von Lafontaine, Gysi und anderen sehr deutlich zum Ausdruck.

Die absolute Offenheit, mit der die LINKE ihre innerparteilichen Debatten führt, kann man nur tief anerkennen. In welcher anderen Partei (außer bei den „Piraten“) würde so offen gestritten werden? Und dann die Redebeiträge unmittelbar auf der Webseite zugänglich sein? Noch in ihrem hoffnungslosen Streit ist die LINKE liebenswerter als eine auf Linie gebrachte Kaderpartei, in der niemand es wagt, gegen die Kanzlerin oder den Kanzlerkandidaten öffentlich den Mund aufzumachen, bzw. in der diese eine geradezu absolutistische Macht haben.

Abgesehen davon ist bei den anderen Parteien ja kaum noch erkennbar, wofür sie eigentlich stehen. Was unterscheidet die SPD eigentlich noch von der CDU? Was unterscheidet Bündnis90/Grüne von der SPD? Die FDP möchte ich gar nicht erst erwähnen.

Die LINKE dagegen hat wirklich ein Programm, ein echtes „Zivilisationsprojekt“. Während die anderen Parteien sich zum Handlanger und „Verwalter“ der neoliberalen postmodernen Verhältnisse machen, bietet die LINKE einen echten Gegenentwurf zur Katastrophe und stellt dem heutigen „neuen Feudalismus“ (von dem führende Sozialwissenschaftler sprechen!) gleichsam eine neue Aufklärung entgegen. Aber diese Tatsache erhält keine Öffentlichkeit, dringt durch den Block der gesättigten, sich selbst gleichschaltenden, zu jedem eigenständigen Urteil unwilligen Medien nicht mehr hindurch. Und die inneren Streitereien der Partei machen es vollends unmöglich, dass ihr politisches Programm irgendeine Aufmerksamkeit erhält...

Gregor Gysi musste über diesen Streit sagen:

Es gibt Meinungsunterschiede. All das wäre nicht erheblich. Mit alledem müssten wir umgehen können. Aber in unserer Fraktion im Bundestag herrscht auch Hass. Und Hass ist nicht zu leiten. Seit Jahren versuche ich, die unterschiedlichen Teile zusammen zu führen. Seit Jahren befinde ich mich zwischen zwei Lokomotiven, die aufeinander zufahren. Und ich weiß, dass man dabei zermalmt werden kann. Seit Jahren bin ich in der Situation, mich entweder bei der einen oder bei der anderen Gruppe unbeliebt zu machen, und ich bin es leid.


Dies ist das eigentlich Erschütternde. Offenbar gibt es gerade in linken, „emanzipatorischen“, idealistischen Bewegungen immer wieder Streit und Hass. Wohlgemerkt nicht engagierten „Streit“ im besten Sinne um die Sache, um inhaltliche Fragen – sondern auch um Macht, um Posten, um Einfluss, um Deutungshoheit.

Dies ist nicht nur bei der Partei DIE LINKE so, sondern zum Beispiel auch bei Attac. So schreibt etwa die Politologin, Autorin und Liedermacherin Kerstin Gundt über ihre Erfahrungen: 

Nach außen tritt Attac als einheitliche Bewegung auf, aber intern gibt es große Konflikte. Statt an einem Strang zu ziehen, weil ja alle dasselbe wollen, denkt jeder nur an seine eigene Position. Es gibt kein Gruppengefühl nach dem Motto ‚Wir kämpfen alle für die gleiche Sache’, sondern die Gruppenleiter und übergeordneten Mitarbeiter verhalten sich zutiefst unmenschlich und unsozial. Ihr Verhalten ist nicht besser als das der Konservativen, sie sind keine besseren Menschen, obwohl gerade sie die Welt verbessern wollen.

Ein Aspekt: Die Reinheit des Impulses erhalten

Für angeblich „realistischere“, in Wirklichkeit bloß pragmatischere, ja opportunistische Parteien ist dies kein Grund, sich besser zu fühlen: Wer eine angepasste Politik betreibt, die faktisch ganz anderen als den Interessen der Menschen dient, kann es sich leisten, innerparteilich auf Einheit und kollektiven Machtgewinn zu setzen, denn er hat sein Gewissen ja schon verkauft. Dies mag zu einseitig formuliert sein, aber mir geht es um die Tendenz.

Die Vertreter der – an die Sachzwänge und die „großen Vorgaben“ – angepassten Parteien sehen dies selbstverständlich ganz anders. Sehr viele mögen ganz ernsthaft hinter ihrer Politik stehen, aber die entscheidende Frage ist eben, ob man heute den Mut hat, ganz entscheidende „Vorgaben“ grundsätzlich in Frage zu stellen oder nicht. Daran entscheidet sich, ob man wirklich eine Politik für die Menschen macht oder nicht. Man kann im Kleinen scheinbar sehr viel „für die Menschen“ machen, wenn man aber die heute immer unmenschlicher werdenden Rahmenbedingungen nicht hinterfragt, macht man trotzdem eine Politik gegen die Menschen!

Ich will nicht alle Absurditäten unserer Zeit aufzählen, berufene Leute haben dies unzählige Male getan, und man kann es in meinem umfassenden Doppelband „Zeit der Entscheidung“ detailliert nachlesen. Die Frage ist: Wer schaut heute überhaupt noch mit offenen Augen auf die Wirklichkeit, auf die aller-hervorstechendsten Widersprüche und Absurditäten? Realitäten, die die herrschenden Politiker nicht nur zulassen, sondern durch ihre Politik täglich aktiv hervorbringen, fördern und verstärken? 

Aber kehren wir zurück zur LINKEN und den linken Bewegungen. Was hat es mit dem Streit, ja dem Hass, von dem Gysi spricht, auf sich?

Es ist ja zunächst wirklich ein Rätsel, denn wie Oskar Lafontaine in seiner Rede sagte:

[Harald Wolf] hat hier nach meiner Auffassung in der Debatte den wichtigsten Redebeitrag gehalten, indem er darauf hingewiesen hat, dass wir unser Programm mit 95 Prozent beschlossen haben. [...] Wenn aber diese Stimmen ernstgemeint waren, liebe Freundinnen und Freunde, dann ist doch die Basis für eine gemeinsame Partei unüberwindbar geschaffen, denn Parteien rotten sich nicht zusammen nach Freundschaften oder nach Vorlieben, sondern sie finden sich zusammen auf der Grundlage eines gemeinsamen politischen Programms. Ich bin stolz auf unser Grundsatzprogramm. Es ist die modernste Antwort auf den Abbau von Demokratie und Sozialstaat in Europa!


Es gibt also ein ausführliches Programm mit echter Substanz und fast ohne Ausnahme wurde es von den Delegierten so verabschiedet. Der Streit entzündet sich nicht an dem Programm.

Aber sehr wohl kann sich der Streit an der Frage entzünden, ob man auf dem einen oder anderen Wege dieses zukunftsweisende Programm vielleicht „verrät“. Die Frage nach der Regierungsbeteiligung, nach dem Dilemma, eine unmenschliche Politik teilweise mittragen zu müssen, stellt sich hier. Welche Strömung will in die Regierung? Welche Strömung will eine Politik ohne Kompromisse? Wenn sich diese Fragen stellen, dann öffnet sich die Kontroverse zwischen „Fundamentalisten“ und „Opportunisten“ – unter Umständen sogar lange bevor die Medien dies aufgreifen.

Diese Frage erfordert tatsächlich eine Antwort. Und dennoch ist es ganz und gar entscheidend, auf welche Weise sie eine Antwort findet. Ist man „fundamentalistisch“, wenn man für die Reinheit des Impulses kämpft? Ist man „opportunistisch“, wenn man lieber etwas erreichen will als gar nichts?

Zunächst muss man sagen: weder noch! Dann jedoch folgt ein großes „Aber“: Die „Reinheit des Impulses“ ist unendlich wichtig. Verliert man nämlich den Impuls, hat man sich selbst verloren. Das ist das Wesen des Opportunismus: Das Vergessen des ursprünglichen Impulses. Kompromisse zu machen im Dienste des Impulses, ist eine allerschwerste Herausforderung – sie ist nur zu bewältigen, wenn man an und unter diesen Kompromissen zutiefst leidet, denn nur dieses Leiden garantiert, dass man den Impuls nicht vergisst und die Kompromisse niemals als den Normalzustand anzusehen lernt.

Diejenigen Menschen, die für die „Reinheit des Impulses“ eintreten, wissen um diese Gefahr – und sie wissen, wie viele Strömungen und Vereinigungen an dieser Gefahr schon gescheitert sind. Hat man sich einmal „arrangiert“, ist die Wahrhaftigkeit eigentlich unmöglich wiederzugewinnen.

Die entscheidende Frage ist also: Mit welcher inneren Gesinnung geht man Kompromisse ein? Und wie ist es möglich, inmitten einer Welt, die fortwährend zu Kompromissen zwingt, den vollen eigentlichen Impuls innerlich in voller Stärke lebendig zu erhalten?

Wie innen, so außen – und umgekehrt

Und jetzt kommen wir zum Wesen des Widerspruches, an dem die LINKE leidet. Gysi sagte in seiner Rede wenige Augenblicke nach den zuerst zitierten Worten:

Unser größtes Ziel ist es, eine solidarische Gesellschaft zu erreichen und wir selber führen vor, nicht einmal untereinander solidarisch sein zu können. Ich habe noch einmal in der Bergpredigt nachgelesen [...], wie man mit seinen Feinden umgehen soll. Wenn wir wenigstens den Zustand in unserer Partei erreicht hätten, wären wir schon einen deutlichen Schritt weiter.


Darum geht es! Die Wahrhaftigkeit und das Wesen des inneren Impulses macht nicht halt vor dem einzelnen Menschen! Wenn man eine bessere, eine brüderliche Welt erstrebt, dann ist es etwas Unmögliches, diejenigen Menschen, die dasselbe Ziel haben, zu bekämpfen und wie Feinde zu behandeln – und es ist eigentlich schon unmöglich, den Feind als Feind zu behandeln... Feind ist dann nur derjenige, der mich bekämpft – ich selbst als Christ habe keine Feinde...

Man kann mit dem Impuls einer brüderlichen Gesellschaft, eines gelebten Christentums nicht ernst machen, wenn man die Brüderlichkeit in sich selbst nicht real macht. Das reine „Ideal“ einer „solidarischen Gesellschaft“ bleibt vollkommen abstrakt, wenn man seinen Nächsten bekämpft.

Wenn dies nicht als eine Realität erlebt wird, bleibt jedes linke, aufklärerische „Projekt“ völlig abstrakt und ist damit zum Scheitern verurteilt – weil dann dieselben Entwicklungen mit der Notwendigkeit eines Naturgesetzes immer und immer wieder eintreten werden.

Es ist außerordentlich tragisch, dass selbst jemand wie Oskar Lafontaine dies nicht erkennt und nicht ernst nimmt. In seiner Rede sagt er nämlich:

Liebe Freundinnen und Freunde, Solidarität ist tatsächlich nicht eine hohle Formel. Wobei man das auch nicht überhöhen soll. Denn es ist nun mal so: Auch in linken Parteien gab es und wird es immer wieder Eitelkeiten, Rangeleien, Missgunst und Neid geben. Wer ist denn so naiv, zu glauben, in linken Parteien versammelten sich die edelsten Menschen der Geschichte. [...] Jeder Mensch hat doch Gefühle. Jeder Mensch hat Gefühle, die er schlecht verarbeiten kann. Das wird immer so sein. Aber wir sind die Partei der organisierten Solidarität. Das ist der Sozialstaat, ohne den es keine Freiheit und keine Demokratie gibt.


Genau hier, exakt an dieser Stelle, liegt der Grund des immer wiederkehrenden Scheiterns linker Bewegungen! „Organisierte Solidarität“ ist ein Widerspruch in sich. Man könnte auch gleich „organisierte Liebe“ sagen!

Denn warum ist der Sozialstaat der Zerstörung zum Opfer gefallen? Aus keinem anderen Grund, als dass Eitelkeiten, Konkurrenz, Profitdenken und Egoismus den Ausschlag gegeben und zu unserem heutigen, nahezu nackten Kapitalismus geführt haben. Die sogenannten „Sachzwänge“ sind doch nur eine mühsame Verbrämung der Tatsache, dass das herrschende Programm „Umverteilung von unten nach oben“ heißt – selbst wenn es nur aus dem Grunde wäre (was nicht der Fall ist), dass der notwendige Mut fehlte, diese Umverteilung zu stoppen und aufzuhalten.

Man kann Solidarität nicht organisieren, wenn der Egoismus die Oberhand hat. Und er hat die Oberhand – nicht nur im Raubtierkapitalismus allgemein (wo „der Mensch dem Menschen ein Wolf“ ist, wie ein schon zweitausend Jahre altes Wort sagt), sondern auch inmitten der linken Bewegungen! Keine linke Bewegung kann der Impulsator eines brüderlichen Impulses sein, die nicht brüderlich in sich ist – wahrhaft brüderlich. Darum ist dieses Wort von Lafontaine eine Absage an jedes reale linke Projekt.

Der Mensch zwischen Egoismus und Brüderlichkeit

Man kann nicht in einem Atemzug sagen „liebe Freundinnen und Freunde“ und zugleich zugeben, „auch wir alle“ seien eitel, missgünstig und gegeneinander kämpfend. Das ist der vollkommene Widerspruch in sich! Wahrhafte Freunde sind nicht missgünstig gegeneinander und bekämpfen einander nicht. Entweder man kann sich in Wahrheit „liebe Freundinnen und Freunde“ nennen – oder es ist eine Phrase, eine Lüge.

Selbstverständlich kann es auch in echten Freundschaften Spuren von Neid geben – aber was geschieht dann? Es ist dann sofort ein ganz klares Bewusstsein da, dass diese Empfindungen falsch sind, weil sie niederer, unverwandelter Natur sind und die Freundschaft bedrohen. Echte Freundschaft ist eine Form von Liebe, und echte Liebe ruft das Beste im Menschen auf. Deswegen macht echte Liebe, wie schon Rudolf Steiner betonte, sehend und nicht blind. Dort, wo die Liebe wirksam ist, sehen wir das Beste im Anderen und in uns selbst – und wenn wir es sehen, können wir es auch pflegen, stärken und weiter entwickeln. Dies ist das Geheimnis der Selbsterziehung.

Die Worte von Lafontaine sind eine Absage an die Möglichkeit der Selbsterziehung. Wer sich damit zufrieden gibt, dass es „auch in linken Parteien immer wieder Eitelkeiten usw.“ gegeben hat und geben wird, der verneint im Grunde die Entwicklung überhaupt.

Die Menschen bleiben immer gleich egoistisch, aber die Gesellschaftsmodelle sind mal mehr, mal weniger solidarisch? Es geht um einen Kampf um die Solidarität in der Gesellschaft, während die Menschen immer gleich bleiben? Nein, sondern substantiell wird man zu einer solidarischen Gesellschaft nur kommen können, wenn zugleich auch die Brüderlichkeit in den Herzen der Menschen aufblüht.

Glauben wir doch nur nicht, dass die Frage der Menschenherzen eine statische wäre! Es ist offensichtlich, dass seit Jahrzehnten der Impuls des Egoismus auf dem Vormarsch ist – nicht nur gesellschaftlich, sondern auch in den Seelen der einzelnen Menschen! Und zwar allein schon deshalb, weil die gesellschaftlichen Strukturen auf den einzelnen Menschen und sein Denken, Fühlen und Wollen zurückwirken. Der Abbau des Sozialstaates lässt den Menschen egoistischer werden, die Ökonomisierung aller Lebensbereiche lässt den Menschen egoistischer werden, die Entwicklung hin zur Kleinstfamilie, ja zu kinderlosen Paaren usw. lässt den Menschen egoistischer werden.

Aber es gibt auch die umgekehrte Wirkensrichtung: Im Menschen selbst gibt es eine Tendenz zu einem immer stärkeren Egoismus – und diese Tendenz bringt die entsprechenden gesellschaftlichen Erscheinungen erst hervor! Ließen sich der Vormarsch des Neoliberalismus, der Zerfall der Familienstrukturen und unzählige andere, sehr diverse Phänomene erklären, wenn es nicht eine Entwicklung zum Egoismus und auch zum Individualismus gäbe?

Selbstverständlich ist die Entwicklung zum Individualismus eine absolut notwendige und positive Entwicklung, denn der Mensch soll ja ein vollkommen freies Individuum werden. Dennoch steht diese Entwicklung in einer sehr heiklen Beziehung zum Egoismus, hat immer auch die Tendenz zum Egoismus. Entscheidend ist nun, wie sehr sich daneben auch die andere Entwicklung ereignet: eine Entwicklung hin zum Sozialen. Denn diese Tendenz finden wir in den letzten Jahrzehnten eben auch: In dem Maße, in dem der Mensch den alten, tradierten, vorgegebenen sozialen Zusammenhängen entwächst, hat er die Möglichkeit zu einem ganz neuen, ganz freien Entwickeln sozialer Impulse.

Diese Entwicklung ist menschheitlich im Grunde sehr jung – sie findet sich da, wo wirklich die Idee des Menschen gefasst wird. Wenn diese Idee wirklich gefasst wird, dann kann sich daran die Liebe zum anderen Menschen entzünden – einfach um dessentwillen, dass auch er ein Mensch ist. Und hier liegt der Ur-Impuls der Brüderlichkeit.

Die Idee des Menschen als erlebte Realität

Es geht hier aber um ein Ablegen aller Abstraktion. Diese Idee des Menschen ist etwas absolut Reales. Es geht hier nicht um eine „Idee“ als Abstraktum, es geht auch nicht um eine Vorstellung, sondern es geht um die wahre Realität des Menschen. Wenn man hier nicht ein Erlebnis hat, das im Grunde rein übersinnlich ist, hat man keine Möglichkeit, die Abstraktion zu überwinden und wirklich zu verstehen, wovon hier eigentlich gesprochen wird. Die Gleichheit aller Menschen ist keine Theorie, sie ist auch kein „contract social“ oder ähnliches, sondern eine absolute Realität, die nicht ausgedacht, sondern nur erlebt werden kann. Zwar ist das Denken das Organ, das diese Realität wahrnimmt – aber diese ist dann nichts subjektiv Er-dachtes, sondern etwas objektiv Gedachtes, was nur deshalb gedacht werden kann, weil es eine Realität ist ... die sich dem Denken offenbart. Die Realität erscheint als Idee, weil sie sich im Denken offenbart.

Wenn wir in der Lage sind, dies als volle Wirklichkeit zu erleben, dann haben wir die Spaltung zwischen „Idee“ und „Wirklichkeit“ überwunden – und damit alle Abstraktion.

Dann aber gibt es keinen Stillstand mehr. Wenn wir die Idee des Menschen als Wirklichkeit erleben, erleben wir zugleich, dass es keine allgemeine Idee ist. Wir erleben einerseits die Gleichheit aller Menschen als Menschen – die reale Grundlage der Brüderlichkeit – und zugleich die Tatsache, dass diese Idee von jedem einzelnen Menschen individuell verwirklicht werden will. Man kann vielleicht sagen: Das „Schicksal“ der Idee des Menschen ist noch gar nicht erfüllt! Die Idee des Menschen erfüllt sich erst dann, wenn der einzelne Mensch wahrhaft individuell wird, sein wahres, einzigartiges Wesen voll entfalten kann.

Und wiederum sind wir bei der Selbsterziehung! Denn dort, wo der Mensch innerlich stehenbleibt, kommt er nur zu dem, was vor allem Vererbung und Umwelt aus ihm gemacht haben. Wirklich individuell kann der Mensch nur durch Selbsterziehung werden – dazu muss er seine eigene Entwicklung von innen heraus in die Hand nehmen. Erst wenn der Mensch innerlich an seiner Seele zu arbeiten beginnt, macht er sich bereit, immer mehr seine eigentlichsten, wahrsten Impulse in sein jetziges Leben hineinzutragen – voll bewusst. Und diese Impulse werden die wahrsten und edelsten Impulse sein, die überhaupt denkbar sind. Und sie werden zugleich so individuell sein, wie es nur möglich ist...

Erich Fromm schrieb einmal:

Die Geburt ist nicht ein augenblickliches Ereignis, sondern ein dauernder Vorgang.
Das Ziel des Lebens ist es, ganz geboren zu werden,
und seine Tragödie, dass die meisten von uns sterben, bevor sie ganz geboren sind.


Und Christian Morgenstern, nicht nur ein begnadeter Dichter, sondern auch ein enger Schüler Rudolf Steiners:

Ich meine, es müsste einmal ein sehr großer Schmerz über die Menschen kommen,
wenn sie erkennen, dass sie sich nicht geliebt haben, wie sie sich hätten lieben können.


In aufklärerischen, emanzipatorischen, humanistischen und linken Bewegungen haben sich immer wieder die edelsten Menschen der Geschichte versammelt! Aber eben nicht nur diese – sondern auch unzählige Menschen, die ihre innere Entwicklung nicht in die Hand genommen haben, sondern Impulse auslebten, die aus ihrer unverwandelten Natur aufstiegen und in keinster Weise ihrem höheren Wesen entsprangen.

Wenn wir noch einmal auf Lafontaines Worte schauen, stellt sich in aller Deutlichkeit und Dramatik die Frage: Wie soll eine Bewegung für Brüderlichkeit wirken, wenn die Natur des Menschen unwandelbar als auch eitel, missgünstig und neidisch gedacht wird? Wenn dies so wäre, dann wäre jeder Appell an Eintracht und Geschlossenheit vergeblich, weil all die spaltenden, egoistischen, selbstbezogenen Tendenzen früher oder später doch wiederum hervorbrechen und die Oberhand gewinnen würden.

Die entscheidende Frage ist also einzig und allein die der Selbsterziehung. Wenn sich in einer linken Bewegung nicht eine genügend große Anzahl von Menschen einer wirklichen, realen Selbsterziehung verschreibt – aus keinem anderen Grund als eben diesem: um die edelsten Impulse der Menschheit und des wahren Menschentums in sich zu entwickeln und zu stärken –, dann ist jede linke Bewegung ein Widerspruch in sich, eine (Selbst-)Lüge, eine Illusion.

Die Idee der Solidarität, der Impuls der Solidarität – sie haben keine andere Quelle als das höhere Wesen des Menschen. Aber es reicht nicht, bei der Abstraktheit der Idee, des Impulses stehenzubleiben. Man muss mit dieser Idee, mit diesem Impuls und mit dieser Quelle gänzlich ernst machen. Dann aber kommt man nicht zu einer „organisierten Solidarität“, sondern zu einer gelebten Menschlichkeit. Und dann werden Streit und Kampf, die auf Neid, Geltungssucht und Hass beruhen, wirklich eine Unmöglichkeit...

Und wenn der letzte Satz von Oskar Lafontaine lautet:

Bitte kämpft um diese gemeinsame LINKE und macht sie wieder stark!

dann liegt in dieser Bitte im Grunde die Wahrheit verborgen: Der Kampf gegeneinander muss zu einem Kampf um innere Einheit werden. Dies ist aber ein Kampf um die Realität der Brüderlichkeit, ein Ringen um wirklich gelebtes Verständnis des anderen Menschen – und damit ein Kampf um die eigene Selbsterziehung.

Die reale Kraft einer spirituellen Weltanschauung

Die Frage ist nur: Wie weit kommt man mit dieser Selbsterziehung, wenn man keine klare Weltanschauung, kein geistiges Menschenbild hat? Wird man nicht, wenn man nur mit vagen Gedanken darüber lebt, doch immer wieder der Abstraktion verfallen und, sobald der andere Mensch sich egoistisch und feindlich verhält, auch selbst wiederum feindseligen Impulsen erliegen – und so viel eher als gedacht zum alten Gegeneinander zurückkehren?

Um zu einer wirklichen, dauerhaften, auch gegen Anfeindungen gefeiten Brüderlichkeit zu kommen, ist es notwendig, die Idee des Menschen so stark zu erleben, dass ich aus dieser Idee einen so starken moralischen Impuls schöpfen kann –, dass die Idee auch dann für mich eine Realität bleibt, wenn die äußeren Geschehnisse von dieser Idee nichts zu offenbaren scheinen. Das ist ein Aspekt des „Liebet eure Feinde“! Obwohl der andere mich als Feind sieht, sehe ich ihn nicht als Feind...

Für Christian Morgenstern war das höhere, sich entwickelnde, ewige Wesen des Menschen eine vollkommen sichere Realität. Und so konnte er mit Blick auf die Idee (bzw. Tatsache) der Reinkarnation schreiben:

Wer den Einzelnen als einen Wanderer betrachtet, der immer wiederkehrt, wird aufhören, ihm entgegenzuarbeiten. Er sieht sich Schulter an Schulter mit ihm gehn und erkennt die Sinnlosigkeit jeglicher Feindschaft zwischen ihm und sich. Mag der Andre noch sein Feind sein wollen, er selber empfindet ihn nicht mehr als Feind; für ihn fällt er, wenn er sich und ihn sub specie aeterni anschaut, mit ihm selber beinahe zusammen. Mag der Andre ihn noch hassen, ja verachten, er selber wird nichts begehren, als ihm zu helfen, zu nützen, zu dienen. Er weiß, wie alles zusammenhängt. Nicht fabelt er unbestimmt von Zusammenhang, sondern der Zusammenhang liegt klar vor ihm.


Hier liegt dann aber auch der Zusammenhang zwischen einer spirituellen Weltanschauung und den konkreten irdischen Verhältnissen klar vor einem! Wenn jemand wirklich ein unerschütterliches Empfinden in Bezug auf die Tatsache des ewigen Menschenwesens hat, dann hat er zugleich die unerschütterlichste Grundlage für eine nie nachlassende Selbsterziehung, für ein tiefes Verständnis des Anderen selbst in seinen Schwächen und für ein brüderliches Miteinander selbst bei Uneinigkeit in inhaltlichen Fragen.

Die Tragik der linken Bewegungen besteht auch darin, dass ihre Menschen so selten eine klare, in diesem Sinne wahrhaft spirituelle Weltanschauung haben. Dies ist jedoch nur ein Teil der noch größeren Tragik unseres ganzen Zeitalters – dass nämlich aufgrund des historischen Gegensatzes zwischen Aufklärung und Kirche bis heute ein Abgrund zwischen Glauben und Wissen klafft. Aufgeklärte Geister müssen die Spiritualität ablehnen, solange sie Spiritualität mit dem gleichsetzen, was die traditionellen „Verwalter“ der Spiritualität, die Kirchen, daraus gemacht haben.

Dass aber Glaube und höheres Wissen keinen Widerspruch bilden, dass man gerade durch ein klares Denken zu einem höheren, spirituellen Wissen kommen kann, das ist leider aufgrund all dieser Hindernisse noch immer das größte Geheimnis unseres Zeitalters – obwohl Rudolf Steiner alles getan hat, um dieses Geheimnis offenbar zu machen. Es gibt eine spirituelle Wissenschaft, die mit ebensolcher Sicherheit und Wissenschaftlichkeit vorgeht wie die äußere Wissenschaft (und gemeint ist hier der Bereich, bevor die Spekulationen und Theorien beginnen!).

Mit einer solchen unerschütterlichen Sicherheit und inneren Wissenschaftlichkeit kann man zu der Erkenntnis der wiederholten Erdenleben und zu noch ganz anderen Erkenntnissen über das höhere Wesen des Menschen kommen. Die entscheidende Frage ist dann, wie weit dieses höhere Wesen hier in der „irdischen Wirklichkeit“ verwirklicht werden kann – oder wie weit es von den zunächst gegebenen, unverwandelten Impulsen und „Sachzwängen“ bleibend unterdrückt wird und ... ungeboren bleibt.

Kann dieses höhere, wahre Wesen des Menschen aber überhaupt geboren werden, wenn der Mensch gar nicht darum weiß? Die höhere Erkenntnis, das höhere Wissen muss doch zumindest so klar und so stark werden, dass zumindest eine deutliche Ahnung davon da ist, dass in dem gewöhnlichen Menschen, der man zunächst geworden ist, noch ein „anderer Mensch“ schlummert, der wirklich die edelsten Impulse in sich trägt, die in der Menschheitsgeschichte überhaupt in Erscheinung getreten sind. Wenn man diese Erfahrung noch nicht gemacht hat, dann hat man noch nicht einmal die leiseste Ahnung von seinem eigenen höheren Wesen – und dennoch ist es eine Realität, ungeboren...

Oskar Lafontaine hat mit seinem Wort vom neidischen, eitlen Menschen die „natürliche Wirklichkeit“ beschrieben. Diese Wirklichkeit ist der Normalzustand, insofern hat er nichts anderes als die Wahrheit ausgesprochen. Die Frage ist nur: Soll es bis in alle Ewigkeit so bleiben? Oder gibt es Menschen (immer mehr), die daran etwas ändern wollen – bei sich selbst –, weil sie eine Weltanschauung haben, die ihnen die Kraft dazu gibt, gegen alle Hindernisse und gegen alle Überfälle des Alltages...? Auf diese Menschen wird es ankommen.

Wenn es diese Menschen nicht gibt, wird Lafontaine recht behalten – dann aber ist der Kampf um die LINKE und um eine brüderliche oder auch nur solidarische Gesellschaft verloren.