Rückkehr ins Leben

Holger Niederhausen: Rückkehr ins Leben. Roman. Books on Demand, 2015. Paperback, 212 Seiten, 9,90 Euro. ISBN 978-3-7386-4894-2.


Erschienen am 28. September 2015.              > Bestellen: BoD | Amazon <              > Reaktionen und Rezensionen <

Inhalt


Der 16-jährige Michael verbringt jede freie Minute mit Computerspielen. Dann muss er notgedrungen die ultimative Forderung seiner Mutter befolgen, zwei Wochen lang täglich zu einem alten Holzschnitzer zu gehen, der mit ihm reden soll.

Die Konflikte sind vorprogrammiert und bleiben nicht aus, und doch geschieht in dieser Begegnung viel mehr, als er je erwartet hätte. Und dann ist da plötzlich auch noch ein Mädchen, vor dem er sich eigentlich nur blamieren kann...



Leseprobe 1


„Hi, Mam’“, sagte er so harmlos wie möglich.

„Hallo, Michael“, sagte sie. Und nach einer kurzen Pause:
„Wie war dein Tag?“
„Gut – wir haben jetzt doch einen Englisch-Aufsatz aufbekommen...“
„Aha.“
„Ja, dann werde ich mich wohl mal an die Arbeit machen.“
„Michael, wir müssen erst einmal reden.“
Er spürte, wie er innerlich aufstöhnte. Er atmete einmal tief ein.
„Was ist denn?“, fragte er gedehnt.
„Das weißt du so gut wie ich“, antwortete sie. „Setz dich.“
Sie wies auf die Coach.
Er stöhnte hörbar und ließ sich auf die Coach fallen. Sie setzte sich ihm gegenüber an das andere Ende.
„Michael“, sagte sie ruhig und schaute ihn an.
Er versuchte, möglichst gelangweilt und relativ genervt zurückzuschauen.
„Michael“, wiederholte sie noch einmal. „Du kommst im Herbst in die elfte Klasse. Du bist vor sechs Wochen sechzehn geworden. Dass du die Prüfungen in diesem Jahr halbwegs geschafft hast, bedeutet nicht, dass die nächsten drei Jahre genauso einfach werden. Wenn du dich nicht anstrengst, wirst du das Abitur nicht schaffen!“
Er stöhnte wieder.

„Abitur! Alles dreht sich ums Abitur! Das werde ich schon schaffen. Und wenn nicht – mein Gott, dann mach ich was anderes...!“
„Aber was, Michael – was!? Das Abitur kann dir nur egal sein, wenn du wüsstest, was du ohne Abitur machen willst. Aber du weißt ja nicht mal den Unterschied! Du weißt ja nicht mal, was man mit Abitur und ohne machen kann. Du weißt ja nicht mal, was du machen willst!“
„Ich hab ja auch noch über drei Jahre Zeit!“
„Ja – aber du hast keine Zeit mehr, um darüber nachzudenken, ob du dich anstrengen willst! Wenn du die Schule jetzt nicht ernst nimmst, ist dein Abitur gefährdet – ja, mehr als das. Und wenn du ohne Abitur dastehst und dich umschaust und merkst, dass du etwas machen willst, wofür man das Abitur gebraucht hätte...“
„Dann kann ich es ja nochmal nachmachen.“
„Wie stellst du dir das vor!“
Seine Mutter rief es fast.
„Wie stellst du dir das vor! Jetzt gehst du zur Schule – jetzt musst du dich anstrengen. Glaubst du, es wird leichter, wenn man es erstmal versaut hat und alles den Bach runtergeht? Nein, glaub mir, es wird immer schwerer. Du musst dich schon entscheiden, anders geht es nicht.“
„Aber ich habe keine so schlechten Noten. Zweien und Dreien – warum machst du dir solche Sorgen!?“
„Das versuche ich dir die ganze Zeit zu erklären!“
Er spürte, wie er wieder allergisch auf ihre Verzweiflung reagierte, die er so wenig verstand.
„Die Dreien sind im letzten Zeugnis deutlich mehr geworden, ich habe kaum noch Zweien gesehen. Warum ich mir Sorgen mache!? Weil es zum Abitur hin nicht ein wenig, sondern deutlich schwerer werden wird. Man muss sich anstrengen, Michael, anstrengen, wenn man Abitur haben will! Denkst du, das wird einem geschenkt? Denkst du, es wird einem hinterhergeworfen? Aber nein, dich interessiert das ja nicht. Für dich ist ja diese Spielerei alles. Michael, das geht nicht!“
„Ich hab einfach keine Lust auf diese Scheißschule!“

Es war ihm einfach so rausgerutscht – aber er hatte auch keine Lust, hinter dem Berg zu halten. Dieses ganze Gerede der Erwachsenen über Schule, Abitur, Studium und so weiter kotzte ihn einfach nur an. Er wusste, dass er seine Mutter damit enttäuschte, aber er hatte auch keine Lust mehr, dauernd auf sie Rücksicht zu nehmen. Ständig verlangten sie, dass man ihre Sichtweise übernahm, aber sie selbst kümmerten sich überhaupt nicht um das, was man selbst dachte. Sollten die Erwachsenen mit ihrer ganzen Schule und ihrer ganzen Welt doch zum Teufel gehen. Ja, das dachte er manchmal wirklich.
Er wusste, dass er seine Mutter mit seinen Worten schockiert hatte. Aber es war die Wahrheit. Die Schule wurde für ihn immer unwesentlicher. Er war inzwischen auch alt genug, um zu merken, dass die meisten Lehrer irgendwo doch nur ihren Stoff durchzogen, jedes Jahr wieder – es war eigentlich egal, wer zur Schule kam, die Schüler kamen und gingen, die Lehrer unterrichteten jeden Tag das Gleiche. Und irgendwo merkte man sehr deutlich, dass man ihnen eh egal war. Nicht ganz, aber im wesentlichen doch. Man hatte zu lernen, und wer nicht lernte, der war den Lehrern sowas von scheißegal – und den ließen sie sicher sogar mit Vergnügen durchs Abitur fliegen. Er hatte auf diesen ganzen Zirkus einfach keine Lust.

„Michael...“
Er hörte, wie seine Mutter sich offenbar gesammelt hatte.
„Ich weiß ja, dass du es nicht gerade einfach hast, mit einer alleinerziehenden Mutter, so ganz ohne Va–“
„Ach, hör doch auf!“, stieß er wütend hervor und sprang auf. „So ein Blödsinn! Als ob es darum ginge! Ist mir doch egal, ob ich ohne Vater lebe. Denkst du, ich kann mich nach fünf Jahren überhaupt noch an ihn erinnern? Als ob das eine Rolle spielt! Lass mich doch einfach in Ruhe mit allem!“

Er ließ sie stehen, ging die Treppe nach oben, schloss seine Tür und warf den Computer an.
Stefan meldete sich im Chat zuerst.
„Was ist los? Es ist erst 14.58 – ich dachte du bist erst ab 18 Uhr on?“
Er tippte:
„Frag nicht, lass uns spielen.“
Zuerst spielte er unkonzentriert und mit schlechtem Gewissen. Dann legte er das letztere ab und ging völlig im Spiel auf.

Gegen 23 Uhr verabschiedete er sich mit dem Hinweis auf den noch zu schreibenden Aufsatz.
Verstohlen schlich er sich leise in die Küche, holte sich etwas zum Essen aus dem Kühlschrank und warf die drei Chipstüten in den Müll, die er in den letzten Stunden geleert hatte.
Wieder auf seinem Bett liegend, kämpfte er zuerst damit, die Ereignisse der letzten acht Stunden aus dem Kopf zu bekommen, und dann damit, etwas englische Gedanken hineinzubekommen.

...

Leseprobe 2


Er konnte verstehen, was der Alte sagen wollte, und der bedächtige Ernst, mit dem er dies sagte,
machte unbezweifelbar, dass er dies alles auch genau so meinte. Und doch konnte er, Michael, damit natürlich kaum etwas anfangen. Es war eine seltsame Atmosphäre entstanden. Dass an den Worten des Alten etwas dran war, daran gab es keinen Zweifel, dennoch war das ganze Gerede von Seele und so weiter irgendwie – altbacken, übertrieben...
„Ich kann natürlich nicht erwarten, dass du das wirklich verstehst. Ich sagte ja, selbst die meisten Erwachsenen ahnen nicht einmal, wie real dies alles ist – oder sein könnte. Und der Sinn dafür, der Wahrnehmungssinn, ist kein äußerer, es ist ein innerer, denn es ist die Seele selbst. Und diese muss sich ja überhaupt erst dahin entwickeln...“
Ihm lagen einige Fragen auf der Zunge. Er wollte, halb belustigt, fragen, ob der Alte tatsächlich so etwas wie seine Seele sah – ob er sie einmal beschreiben könnte und so weiter. Aber er beschloss, das Ganze einfach auf sich beruhen zu lassen, um nicht in eine Art missionarische Belehrung über all solche Seltsamkeiten hineinzugeraten.
Probeweise versuchte er es mit einem gehorsamen und zugleich ganz leise ironischen:
„Aha.“
Lektion brav gelernt, aber bitte nicht mehr davon.

Prüfend sah ihn der Alte an.
Michael machte seine Miene noch ein wenig treuherziger.
Die Wärme im Gesicht des Alten erlosch ein wenig.
„Nein, ich kann nicht erwarten, dass du das wirklich verstehst. Aber eines habe ich erwartet und hoffe ich noch immer – eigentlich überhaupt immer, nicht nur bei dir. Nämlich, dass man sich gegenseitig ernst nimmt ... und dass man wahrhaftig ist. Was auch immer in dir vorgeht, sag es gerade heraus. Das Schlimmste ist, Dinge für sich zu behalten, wie: ‚Lass den Alten doch reden.’ Oder: ‚Verstehe ich sowieso nicht, aber das interessiert ihn ja auch gar nicht.’ Oder anderes in dieser Art. Ich kann nicht genau sehen, was gerade in dir vorging, aber irgendetwas in dieser Richtung war es.
Ich weiß, dass ich oft vieles versuche, zum Ausdruck zu bringen, wenn ich erst einmal das Vertrauen habe, dass man sich wirklich gegenseitig zuhört. Leider habe ich dieses Vertrauen öfter, als es dann wirklich gerechtfertigt ist... Nur brauchst du nicht zu denken, ich sei ein redseliger Alter. Im Gegenteil – ich bin eigentlich sehr schweigsam. Das hast du ganz am Anfang hier am Tisch ja gesehen. Ich bin eher ‚seh-selig’ – selig aufgehend im Anschauen... Wenn ich dann zu sprechen beginne, dann nur, weil ich die Worte des anderen Menschen durch und durch ernst nehme.
Du hast vorhin gefragt: ‚Was soll das nun?’ Und dann noch: ‚Können wir endlich etwas anderes machen?’ Und ich habe daraufhin nicht einfach irgendetwas gesagt, sondern habe deine Frage so ernst wie nur möglich genommen. Ganz und gar habe ich versucht, auszudrücken, ‚was das soll’ und was die Bedeutung dieses Anschauens war und ist. Ich habe nicht erwartet und nicht einmal damit gerechnet, dass du das alles dann auch nur zur Hälfte verstehen würdest – aber ich habe erwartet, dass dich etwas davon berühren würde, weil du es verstehst, denn jeder Mensch versteht dies, es ist ja seine eigene Realität, die menschliche Wirklichkeit...“
Der Alte nahm noch einen Schluck seines Tees. Dann sagte er, wiederum mit der Wärme von vorher in seinem Gesicht:
„Also, Michael: Was du auch denkst oder nicht denkst, fühlst oder auch nicht fühlst: Raus damit! Ehrlich heraus damit! Glaub nicht, ich könnte das nicht vertragen – oder würde es nicht verstehen. Ich kann sehr wohl verstehen, dass man in einem vollen Gegensatz steht ... wenn es denn so ist. Und ertragen kann ich das auch sehr gut. Ich habe keine Angst vor Gegensätzen – und ich liebe über alles die Offenheit, die Ehrlichkeit, die Wahrhaftigkeit. Ich muss mich vor niemandem verstecken, und du musst es auch nicht, vor mir am allerwenigsten.“

Er war von diesen Worten tief beeindruckt. Ein Gefühl der Anerkennung gegenüber diesem alten Holzschnitzer stieg in ihm auf. Aber doch war noch die Frage, ob er einen Beweis seiner eben ausgesprochenen Worte erbringen würde; ob sie in der Wirklichkeit bestehen könnten.
Er entspannte sich, lehnte sich noch ein wenig mehr zurück und sagte herausfordernd:
„Gut – also dann sage ich eben ganz offen und ehrlich: Ich weiß nicht, was ich hier soll!“

...