Sonnenmädchen - weitere Leseproben

Holger Niederhausen: Sonnenmädchen. Books on Demand, 2016. Paperback, 612 Seiten, 19,90 Euro. ISBN 978-3-8370-9487-9.


Erschienen am 23. März 2016.              > Bestellen: BoD | Amazon <              > Reaktionen und Rezensionen < [noch keine]

Übersicht der Leseproben


● Wie liebt man ein Mädchen?
●  Wer ist schuld?
● Die Liebe kennt nur eine Sprache
● Die Farbe der Unschuld und die „Emanzipation“
● Das Sonnenmädchen und der Moderator

Wie liebt man ein Mädchen?


Er hatte auf einmal keine Lust, weitere Einzelheiten zu erzählen. Sein Freund behandelte es nicht heilig genug.
„Und was wirst du ihr schenken?“
„Ich weiß es nicht. Ich habe nichts, was ich ihr schenken könnte.“
„Du musst ihr doch was schenken!“
„Was denn?“
„Ich weiß nicht. Irgendwas. – Vielleicht selbstgestrickte warme Socken...“
„Du bist ein Idiot! Ich habe dich eben um etwas gebeten...“
„Sorry, das musste ich einfach sagen... Fiel mir gerade so ein.“
„Du sollst vollkommen ernst sein, was sie angeht. Sonst erzähle ich dir nicht mehr das Geringste!“
„Okay, ist schon gut.“
„Nein, es ist nicht gut. Auch dafür muss man ein Gefühl haben. Du musst einfach fühlen, was sie wirklich für ein Mädchen ist. Dann kann man gar nicht mehr einfach so drauflos reden. So eine Ironie passt dann einfach überhaupt nicht mehr. Sie gehört überhaupt nicht hierhin.“
„Ja, ich hab’s verstanden.“
„Man macht auch über die Klimakatastrophe und die Kriege keine Witze. Alles, was mit ihr zu tun hat, ist genauso. Du musst einfach begreifen, wer sie ist, Alex!“
„Darf ich dich nicht manchmal ein bisschen damit aufziehen? Ich finde sie doch auch toll...“
„Nein. Sie ist nicht ... ,toll’. Sie ist... Alex, man muss manches ganz und gar ernst nehmen. Ich verstehe einfach nicht, warum man das bei ihr nicht sofort fühlt! Sie ist ... Alex, wenn ich keine Angst vor deiner Ironie haben müsste, würde ich sagen, sie ist heilig. Ich sage es jetzt einfach trotzdem. Sie ist es einfach. Und wenn man nicht ernst ist, stimmt es einfach nicht. Dann bemerkt man es nicht einmal! Aber du musst einfach ganz ernst fühlen, wie sie eigentlich ist. Dann vergeht dir die Ironie – weil du auf einmal fühlst, was du wirklich fühlst.
Begreif es doch nur! Keine Ironie mehr, Alex!“

„Okay, Valentin. Ich versuch’s. Ich verstehe, was du sagen willst. Irgendwie habe ich es damit nicht so leicht wie du. Ich muss sagen, ich bewundere dich da sogar ein bisschen. Wie du das machst...“
„Bewunderst du sie denn gar nicht?“
„Doch, auch. Das ist ja leicht...“
„Aber ich meine, wirklich. Tief... Kannst du sie nicht tief bewundern?“
Alex sah ihn nachdenklich an.
„Ich weiß nicht... Vielleicht weiß ich nicht so genau, wie man das macht... Das ist es ja gerade, was ich an dir bewundere. Dass du das anscheinend einfach so kannst...“
Es klingelte, die Pause war zu Ende.
„Kannst du es mir in der nächsten Pause erklären – wie du das machst?“
Er sah seinen Freund überrascht an.
„Das kann man nicht noch weiter erklären!“
„Wir werden sehen. Versuch es trotzdem.“ Alex grinste. „Ich hab dir schließlich auch schon so oft versucht, was zu erklären. Jetzt bist du mal dran.“
„Ich werde es versuchen – auch wenn ich nicht weiß, wie...“

In der nächsten großen Pause gingen sie erneut im etwas weniger bevölkerten Teil des Schulgeländes herum, die Hände wegen der Kälte in den Taschen, und er überlegte, wie er anfangen sollte.
„Wie ist es denn bei dir?“, fragte er schließlich.
„Bei mir? Was jetzt?“, erwiderte Alex.
„Na ja – du sagst, du kannst sie nicht tief bewundern. Aber du hattest dich doch auch irgendwie in sie verliebt. Wie ist das dann bei dir? Was fühlst du dann ... gegenüber so einem Mädchen?“
„Keine Ahnung...“, antwortete sein Freund. „Was man dann eben so fühlt. Man findet sie schön, toll, sehr schön eben. Man würde gerne ... na ja, du weißt schon, alles eben.“
„Was zum Beispiel?“
„Ey, Mann, gehen wir jetzt in die Einzelheiten, oder was? Also gut, nehmen wir ein unverfängliches Beispiel. Man würde sie zum Beispiel gerne küssen.“
„Ach so...“
„Du etwa nicht? Erzähl mir jetzt nicht, dass du daran nicht gedacht hast. Und eben noch an ganz anderes.“
„Doch – vielleicht... Aber...“
„Was aber?“

Er dachte nach. Dann fragte er Alex:
„Aber was fühlst du dann? Ich meinte nicht, was du dann möchtest, sondern was du dann fühlst.“
„Ist das nicht das Gleiche? Ich fühle, dass ich sie küssen möchte. Was willst du denn hören?“
Er war ratlos. Er wusste nicht, wie er es sagen sollte.
„Du hast“, sagte er schließlich, „mich doch gefragt, wie ich das mache. Sie tief zu bewundern... Wie ist das denn bei dir, wenn ... du sie küssen möchtest. Was fühlst du dann? Warum möchtest du sie küssen?“
„Na, weil sie eben so schön ist.“
„Und was fühlst du dann?“
Sein Freund sah ihn ebenso ratlos an.
„Das habe ich doch eben schon gesagt. Ich fühle, dass ich sie küssen möchte. Ich fühle mich von ihr angezogen. Ich fühle, dass sie schön ist. Was willst du denn hören, Valentin? Ich verstehe die Frage einfach nicht.“
Schließlich fragte er:
„Hast du denn ... gar keine Angst vor ihr?“
„Angst? Wieso Angst?“
„Wie stellst du dir es denn vor, sie zu küssen? Oder – stellst du dir überhaupt vor, ihr zu begegnen? Konkret?“
„Weiß nicht. Ja – als Vorstellung eben.“
„Und wenn du ihr wirklich begegnen würdest?“
„Keine Ahnung. Ich würde wahrscheinlich nicht wissen, was ich sagen soll.“
„Und warum nicht?“
„Weil ich es einfach nicht wissen würde.“
„Wieso nicht – du weißt doch sonst immer, was du sagen sollst.“
„Na ja, sie ist eben eine andere Nummer.“
„Nummer?“
„Mann, Valentin, du begreifst doch sehr gut, was ich meine, oder nicht?“
„Ja, aber du sollst es beschreiben.“

Alex sah ihn an, wie wenn er eine unangenehme und unnötige Aufgabe zu tun hätte. Dann sagte er schließlich:
„Man weiß einfach nicht, was man sagen soll, weil es ... sie vielleicht gar nicht interessieren würde.“
„Und davor hat man doch Angst oder nicht?“
„Ja ... wahrscheinlich.“
„Weil man sozusagen nur eine Chance hätte.“
„Ja, im Grunde schon.“
Er dachte nach. Wie kam er nun zu dem, worauf er hinauswollte? Schließlich fragte er:
„Und warum hast du davor Angst? Wenn sie sich nicht für das interessiert, was du sagst, ist es eben so – dann ist die Chance vorbei und fertig... Warum hast du davor Angst?“
„Na, das möchte man doch nicht.“
„Was?“
„Dass es sie nicht interessiert.“
„Man möchte vieles nicht... Aber man hat auch keine Angst, wenn es eben doch passiert.“
„Man möchte es eben unbedingt.“
„Aha!“
„Was ‚aha’?“
„Man möchte es unbedingt. Was möchte man unbedingt – und warum?“
Sein Freund grinste.
„Man möchte unbedingt, dass sie sich doch für das interessiert, was man sagt – weil man sie dann vielleicht küssen kann...“

„Alex!“, sagte er scharf. „Ist es dir nun wichtig oder nicht? Ich meine, dass wir darüber reden? Ich sollte dir was erklären! Wenn du nicht ernst bleiben kannst, höre ich eben einfach auf!“
„Tschuldige...“
„Nein, nicht ,tschuldige’. Ich verlange echt den vollen Ernst! Und zwar jetzt sofort – bei deiner nochmaligen Antwort. Warum möchte man es unbedingt? Was möchte man unbedingt – und warum?“
Er sah Alex ernst an ... und sah, dass dieser sich bemühte, in vollem Ernst zu antworten.
„Also...“, erwiderte sein Freund langsam, „man möchte eigentlich unbedingt, dass sie ... sich für einen interessiert. Und man möchte es, weil man sich für sie sehr interessiert...“
Er hörte die Worte seines Freundes, war von dem Wandel seiner Stimmung wirklich beeindruckt und fragte schließlich:
„Und in diesem ,sehr’, Alex – was liegt alles in diesem ,sehr’? Überlege dir die Antwort sehr genau. Was liegt darin?“
Alex sah ihn an und dachte nach – oder ließ sich mit der Antwort Zeit, als hätte er Angst, sofort zu antworten.
„Darin liegt...“, sagte er schließlich zögernd, „das Verliebtsein.“
„Und ... ist das nur so was Kurzes? Oder ist das mehr? Wie ist das?“
„Na ja, jetzt wird’s ja schon ganz schön privat...“, erwiderte Alex.
„Hör auf!“, sagte er, „es ist immer privat. Bleib einfach ernst! Antworte mir!“
Alex sah ihn an.
„Wenn man eine Chance hätte, wäre es natürlich mehr...“
„Sonst nicht?“
„Sonst...? Na ja, sonst! Sonst ist es ja sinnlos...“
„Was heißt sinnlos?“
„Sinnlos heißt sinnlos. Man träumt halt, aber es ist sinnlos. Wir haben ja schon darüber geredet.“
„Verliebtsein ist also sinnlos?“, fragte er betont.
„Ja – wenn es keine Chance hat.“
„Und warum hast du dann überhaupt Angst? Das ist doch auch sinnlos!“
„Nein – man weiß da ja noch nicht, ob man eine Chance hat oder nicht.“

Er dachte nach. Schließlich sagte er:
„Alex, du nimmst das Ganze einfach nicht ernst genug!“
„Doch, das tue ich!“, beteuerte sein Freund schnell.
„Nein, ich meine nicht unsere Unterhaltung, ich meine deine Liebe!“
„Welche Liebe?“
„Genau! Welche Liebe? Deine Liebe! Bist du nun verliebt oder nicht? Du bist es anscheinend immer nur auf Probe! Nie wirklich. Du hast zwar Angst – aber nicht mal das, weil du ja die reale Möglichkeit gar nicht real ins Auge fasst. Im Grunde hast du keine Angst, weil du zwar ein wenig verliebt bist, aber im nächsten Moment schon nicht mehr, weil es ja eh nur Vorstellung ist, also erübrigt sich auch das Verliebtsein – nach deiner Logik. Verstehst du, was ich sagen will? Ich will sagen, dass du gar nicht weißt, ob du sie liebst oder nicht. Du hörst praktisch schon auf, bevor dir klar wird, dass du sie liebst! Du treibst deinen komischen Realismus auf die Spitze – und was passiert dadurch? Deine Liebe kann überhaupt nicht real werden, obwohl sie es eigentlich ist.
Soll ich dir einmal was sagen? Es ist überhaupt nicht unrealistisch, sie kennenzulernen! Es ist nur deine Einbildung! Und du bildest dir ein, dass es Einbildung wäre, sie kennenlernen zu wollen. Du hörst auf, sie zu lieben, bevor du merkst, dass du sie liebst. Und du hörst auf, weil du denkst, das ist alles nur sinnlose Einbildung. Aber sinnlos ist deine Einbildung. Sie ist real – und man kann sie real kennenlernen. Und man kann dazu stehen, sie zu lieben. Das alles ist Realität. Und auch deine Liebe. Wenn du das mal zulassen könntest, hättest du die Antwort auf deine Frage...“

Sein Freund starrte ihn an, wie wenn er einen Kübel Wasser abbekommen hätte. Und er selbst staunte nicht weniger über das, was er gerade gesagt hatte.
„Uff...“, sagte Alex schließlich.
Eine Weile sagten sie beide gar nichts mehr, wanderten nur langsam nebeneinander auf dem Schulhof herum...
„Ja, aber trotzdem“, sagte Alex dann, „du sagst doch, sie hat eh schon einen Freund.“
Er seufzte leise.
„Darum geht’s doch gar nicht! Wenn du jemanden liebst, Alex, geht’s dann jemals darum, ob du eine Chance hast oder nicht? Oder ob du nun jetzt ihr Freund werden kannst? Was willst du denn, wenn du sie liebst? Willst du dann denn nicht überhaupt einfach nur ihr begegnen? Weil du sie eben liebst? Ja oder nein?“
„Na ja, wenn sie sich für mich gar nicht interessiert –“
„Woher willst du das denn wissen?“
„Weil sie eben schon einen Freund hat?“
„Deswegen kann sie doch trotzdem mit dir reden wollen.“
„Ja, vielleicht mal kurz.“
„Das weißt du doch alles noch nicht!“
„Wie auch immer. Selbst wenn es ein bisschen mehr ist, ich weiß nicht, ob mir das reichen würde ... dass sie eben auch mit mir mal redet und so.“
„Vielleicht würde ja eine Bekanntschaft entstehen, eine Freundschaft.“
„Ich weiß nicht, ob mir das reichen würde.“

„Dann liebst du sie nicht wirklich.“
„Doch – gerade dann. Hast du nicht gehört, was ich eben gesagt habe? ,Ich weiß nicht, ob mir das reichen würde’.“
„Das habe ich schon gehört, Alex. Trotzdem. Wenn man jemanden liebt, ist doch alles schön. Jede kleine Begegnung.“
„Nein, das wäre doch quälend.“
Er dachte nach.
„Nein. Das meine ich eben. Vielleicht ist es gerade das. Die ,tiefe Verehrung’. Ich liebe sie so sehr, dass es für mich schon ein Wunder ist, wenn sie mich anschaut... Verstehst du? Jeder Blick von ihr, jedes Wort von ihr ist ... unbeschreiblich. Sie hat einen tollen Freund. Wie könnte ich je glauben, dass ich das sein könnte? Ich stelle mir das gar nicht wirklich vor – nicht mehr. Aber das, was ich habe, wenn sie mit mir spricht, ist schon unendlich viel mehr, als ich mir je erträumt habe, erträumen konnte. – Kennst du das nicht, Alex? So was?“
„Weiß nicht – das ist Träumerei. Jeden Blick, jedes Wort als etwas so unendlich Besonderes zu sehen und schon darüber unendlich glücklich zu sein...“
„Nein – es ist so besonders. Wenn du ihr wirklich begegnen würdest, würdest du erleben, dass es das ist. Und trotzdem hatte ich das auch bei Cordula. Für mich wäre es auch bei ihr so gewesen. Ja, da war es vielleicht Träumerei. Aber eigentlich auch nicht. Wenn man jemanden wirklich liebt, ist es einfach so. Dann ist nun mal jeder Blick und jedes Wort etwas unendlich Besonderes. Wie soll man denn sonst jemanden wirklich lieben? Aber bei ihr ist es tatsächlich so, sozusagen absolut tatsächlich. Jeder könnte das erleben, sogar die, die sich nicht verlieben.“

„Ich glaube, so wie du könnte ich kein Mädchen lieben. Selbst sie nicht.“
Er dachte über diese Antwort kurz nach.
„Doch – du könntest. Du musst es nur wollen...“
„Wollen?“, fragte Alex langsam.
„Ja“, wiederholte er, „du musst es nur wollen. Das Mädchen, das du liebst, wirklich verehren... Jeder kann das. Man muss es nur wollen. Wenn man es nicht will, ist es was anderes. Aber man könnte es. Jederzeit...“
Sein Freund schwieg.
Schließlich sagte Alex:
„Also gut, dann bewundere ich eben die Leichtigkeit, mit der du dies kannst ... das zu wollen ... und zu tun.“
Er lächelte.
„Bewundere nicht mich“, erwiderte er. „Bewundere sie. Und zwar mit vollem Ernst. Dann kannst du es auch. Denn dann tust du es schon...“
Alex schwieg wieder.

Es klingelte.

Während sie ins Schulhaus gingen, sagte sein Freund:
„Eines hast du auf jeden Fall geschafft. Du hast es mir wirklich erklärt. Deutlicher, als ich je gedacht hätte...“

Er schwieg, beeindruckt von diesen Worten. Er hatte das Gefühl, dass er selbst gar nicht so viel erklärt hatte. Eigentlich hatte er nur seine Liebe zu diesem Mädchen erklärt – oder sie selbst, diese Liebe, erklären lassen, was sie eigentlich war...

...

Wer ist schuld?


„Sonja...“, wagte er es jetzt, sie anzusprechen.
Ihr Name blieb für ihn einfach ungewohnt. Aus seinem Munde wollte er einfach nicht ausgesprochen werden, immer wieder kam ihm dies zu gewöhnlich vor...
„Ja?“
Ihr Blick ... ein sanftes Leuchten, das sanfte Wunden schlug, wohin es auch traf...
„Ich... Ich wollte dich einmal fragen... Ich möchte auch lernen, die Menschen zu erreichen. Angefangen bei meinem Vater... Ich wollte dich einmal fragen, was du ihm antworten würdest... Für mich war es einfach aussichtslos, neulich.“
„Was sagt er?“, fragte sie.
„Er sagt...“
Er konnte es nicht aussprechen: ,du übertreibst’. Er suchte nach anderen Worten.
„Er sagt, es sind hauptsächlich immer nur Wenige schuld. Die müsste man davon abhalten. Die meisten sind eigentlich gar nicht schuld. Er sagt ... du übertreibst. Es ist furchtbar, aber was kann man solchen Leuten sagen?“
Er hatte gesehen, wie sie bei jenem Wort leise zusammengezuckt war, wie unter einer wirklichen Verletzung. Es tat ihm so leid, unbeschreiblich... Es war ihm völlig unerklärlich, wie man so etwas sagen konnte, wenn man das Sonnenmädchen wirklich sah. Sie verwundete mit Liebe ... und man verletzte sie mit ... Gleichgültigkeit und Unverständnis.

Nun sah sie ihn traurig an, traurig und doch voller Liebe, wie wenn eine getretene Blume langsam wieder aufblüht...
„Ich würde ihm antworten“, begann sie langsam und sanft, „woran man mit schuld ist, kann einem immer nur das eigene Herz sagen. Aber man muss auch darauf hören, was es sagen will...“
Die Wärme in ihrer Stimme, diese sanfte Traurigkeit...
„Wenn man nicht auf sein Herz hört, Valentin, sind immer nur die anderen schuld. Aber wenn man auf sein Herz hört, dann ist man immer auch mit schuld. Und man weiß es, denn dann liebt man ja... Wenn das Herz zu sprechen beginnt, liebt man, denn das Herz liebt. Und weil es liebt, weiß es, dass es schuldig ist. Dass es so unendlich viel versäumt hat und gerade versäumt. Das liebende Herz fühlt sich für alles verantwortlich. Es kann gar nicht anders, verstehst du? Es gibt für das Herz keine Abwesenheit von Verantwortung und also auch von Schuld, denn es gibt keine Abwesenheit von Liebe... Man kann vor der Verantwortung weglaufen. Aber man kann es nur, wenn man vor der Liebe wegläuft. Wenn man aber liebt, ist man bereit, auch alle Schuld auf sich zu nehmen – weil es nur darum geht zu retten.“
Er war von ihren Worten und ihrem ganzen Wesen erschüttert. Zwischen ihren Worten und denen von Alex lagen wirkliche Welten.
Und nun fiel dem Sonnenmädchen noch etwas ein, und es sagte:
„Wenn man vor dem Herzen wegläuft, sieht man nur das Schlimme, was Andere tun. Wenn aber das Herz beginnt, zu lieben, dann sieht man, was man tun könnte und sollte, was getan werden muss. Das Herz will es nicht leugnen oder sich blind dafür machen, sondern es will es gerade tun! Das Herz weiß, dass es immer zu wenig tut, immer...“
Traurig sah sie ihn an.
„Das ist doch gerade das Problem, Valentin... Wir wissen doch, was wir tun müssen. Aber es ist so unendlich viel. Wir können das gar nicht alles tun. Aber wir müssen anfangen – und so viel wie möglich tun. Es ist schon so spät... Schon so lange wissen wir, was notwendig ist und was an Schlimmem geschieht. Wer sein Herz nicht hört, will so wenig wie möglich tun – oder sich einreden, dass er längst sein Möglichstes oder alles Nötige tut. Wer aber sein Herz wirklich hört, weiß, dass das Gegenteil der Fall ist. Denn das Herz sieht unendlich viel ... unendlich viel Not, und unendlich viel Untätigkeit, gerade auch die eigene. Es flüchtet nicht vor der Verantwortung. Es sehnt sich danach, so viel wie möglich tun zu können ... und schämt sich, dass es immer zu wenig ist. Es nimmt wirklich alle Schuld auf sich. Es schämt sich nicht, zu gestehen, wie sehr es sich schämt, dass es viel zu wenig tut...“

Sonnenmädchen... In heiliger Liebe dachte er ihren Namen...

„Die anderen“, sagte Liam nun langsam, „wollen einfach nur ein gutes Gewissen haben. Wer auf sein Herz hört, weiß aber, dass er niemals ein gutes Gewissen haben kann.“
„Ja“, sagte das Sonnenmädchen. „Wie kann man ein gutes Gewissen haben, wenn man die Not sieht? Die Not der Menschen, der Tiere, der ganzen Natur? Wir sind keine Menschen, wenn wir sie nicht sehen – und uns nicht verantwortlich fühlen. Menschen sehen die Not – und sie fühlen sich verantwortlich. Denn wirkliche Menschen haben Herzen! Und das Herz sieht die Not und fühlt ... sich verantwortlich, weil es unmittelbar helfen will. Es geht nicht einmal um ,Verantwortung’ im Sinne von ,Schuld’. Es geht nur darum: Was fühlt das Herz, wenn es Not sieht? Und die Not ist überall. Das, Valentin ... das würde ich deinem Vater antworten...“
Er fühlte sich wie umhüllt, ja durchdrungen von der ganzen Schönheit ihres Herzens. Tief berührt sagte er leise:
„Danke, Sonja...“

„Aber“, fragte Sandra nach einiger Zeit, „ist es nicht trotzdem oft die Frage, was man tun kann? Ich meine, die Probleme sind oft sehr weit weg. Kinderarbeit. Armut. Die Abholzung der Regenwälder. Wer kauft heute noch Tropenholz? In Europa meine ich. Trotzdem geht es weiter. Was können wir da überhaupt tun? Oder Valentins Vater? Wie soll man ihm da antworten?“
Das Sonnenmädchen antwortete:
„Sandra, egal, wie weit weg etwas ist – man kann immer etwas tun. Man kann sich kundig machen, was garantiert ohne Kinderarbeit hergestellt wird. Man kann Projekte unterstützen, die die Armut bekämpfen. Man kann sich für eine andere Weltwirtschaft einsetzen. Man kann versuchen, die Ursachen der Naturzerstörung zu beseitigen. Länder in ihren Bemühungen unterstützen. Druck auf die reichen Länder ausüben, dass sie dies tun. Heute unterstützen die armen Länder uns, nicht umgekehrt! Die Weltwirtschaft funktioniert einfach so ... so absurd!
Nun kann man sagen: Ich bin für all das nicht verantwortlich. Aber wenn das Herz spricht, geht das nicht mehr! Es geht einfach nicht mehr – verstehst du? Das Herz fragt nur eines: Was kann ich tun? Das ist dann die einzige Frage – und es gibt unendlich viele Antworten, weil es unendlich viel Not gibt. Natürlich ist es anstrengend, sich über irgendetwas zu informieren oder sich für etwas einzusetzen. Aber das Herz scheut keine Anstrengung, es scheut nur die Schuld. Es will so viel wie möglich tun.
Ich finde die Frage ,was können wir tun?’ absolut sinnlos. Denn wir können unendlich viel tun. Ja, wenn jemand fragen würde: ,was von alledem soll ich tun?’, das würde ich verstehen. Ihm würde ich dann sagen: Tue, was dein Herz dir am allermeisten sagt. Und wenn du dich wirklich nicht entscheiden kannst, dann würfle... Hauptsache, dein Herz fühlt mehr, als es überhaupt tun kann – und nicht weniger...“

„Und wie lernt man dies – so viel zu fühlen?“
Es war das Mädchen neben ihm, Marlene, die dies gefragt hatte. Er vermochte nicht zu sagen, ob sie die Frage allgemein stellte, oder ob sie es auch persönlich fragte. Aber wer fühlte schon so viel wie das Sonnenmädchen?
„Ja...“, sagte dieses langsam und sah seine Freundin mit diesem einzigartig offenen, leuchtenden Blick an. „Das ist vielleicht die schwierigste Frage. Denn ich weiß immer wieder nicht, warum es eigentlich gar nicht so ist. Aber ... eine Sehnsucht nach einer anderen Welt haben doch zumindest ganz viele Menschen. Eigentlich geht es doch nur darum, diese immer stärker zu machen. Wirklich zu beginnen, sie ernst zu nehmen ... und dann immer mehr wachsen zu lassen.
Man muss seinem Herzen das Sprechen beibringen... Und sich selbst das Hören... Darum geht es. Man muss seine Sehnsucht immer größer werden lassen. Ganz konkret. Sie wächst nicht von alleine. Aber wenn man sich um sie kümmert, dann schon. Nichts passiert von alleine. Man muss sich darum kümmern, dass einem alles immer wichtiger wird. Wenn man das aber tut, dann wird auch alles immer wichtiger. Ganz konkret. Die Kinder. Die Erwachsenen. Die Natur. Der Regenwald. Die Arktis. Unsere eigene Natur. Jedes einzelne Tier draußen und in einem Stall. Man muss sich darüber Gedanken machen – und man muss die Not fühlen. Man muss lernen, konkret an all der Not zu leiden, weil man sie fühlt, überall konkret und einzeln.
An jedem einzelnen Punkt wird das Herz sehend. Und wo das Herz sehend wird, leidet es mit, wird es liebend – und die Sehnsucht und der Wille, etwas zu tun, ist geboren. Man muss das nur wollen. Man muss die Mühe auf sich nehmen, immer mehr sehend werden zu wollen. Sehend, fühlend, liebend, leidend...
Die Sehnsucht nach einer besseren Welt haben alle Menschen, daran glaube ich fest. Aber diese Sehnsucht ernst zu nehmen, bedeutet Arbeit und bedeutet Leiden. Liebe ist Leiden, weil die Not existiert. Und Liebe ist Arbeit, weil sie niemals untätig sein will. Das muss man wollen. Dann findet man die Liebe, unbedingt ... denn dann hat man sie schon...“
Das Sonnenmädchen sah seine Freundin an.
„War das eine Antwort auf deine Frage, Marlene?“
„Ja, ganz und gar... Danke, Sonja!“
Wieder hörte er im Klang der Worte die tiefe Freundschaft dieser beiden Mädchen.

„Aber“, fragte Sandra wieder, „wenn man nun zwar mit allem Mitleid fühlt und gern eine bessere Welt hätte, aber trotzdem nicht diese Anstrengung und dieses Leiden auf sich nehmen will? Ich meine, dann ist man doch keine Sekunde mehr glücklich. Und ... man hat doch eigentlich überhaupt kein eigenes Leben mehr.“
„Aber Millionen Menschen“, erwiderte Ruth ihr von gegenüber, „und unzählige Tiere haben auch kein eigenes Leben und sind keine Sekunde glücklich.“
„Ja“, sagte das Sonnenmädchen. „Man kann sowieso nicht mehr glücklich sein, wenn man weiß, dass es so ist. Ich meine, im Sinne von ,ich bin glücklich, und das andere interessiert mich nicht’. Und doch bin ich mit euch jetzt gerade sehr, sehr glücklich. Aber ich wäre sehr unglücklich, wenn ich mein Herz nicht immer mehr sprechen lassen würde – und das heißt: wenn ich nicht immer mehr die Not überall sehen würde und versuchen würde, dagegen alles zu tun, was mir möglich ist. Ich bin gerade glücklich, wenn ich das tue. Man kann glücklich sein, indem man unglücklich ist, weil man mitleidet. Glück ist nicht das angenehme Leben. Glück ist das Zusammenleben mit allem – gerade mit denen, die unglücklich sind und leiden. Das Lindern von Leid und Not, das Helfen oder das Mittragen des Leides – das ist das größte Glück, was ich kenne. Abgesehen von den Momenten mit Freunden, mit euch...“

„Das könnte ich so nicht“, sagte Sandra.
„Man kann es immer“, antwortete das Sonnenmädchen sanft. „Wenn man es wirklich will, eines Tages, dann kann man es auch. – Ich habe mich so oft gefragt, wie das ist ... und es gibt tatsächlich zwei verschiedene Sachen, zu denen wir ,wollen’ oder auch ,fühlen’ sagen. Ich habe mich gefragt: Wie kann das sein, Mitleid zu fühlen und doch nicht zu helfen? Aber dann ist das Mitleid noch nicht stark genug. Man fühlt etwas, aber noch kein wirkliches Mitleid – sonst würde man helfen wollen, unbedingt... Man fühlt gleichsam nur eine schwache Erinnerung an das wirkliche Mitleid, aber man hat es noch gar nicht wirklich. Es ist mehr nur eine Vorstellung: ,Dieser Mensch ist arm, ich sollte ihm helfen’. Das sagt zwar auch schon das Herz, aber es fühlt es eigentlich noch nicht wirklich. Wenn es es wirklich fühlen würde, dann würde man auch wirklich helfen wollen – und wäre gerade ganz unglücklich, wenn man es nicht täte oder nicht könnte.
Und wenn man gern eine bessere Welt hätte, aber keine Anstrengung auf sich nehmen möchte, dann ist einem das Leben ohne diese Anstrengung im Moment noch wichtiger als diese bessere Welt. Man ,möchte’ also irgendwo eine bessere Welt haben, aber man will vor allem ein Leben ohne allzu viel Anstrengung haben. Oder vielleicht schafft man es einfach noch nicht, sich anzustrengen. Vielleicht hat man noch keine Kraft dazu. Trotzdem ist die Frage, was man wirklich will. Wenn man eine bessere Welt wirklich will, dann ist man auch wirklich unglücklich, solange sie noch nicht da ist. Und solange man nicht alles dafür tut. Es ist also immer wieder die Frage, was man wirklich fühlt und wirklich will. Das kann man dann auch. Denn man will es ja!“

„Aber muss man denn so weit gehen?“, fragte Sandra.
„Nein...“, sagte das Sonnenmädchen. „Niemand muss... Aber wenn es niemand tut, dann wird das Leid und die Not immer größer werden. Wir können dann noch immer dieses Mitleid haben ... aber wenn wir nichts tun, wird es einfach alles immer schlimmer. Unser Mitleid ist dann nicht ... nicht wahr, verstehst du, Sandra? Es ist nur dann wahr, wenn wir bereit sind, auf unser eigenes ,Glück’ zu verzichten, um mit den anderen Tieren und Menschen, die unglücklich sind, zu leiden, bis es kein Leid mehr gibt...
Es ist ein merkwürdiger Zwischenzustand, dieses Mitleid, ohne etwas zu tun. Ein Zwischenzustand zwischen dem wirklichen Mitleid und dem Egoismus. Das Herz spricht zwar, aber man tut nichts. Vielleicht sollte man sich manchmal sagen: dann kann ich mein Herz doch gleich ganz zum Schweigen bringen. Sich das einmal vorstellen. Die Wirkung wäre ja die gleiche: man tut noch immer nichts. Aber vielleicht würde man bei dieser Vorstellung unendlich erschrecken, denn so egoistisch will man ja gar nicht sein...! Und dann würde das Herz vielleicht wieder stärker sprechen können ... oder man würde es wieder stärker wirklich hören...
Oder man kann sich doch auch einmal vorstellen, wie all diese Tiere und Menschen, die leiden, eigentlich auf einen warten ... darauf, dass das eigene Herz endlich spricht, um sein Möglichstes zu tun. Wie eigentlich fortwährend auf einen gewartet wird, voller Leid, voller Hoffnung... Und wie man zwar irgendwo Mitleid hat, aber nichts tut, weil es einem doch zu anstrengend ist. Man tut nichts, wie auch der größte Egoist nichts tut. Für die, die leiden, ist kein Unterschied, sie müssen weiter leiden, ohne Hilfe...
Fängt da das Herz nicht auf einmal an, wirklich zu sprechen, Sandra? Kann man denn noch glücklich sein, wenn man sich das wirklich einmal vorstellt?“
„Nein, natürlich nicht... Und trotzdem auch nicht, wenn man sein Leben lang nur unglücklich ist und sich um Andere kümmert.“

Das Sonnenmädchen sah seine Freundin sanft an. Er sah ihre leise Traurigkeit und zugleich so viel Verständnis...
„Nein... Du hast Recht... Deswegen sagte ich ja: eines Tages. Eines Tages hält man es einfach nicht mehr aus... Man hält es nicht mehr aus, allein irgendwie glücklich zu sein, weil man zu gut weiß, wie es den anderen geht, so vielen... Das Herz spricht von allein immer mehr. Aber nicht allein – nur, wenn man es sprechen lässt. Wenn man sich nicht dagegen wehrt. Man hört allmählich auf, sich dagegen zu wehren. Allmählich. Eines Tages. Eines Tages ist man stark genug, zu sagen: Ich brauche kein Glück mehr. Ich will es nicht mehr. Nicht mehr mein eigenes. Nur noch das von allen...
Es ist das wirkliche Herz, Sandra. Und dieses wirkliche Herz gibt einem auch die Kraft dazu. Es selbst ist stark genug dafür. Wenn der Tag gekommen ist, ist es so. So lange warten die, die leiden – sie warten einfach. Sie können ja eh nichts anderes tun...“
Sandra atmete einmal tief durch.
„O je, Sonja – du hast es wirklich drauf! Man kann dir nicht entkommen...“
„Man kann das Mitleid nicht erzwingen“, sagte das Sonnenmädchen. „Auch bei sich selbst nicht. Man kann nur auf seine eigene Sehnsucht achten. ,Was will ich wirklich?’ Und das dann immer ernster nehmen. Jeden Tag mehr... Mehr will ich gar nicht, als die Herzen an ihre Sehnsucht erinnern. Ich glaube ja fest daran, dass diese Sehnsucht und also auch diese Kraft überall da ist! Man muss sie nur wieder sprechen lassen und hören...“
„Und irgendwie schaffst du das auch immer wieder!“, sagte Sandra.

Das Sonnenmädchen sah seine Freundin an.
„Wir haben nicht so viel Zeit, Sandra... Die Welt braucht Menschen, die die Herzen wieder daran erinnern, wirklich zu fühlen – oder überhaupt zum ersten Mal wirklich zu fühlen. Ich kann es nicht alleine... Es müssen mehr Menschen tun. Sonst passiert das, was in der Zeitung und in der Abendschau passiert ist: Man findet es irgendwo ganz richtig – das ist die schwache Erinnerung an das wirkliche Mitleid, die jeder hat –, aber man lächelt eigentlich darüber. Oder man findet es sogar falsch und ärgert sich sogar über das, was ich sage... Wenn ich allein bleibe mit all dem, wird auch das immer so bleiben. Ich brauche euch...“

...

Die Liebe kennt nur eine Sprache


„Und dein Freund...“, sagte sie langsam, weil sie offenbar nie etwas vergaß.
Dann wartete sie, bis er ihr auch zu dieser Wirklichkeit wieder folgen konnte...
„Dein Freund“, wiederholte sie dann warm, „ja, ihr habt euch gestritten. Und ja, er hat etwas gesagt, was dich sehr verletzen musste... Aber, verstehst du, die Antwort des Herzens ist immer die gleiche. Und warum ist das so? Weil die Liebe nur mit Liebe antworten kann! Verstehst du? Sie kann nicht anders. Wenn etwas anderes da ist, ist es nicht mehr die Liebe. Aber wenn sie da ist, dann redet sie ihre Sprache...“
Das Sonnenmädchen schwieg für einen Moment, und in diesem einen Augenblick lebte in ihm die erschütternde Wirklichkeit dessen, was sie gesagt hatte. Die Liebe kannte nur eine Sprache – ihre Sprache...
„Es gibt also immer nur eine Frage: Kann die Liebe da sein? Da bleiben? Oder wird sie vertrieben – von dem anderen, was dann an ihre Stelle tritt...? Die Liebe kennt nur eine Sprache. Wo ihr Liebe begegnet, erwidert sie mit Liebe. Wo sie verletzt wird, erwidert sie mit ... Verzeihen.“
Das Sonnenmädchen hatte einen so schönen Blick, immer wieder. So lebendig, und doch lag auch in ihm immer wieder nur eine Sprache, eine Stimme, eine Melodie...
„Der Schmerz bleibt natürlich“, sagte sie, „auch hier... Aber die Liebe, verstehst du, Valentin, nimmt ihn auch hier gerne auf sich. Sie ist bereit dazu. Sie nimmt den Schmerz auf sich, um sich selbst nicht zu verlieren. Sie ist die Liebe – verstehst du? Sie würde sich selbst verlieren, wenn sie nicht mehr lieben könnte. Also liebt sie weiter – auch dann, wenn sie verletzt wurde. Sie verzeiht ... um selbst weiter lieben zu können... Ihre Liebe ist das Verzeihen. Und weil sie verzeihen kann, kann sie weiter lieben, immer weiter... Sie hört einfach nicht auf, verstehst du? Sie kennt nur eine Sprache. Nur eine einzige... Aber nur diese ist wichtig, überhaupt nur diese...“

Er war erschüttert. Das war das Sonnenmädchen – es war ihre Sprache. Sie war vollkommen das, was sie da sagte.
„Aber woher nimmt man die Kraft?“, fragte er fast wie in einem Traum.
„Die Liebe braucht keine Kraft“, erwiderte sie. „Sie hat sie schon. Alles, was sie braucht, hat sie schon... Sie braucht nichts weiter...“
„Und ich...“, fragte er zögernd.
„Du“, erwiderte sie warm, „musst nur die Liebe finden. Wenn du sie gefunden hast, dann hast du alles gefunden... Und dann kannst du zu deinem Freund gehen, denn dann führt dich die Liebe selbst...“
„Aber ich“, versuchte er einen schwachen Einwand, „sagte doch, dass ich ihn gerade nicht mehr lieben kann.“
„Ja, du ja, jetzt als Valentin im Moment. Aber die Liebe kann alles. Alles außer nicht lieben... Du kannst ihn im Moment nicht lieben, weil du ihm nicht verziehen hast. Aber die Liebe verzeiht ihm. Suche also die Liebe – dann wirst du alles andere gefunden haben, was du noch brauchst. Du brauchst nichts anderes. Es ist alles in einem Moment da, wenn die Liebe da ist. Wir können sie finden, jederzeit... Finde sie! Sie ist in dir...“

Er sah sie nachdenklich an. Schließlich sagte er langsam:
„Ja, ich verzeihe ihm... Aber was kann ich tun, wenn ihm fortwährend das fehlt, was ... mir an ihm eben fehlt?“
„Was ist das?“
„Zum Beispiel diese ... Art der Verehrung, von der ich sprach. Er ist in seiner Art ... ständig etwas zu grob. Er fühlt zu wenig...“
Sanft, fast traurig sah sie ihn an.
„Das ist doch gerade das Problem aller Menschen. Verstehst du das denn nicht? Genau das versuche ich doch ... ich versuche, dass die Menschen das erleben können. Kannst du ihm denn nicht auch das verzeihen? Wie kannst du ihm denn nicht verzeihen, was überhaupt allen fehlt? Was können wir denn tun, wenn es fehlt? Nichts! Wir können nur versuchen, es zu zeigen, erlebbar zu machen. Wir können es nur selbst tun, Valentin! Und dann hoffen, dass man eine Sehnsucht danach bekommt. Aber wir müssen es ertragen – wir müssen unsere eigene große Sehnsucht danach ertragen. Unsere Sehnsucht, dass auch die anderen Menschen es immer mehr finden. Ihr Herz... Ihr ganzes Fühlen... Wenn wir sie nicht ertragen, sind wir genau wie sie, zu grob... Verstehst du? Wir müssen sie lieben, wie sie sind. Immer... Nur so kann die Liebe wiedergefunden werden...“
„Aber manchmal scheint mir“, begehrte er auf, „als sei die Sehnsucht gar nicht da. Sie ist nicht da. Sonst würde er nicht so reden!“
„Nein, sie ist natürlich nicht da. Wenn sie da wäre, dann wäre es so, wie du sagst. Aber wir wollen doch, dass sie erwacht, diese Sehnsucht. Oder willst du das nicht, Valentin? Aber wir können nur helfen, wenn wir es verstehen. Alles. Wenn wir nicht grob sind. Wenn wir verzeihen, immer. Wenn wir unsere Hoffnung, unsere Sehnsucht, nicht aufgeben. Egal, wie wenig sich zu zeigen scheint. Hast du mit ihm schon einmal darüber geredet?“
„Schon oft.“
„Und hat er überhaupt keine Sehnsucht?“
„Doch, irgendetwas hat er schon. Wir waren schon einmal an einem Punkt, wo er es eigentlich zugegeben hat...“
„Siehst du?“, rief sie. „Siehst du...? Dann rede wieder mit ihm. Und noch einmal... Und verzeih ihm... Immer wieder. Und höre nicht auf, ihn zu lieben... Er ist doch dein Freund, Valentin... Das ist er doch...?
Wollen wir den Streit auf der Erde vermehren – oder die Liebe? Das ist die einzige Frage. Und es gibt nur eine Antwort, Valentin... Eine Sprache...“

Er ergab sich völlig ihrem sanften Sieg. All seine Einwände lagen wehrlos am Boden – willig besiegt von der Schönheit der Liebe.

...

Die Farbe der Unschuld und die „Emanzipation“


„Na gut“, sagte Sandra. „Kann ja sein. Aber ich habe noch nie ein Kleid getragen und werde das sicher auch nicht. Wie bist du eigentlich auf das weiße Kleid gekommen, Sonja?“
Das Sonnenmädchen wurde von der Frage überrascht. Auch er fand, dass diese Sandra immer ein bisschen sehr rücksichtslos fragte, auch antwortete. Er verstand eigentlich gar nicht, warum Sonja sich mit ihr befreundet hatte... Er sah, wie sie zögerte. Dann aber sagte sie:
„Kann man das nicht verstehen...?“
„Die Farbe der Unschuld?“, fragte Sandra.
Er hätte sie am liebsten gerüttelt und geschüttelt. Konnte sie nicht wenigstens ein bisschen empfindsamer sein?
Das Sonnenmädchen sah sie an.
„Fühlst du das...?“, fragte sie sie.
„Was.“
„Dass es die Farbe der Unschuld ist...“
„Das weiß man doch.“
„Ja, aber fühlst du es?“
„Wie meinst du das? Natürlich, ,weiß wie Schnee’ ... man fand schon immer, dass das die Unschuld symbolisiert.“
„Ja, aber, Sandra – fühlst du es auch? Fühlst du es...?“
„Ich? Keine Ahnung. Es ist so. Ich verstehe, warum man es so denkt, assoziiert...“
„Also fühlst du es nicht...“, sagte das Sonnenmädchen traurig.
„Was soll ich denn fühlen, Sonja? Ich weiß ja, dass es dir immer sehr auf das Fühlen ankommt. Aber was soll ich denn bei dem Weiß nun fühlen?“
Wieder wollte er sie schütteln. Sie sollte vor allem fühlen, wie sie redete!
„Was du beim Schnee auch fühlst“, erwiderte das Sonnenmädchen mit leiser Wärme. „Fühlst du es denn da...? Weiß wie Schnee, Sandra ... fühlst du das?“
Sandra atmete einmal tief ein.
„Was soll ich denn bloß fühlen?“, sagte sie. „Geht das nur mir so? Was ist denn mit euch?“ Sie wandte sich an die Runde. „Was ,fühlt’ ihr denn bei Schnee? Versteht ihr, was Sonja meint? Oder was man fühlen soll?“

Auch das Sonnenmädchen blickte nun die anderen an, fast furchtsam. Sein Herz klopfte. Fühlte er etwas? Konnte er dem Sonnenmädchen überhaupt gerecht werden? Ihr Blick wanderte von Ruth wieder zurück zu ihm, beschämt fühlte er ihn, aber sie sah dann Marlene an, ihre beste Freundin...
„Marlene, du...?“, fragte sie leise. „Du wolltest ja auch... Was fühlst du ... bei dem Weiß?“
Er spürte Marlenes Unsicherheit – sie, die nun wirklich nie im Mittelpunkt stehen wollte...
Aber nun sollte sie ihrer Freundin zu Hilfe eilen. Am liebsten wäre er ihr zu Hilfe geeilt. Sie aber sah das Sonnenmädchen verlegen an. Und dann sagte sie leise:
„Ich habe ja auch noch nie ein Kleid getragen, Sonja...“
Ihm kam plötzlich der Gedanke, sie könnte die Frage falsch verstanden haben, doch nun sagte sie:
„...aber...“, noch einmal zögerte sie, „jetzt auf einmal, wo wir darüber sprachen, vorhin, wurde es mir auf einmal noch deutlicher als je zuvor... Und jetzt erst recht. Ja, natürlich fühle ich es. Weiß wie Schnee – wie könnte man das nicht fühlen, Sonja? Jetzt weiß ich, was ich immer gefühlt habe. Warum das weiße Kleid so unglaublich war, immer... Weiß wie Schnee – natürlich! Weiß ist die Farbe der Unschuld. Wir sehen es doch! Das fühlt man doch? Man fühlt es so stark! Man muss eigentlich nur begreifen, was man fühlt...“
„Ja...“, sagte das Sonnenmädchen. „Ja...! Ich bin so froh, dass du es auch fühlst... Ich wusste es, dass du es auch fühlst...“
Es erschien ihm wie ein Widerspruch, diese zwei Sätze von ihr. Und doch war bei ihr so vieles kein Widerspruch, was bei anderen unbedingt einer war. Er musste sich daran gewöhnen. Aber das alles liebte er ja gerade an ihr. Sie war einfach jenseits aller Widersprüche...

„Und du, Ruth?“, fragte sie nun hoffnungsvoll ihre andere Freundin.
„Ich?“, erwiderte diese. „Ich weiß nicht. Ich glaube mir geht es so ein bisschen wie Sandra. Oder vielleicht stehe ich auch zwischen euch beiden“, sie schaute Sandra und Marlene an. „Ich meine, man hat bei Weiß schon ein anderes Gefühl als bei anderen Farben. Aber man weiß ja auch, dass es das Symbol für Reinheit und so ist. Es ist ja nun mal weiß... Vielleicht verstehe ich auch die Frage noch nicht so ganz. Warum ist das denn jetzt so wichtig?“
„Es ist so wichtig...“, antwortete das Sonnenmädchen, „weil es so schön ist. Und es ist so schön, dass man es erleben muss; dass es wichtig ist, das zu erleben. Und du erlebst es doch auch! Aber wenn man gar nicht weiß, dass man es erlebt? Wenn man dann gleich sagt: ,Man weiß ja, dass es das Symbol für so-und-so ist’? Dann erlebt man es doch gar nicht wirklich! Man erlebt es zwar – aber man weiß es überhaupt nicht! Es ist fast wie mit dem Herzen. Man hat zwar die Sehnsucht nach einer ganz anderen Welt – aber man macht einfach weiter, wie immer... Das Schlimme ist, seine Gefühle nicht ernst zu nehmen, da und auch hier!
Weiß – das ist die schönste Farbe, die ich kenne! Das muss man nicht finden, das meine ich gar nicht. Aber ich habe nie verstanden, wie mir Menschen sagen konnten: Weiß ist gar keine Farbe. Natürlich ist Weiß eine Farbe! Und sie ist nicht nur eine Farbe, sie ist die schönste von allen. Gerade weil sie scheinbar keine Farbe ist. Es ist, wie wenn sie ganz darauf verzichtet, Farbe zu sein – aber sie kann es ja nicht ändern, sie bleibt trotzdem Farbe ... nur wird sie so zur schönsten von allen... Die anderen strengen sich alle an, schön zu sein. Sie strengt sich an, keine Farbe mehr zu sein – und wird so noch schöner als alle anderen... Ich weiß nicht, ob ihr das versteht...
Aber weiß wie Schnee... Warum fühlen wir denn den Schnee als ein solches Wunder? Wenn er alles bedeckt, nach und nach, so sanft, so weich, so vollkommen schön? Die ganze Welt wird wie ein Märchen... Alles Hässliche wird bedeckt, alles wird schön, so schön wie der Schnee. Ja, es ist die Reinheit. Und natürlich auch die Unschuld. Das ist doch dasselbe. Weiß ist eine heilige Farbe. Es ist die Farbe aller Farben. Es ist...“
Das Sonnenmädchen musste aufhören zu sprechen, weil es keine Worte mehr fand. Dann aber sagte es leise:
„Es ist Sehnsucht und Erfüllung zugleich. Wenn alles so wäre wie das Weiß – dann wäre alles ein Wunder... Weiß ist die Farbe des Wunders...“

Die Wärme ihrer Stimme erfüllte den Raum. Es war, wie wenn die Welt weiß geworden wäre, wie wenn das Wunder sie einhüllte. Er erinnerte sich an ein Gefühl, das er gehabt hatte, wenn er als kleines Kind die Schneeflocken vom Himmel schweben sah...
„Die Farbe des Wunders?“, fragte Sandra, und wieder hätte er sie durchschütteln können. „Und was sind dann diese weißen, kalten Wände in Krankenhäusern? In Büros? Versuchslaboren? Schlachthäusern?“
Es war ihm fast unerträglich – dieser Einbruch der hässlichen Welt in das Wunder...
Auch das Sonnenmädchen zuckte innerlich zusammen, wie verwundet. Sein ganzes Mitleid war bei ihr. Aber sie sah ihre Freundin an und erwiderte leise:
„Das weiß ich nicht... Die Menschen streichen alles weiß und denken, dann ist alles in Ordnung. Aber das Weiß muss ja hier sein“, sie legte eine Hand unter ihre Brust, auf ihr Herz, „wenn es draußen ist, in der Menschenwelt draußen, dann nützt es gar nichts... Weiße Kacheln, auf denen Tiere getötet werden, weil man...“, ihre Stimme wurde wacklig, „weil man sie wieder schön sauber wischen kann ... das ist Verrat an der heiligen Farbe... Man schändet die Tiere, und man schändet das Weiß... Man weiß gar nicht, was das Weiß ist! Würde man im Schnee die Tiere auch noch töten? Da, wo das Blut für immer sichtbar bleiben würde... Im Schnee? Weiß wie Schnee, rot wie Blut – rot wie das arme Blut der Tiere!“
Das Sonnenmädchen musste eine Pause machen.
„Nein, Sandra“, sagte sie dann gequält, „die Menschen wissen nicht, was das Weiß ist... Sie missbrauchen es – wie alles andere...“

Nach einer schwer lastenden Pause war es Ruth, die wieder etwas sagte.
„Die heilige Farbe...“, begann sie. „Vielleicht habe ich das auch gefühlt. Kann das sein? Man schämt sich, ein weißes Kleid zu tragen – weil man überhaupt keine Kleider trägt, aber auch, weil man so herausstechen würde. Aber vielleicht auch, weil man das Gefühl hat, das gar nicht tragen zu können. Also, weil es eben ... zu heilig ist. Man fühlt sich ja fast wie bei einer Hochzeit. Aber so heilig, so weiß wie Schnee ... ist man doch gar nicht... Allein schon, weil man sich schämt, so was zu tragen.“
Er sah, wie das Sonnenmädchen innerlich um eine Antwort rang. Auch er versuchte, zu begreifen, was Ruth eigentlich gerade gesagt hatte und ob das stimmte. Er konnte schlecht mitreden, denn er würde nie ein weißes Kleid tragen, auch keine weiße Hose... Aber es passte zu Mädchen. Es passte zu dem Sonnenmädchen und zu Marlene. Sie waren weiß wie Schnee...
„Dann darf man sich eben nicht schämen“, erwiderte das Sonnenmädchen einfach. „Man muss es ja nicht tragen. Keiner zwingt einen. Man trägt es nur, wenn man es will. Und wenn man es will ... ist man vielleicht auch so weit, sich nicht mehr zu schämen. Ganz bestimmt ist man nicht heilig. Aber ... aber das Herz ist heilig, Ruth. Da, im Herzen, da ist unser heiliges Gefühl. Da würden wir nie etwas Böses tun. Nie ein Tier umbringen, nie etwas Böses sagen oder denken. Keine Kriege führen. Keinen einzigen Menschen verhungern lassen. Unser Herz, tief innerlich, das ist heilig. Und wenn es eine Farbe hätte, wäre es weiß.
Ruth, wenn wir wirklich eine Sehnsucht nach einer anderen Welt haben, dann, weil wir unser Herz zu fühlen beginnen – und umgekehrt. Aber wenn wir das ernst nehmen...“
Sie zögerte, dann sagte sie:
„Ich kann es mir einfach nicht vorstellen, dass man das Weiß dann nicht lieben kann... Weiß ist das, wonach man Sehnsucht hat. Es ist dasselbe. Vielleicht schämt man sich am Anfang. Aber man kann sich doch nicht dauerhaft schämen? Ich meine... Aber das musst du wissen ... ich kann es dir ja nicht sagen...“

„Aber ich bin ja zum Beispiel nicht so wie du...“, sagte Ruth. „Du kannst es tatsächlich anziehen, bei dir stimmt es...“
„Ruth...“, erwiderte das Sonnenmädchen warm. „Bei dir würde es auch stimmen, wenn du es nur möchtest...“
„Wenn ich was möchte?“
„Wenn du nur möchtest, dass es stimmt...“
„Wie meinst du das?“
Möchtest du, dass es stimmt?“
„Was meinst du genau? Was stimmt?“
Du hast gesagt, bei mir stimmt es...“
„Ja, das tut es ja auch.“
„Und ... möchtest du, dass es bei dir auch stimmt?“
„Aber es stimmt bei mir ja nicht!“
„Das ist doch jetzt nicht wichtig. Würdest du es denn wollen, dass es bei dir auch stimmt?“
„Ja, Sonja, schon – das will ich schon oft, dass mir das alles so wichtig wäre wie dir. Dass ich alles so fühlen könnte wie du. Dass ich zu dem bereit wäre, zu dem du bereit wärst. Aber das alles ist bei mir nicht so ... und deshalb habe ich ein solches weißes Kleid gar nicht verdient...“

Nachdenklich sah das Sonnenmädchen seine Freundin an.
„Vielleicht...“, sagte es schließlich, „vielleicht ist es bei dir umgekehrt.“
Er sah, wie Ruth sie verwundert und völlig fragend ansah.
„Vielleicht“, fuhr sie fort, „würdest du das ... was du können möchtest, gerade dann können, wenn du ... also wenn du ein solches weißes Kleid tragen würdest. Gerade weil du findest, dass du es noch gar nicht verdienst. Aber du fühlst, was es bedeutet. Gerade weil du dies fühlst, mit dem Kleid, fühlst du, was es bedeutet... Und wenn du es dann tragen würdest ... ach, ich weiß auch nicht...“
Ratlos ließ das Sonnenmädchen seine eigenen Überlegungen wieder fallen. Noch immer blickte Ruth voller Aufmerksamkeit auf sie.
„Ist es nicht so...“, sagte er fast ohne Überlegung, um ihr irgendwie zu helfen und den Gedanken zu retten, „dass man ... also...“
Er spürte, wie sich nun alle Aufmerksamkeit auf ihn richtete, und er musste sich unendlich anstrengen, um den Gedanken zu behalten, den er noch nicht einmal wirklich hatte.
„...also dass man ... wenn einem etwas sehr viel bedeutet, dass man dann sein Bestes tut, sein Allerbestes, gerade weil man denkt, man hat es gar nicht verdient? Und dass man es dann ... na ja, noch immer nicht verdient, aber dass es dann zumindest halbwegs...“
Hilflos sah er Ruth an, dann kurz das Sonnenmädchen, dessen tiefe Berührung er wahrnahm, dann wieder Ruth.
„Also ... vielleicht schämst du dich ja gar nicht wegen dem Kleid, sondern weil ... du es trägst, tragen darfst, obwohl du es vielleicht noch gar nicht dürftest. Vielleicht denkst du nur, du schämst dich mit dem Kleid wegen des Kleides, aber in Wirklichkeit schämst du dich wegen dir – weil du dich wegen dem Kleid schämst. Ach, ich weiß es auch nicht... Aber so etwas Ähnliches hat Sonja glaube ich gemeint...“

„Nein, nein“, hielt Ruth den Gedanken nun fest, „das ist es vielleicht genau! Ja, vielleicht ist es das! Ich schäme mich wegen dem Kleid – aber irgendetwas in mir möchte sich gar nicht schämen. Irgendetwas möchte genau wie Sonja ein solches weißes Kleid tragen – das war jetzt nur ein Beispiel, aber je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr ist es nicht einmal nur ein Beispiel. Es ist etwas Besonderes. Und man weiß, dass man gar nicht so besonders ist, um es zu tragen. Wirklich nicht – denn man schämt sich ja sogar noch. Aber ... aber vielleicht wird man es gerade ... ich meine, vielleicht wird man gerade eine ... eine ,würdige’ Trägerin des Kleides, dieser Farbe auch, wenn man es ... wenn man es wagt. Auch wagt, zu wollen. Etwas in einem will es...“
„Ja!“, sagte das Sonnenmädchen begeistert. „Genau das ist es. Etwas in dir will es – etwas in dir will das, was dein Herz will. Und das ist gerade dein Herz, Ruth. Und dieses Herz ist immer schon die würdige Trägerin des Kleides, denn es ist seine Farbe, es ist sein Kleid...“

Es sah Ruths Berührung – doch von der anderen Seite fragte Sandra nun:
„Und wie ist das mit Jungs?“
„Mit Jungs ist es so“, sagte er ohne zu überlegen, nur aus dem Leiden heraus, „dass auch sie sehr genau merken, wenn jemand immer wieder irgendwo hineinplatzt, ohne zu fühlen, was er da eigentlich tut!“
„Was soll das jetzt heißen?“, reagierte Sandra empört.
„Das soll heißen, dass Sonja immer wieder unglaublich versucht, uns was zu erklären. Und du fühlst einfach nicht, dass man einfach mal eine Pause braucht, wenn sie etwas gesagt hat – und auch alle anderen –, dass man nicht immer einfach so reinplatzen darf. Wie willst du denn je begreifen, was sie sagt, wenn du immer sofort was erwiderst? Hörst du überhaupt zu?“
„Sag mal, spinnst du?“
„Valentin hat Recht“, eilte ihm das Sonnenmädchen zu Hilfe. „Nicht als Vorwurf, Sandra – ich meine es nicht als Vorwurf. Aber ... aber ... die andere Welt, die wir uns wünschen, fängt hier an. Hier, in diesem Zimmer. Hier bei uns. Wie wir uns zuhören. Wie wir uns ernst nehmen. Wie wir uns eine andere Welt wünschen. Das Herz, Sandra ... das Herz kann zuhören. Du kannst es auch. Wir alle können es – und können es doch nicht, müssen es erst lernen. Was will der Andere eigentlich sagen? Das Herz möchte gar nicht sofort antworten. Es möchte erst einmal verstehen, was der Andere gesagt hat. Und es ... manchmal möchte es überhaupt nicht antworten, gerade weil alles schon so schön gesagt worden ist... Man möchte eigentlich oft auch die Worte des Anderen gar nicht ... betreten, man möchte sie bleiben lassen wie den frisch gefallenen Schnee... Zuhören lernen müssen wir uns, Sandra! Wir alle gegenseitig. Nicht beschimpfen, sondern zuhören. Uns mögen, uns gern haben – und wirklich zuhören.
Man kann doch nicht gleich, wenn Ruth gerade einen Weg gefunden hat, sich völlig neu zu all dem zu stellen, von den Jungs reden. Man muss doch erst einmal ... staunen können, dankbar, was da gerade passiert ist... Wie sie etwas wollte – und wie sie es jetzt vielleicht sogar kann. Ist das nicht ein Wunder? So was sind auch heilige Momente. Es sind eigentlich ,weiße’ Momente. Aber das muss man dann auch ... heilig fühlen können... Sonst machen wir das Gleiche, was die Menschen mit dem Weiß machen, wenn sie Büros und noch Schlimmeres weiß streichen, ohne zu wissen, was sie tun ... oder dann tun sollten...“

Die Worte des Sonnenmädchens verklangen warm, und das Weiß breitete sich von neuem aus... Schließlich sagte Sandra:
„Vielleicht hast du Recht. Ja, ich geb’s ja zu, ich bin manchmal etwas plötzlich. Vielleicht ist das nicht immer richtig. Ich ... ich werde mir mehr Mühe geben. Du hast ganz gewiss Recht, Sonja. ... Tut mir leid...“ Sie sah nun auch Ruth an und wiederholte: „Tut mir leid...“
„Ist schon gut...“, sagte Ruth tief berührt.
Auch er hatte mit dieser Reaktion nicht gerechnet. Das Erstaunen trieb ihm fast einen Kloß in den Hals. Etwas war im Raum, was wirklich heilig war. Weiß wie Schnee...

Schließlich betrat das Sonnenmädchen selbst das zarte Weiß und sagte langsam:
„Ja, bei Jungs, wie ist das eigentlich da...?“
Sie sah erst ihn an und dann Liam.
„Wollt ihr etwas dazu sagen?“, fragte sie warm. „Das weiß ich nämlich auch nicht...“
Ihr unschuldiges Geständnis rührte ihn tief. Und doch wusste er nicht, was er je dazu sagen könnte – alles, was er sagen würde, würde gegenüber ihren Worten ein Nichts sein...
Hilflos sah er Liam an. Liam erwiderte seinen Blick lächelnd, fragend. Doch als er fast unmerklich den Kopf schüttelte, begann der Freund des Sonnenmädchens selbst.

„Bei Jungs...“, wiederholte er, dieser wunderbare, große, stille Junge, der ihr Freund war, auf seine ruhige Art. „Ich kann natürlich erstmal nur für mich sprechen. Wie ist es für mich...“
Er machte eine kleine Pause. Er schien überhaupt kein Problem damit zu haben, für solche Momente im Mittelpunkt zu stehen. Weder genoss er es, noch hatte er ein Problem damit. Auch er war ein Wunder – und passte so unendlich gut zu dem Sonnenmädchen. Ihr ruhiger Freund, der immer da war, immer mit dieser Ruhe...
„Für mich ist das Weiß auch eine heilige Farbe. Aber es passt zu den Mädchen. Zumindest ... wenn sie fühlen, was es für eine Farbe ist – und wenn sie sie selbst lieben lernen.
Und wir – wir Jungen? Wir sind nicht weiß. Wirklich nicht... Es ist was anderes als das, was Ruth gesagt hat. Ruth kann ,weiß’ werden, wenn sie es will, wenn sie es fühlt. Ein Junge kann das nicht. Er kann es vielleicht schon, aber er kann kein Weiß tragen. Es ist für die Mädchen...
Es ist, wie wenn... Vielleicht ist es so, dass, je weißer man auch als Junge wird, man immer mehr weiß, dass das Weiß die Farbe der Mädchen ist... Es ist ... wie wenn man sie ihnen gar nicht wegnehmen will. Wie wenn ... man gerade will, dass es auch ihre Farbe bleibt. Und das ist so, weil man weiß, dass sie dieses Weiß schöner und edler ... und heiliger tragen, als man es je könnte, als Junge... Es ist einfach die Farbe der Mädchen...“
„Aber –“, sagte Sandra, dann schwieg sie ganz plötzlich und sagte nur noch leise: „Sorry...“
Liam sah sie ruhig an und wartete.
Schließlich begann sie vorsichtig von neuem:
„Aber ... wieso dieser Unterschied? Das kommt mir vor wie so eine Geschlechter-Sache. Ich dachte, das hätten wir überwunden – oder würden es zumindest langsam tun. Für mich klingt das so wie: Frauen an den Herd. Es klingt zwar positiv, ,die Farbe der Mädchen’ – aber wieso? Ein Junge kann auch weiß werden, aber er kann kein Weiß tragen? Wo ist da die Logik?“

Liam lächelte ruhig. Dann erwiderte er:
„Frauen an den Herd? Nein, Sandra, so meinte ich es ganz bestimmt nicht. Ich glaube, die Männer würden um so weißer sein können, je mehr sie auch mal am Herd stehen würden. Aber, wenn wir jetzt schon ins Allgemeine gehen, auch ins Gesellschaftliche, dann ist es doch so, dass die Frauen zum Beispiel die Kinder kriegen und auch oft großziehen. Dass sie oft die Liebe geben, während die Väter die Strengen sind. Und zumindest die, die die männlichen Kinder dann in die Armee holen, um Kriege zu führen. Oder in die Manager-Etagen, um nach den Prinzipien Geld und Macht zu leben. Überall sehen wir, dass die Frauen mehr fühlen als die Männer. Du denkst, das ist eine Geschlechter-Sache, die man überwinden sollte? Und in welche Richtung dann? Ja, vielleicht sollten wir so weit kommen, dass auch die Jungs in einer fernen Zukunft einmal das Weiß so tragen können wie die Mädchen. Aber wann werden wir da sein? Jetzt sind wir es jedenfalls nicht. Solange Männer Kriege führen, denke ich, dass niemand dazu bestimmt ist, Weiß zu tragen, als nur die Frauen und Mädchen – die Frauen und Mädchen, die ein solches Herz haben, dass es dem Weiß würdig ist, weil es wirklich selbst weiß ist ... oder immer mehr wird...“
„Aber...“, erwiderte Sandra behutsam, „du führst doch zum Beispiel keine Kriege. Du bist doch ... fast mehr, in gewisser Weise, wie Sonja als zum Beispiel ich...“
„Das weiß ich nicht“, sagte Liam. „Im Moment vielleicht. Aber das heißt ja nicht, dass das so bleibt. Ein Junge kann nie so sehr wie Sonja werden wie ein Mädchen. Ich meine jetzt: weiß. Auch wenn das Herz eines Jungen ebenso weiß ist, ist er noch immer ein Junge. Ein Junge ist was anderes als ein Mädchen. Hast du eine Ahnung, warum sich Jungen in Mädchen verlieben? Genau aus dem Grund. Ich verliebe mich garantiert nicht in ein Mädchen, das den Geschlechterunterschied abschaffen will – dann wäre ja gerade das abgeschafft, in das man sich verliebt! Das Herz eines Mädchens ist immer weißer als das eines Jungen – jedenfalls das, in das man sich verliebt hat und das man immer lieben wird...“
Er sah, wie berührt das Sonnenmädchen geworden war – berührt und zuletzt verlegen...

Noch einmal machte Sandra nach einer deutlichen Pause einen Ansatz und sagte:
„Und ... denkst du nicht, dass viele Männer das aber auch ausnutzen und sagen: Ihr Frauen, seid mal schön weiß, damit wir euch lieben können, und wir machen weiter unsere Kriege und alles andere? Je mehr die Männer denken, dass nur die Frauen weiß sind, desto mehr fühlen sie sich ja auch ganz berechtigt, so weiterzumachen. Und du darfst auch nicht vergessen, dass ja sogar um Frauen Kriege geführt wurden und werden, im Großen wie im Kleinen.“
„Da hast du sicher Recht“, sagte Liam. „Ich sagte ja: Das ist keine Entschuldigung für nichts. Die Männer sollten genauso weiß werden wie die Frauen – die, die weiß sind. Es ist genau wie mit dem weißen Kleid. Die Männer sollten endlich fühlen, dass sie diese unglaublich weißen Frauen gar nicht verdienen, wenn sie nicht selbst so weiß werden, wie sie nur können. Und wie gesagt – es ist ja gerade, je weißer man selbst wird, dass man überhaupt erst merkt, wie weiß die Frauen sind und dass man so weiß überhaupt nie werden kann. Vielleicht in einer fernen Zukunft, aber nicht jetzt... Und noch einmal: das ist keine Entschuldigung, für nichts... Es ist nur eine Erkenntnis. Eine Erkenntnis, was ein Mädchen ist. Was eine Frau ist...“
Es entstand eine beeindruckende Pause. Er spürte Marlenes zarte Verlegenheit...

„Jetzt habe ich so viel gesagt...“, sagte Liam. Dann fragte er warm: „Wie ist es denn bei dir, Valentin?“
Bestürzt wünschte er sich nichts sehnlicher, als schweigen zu dürfen. Er spürte die ganze Befangenheit, vor allem vor den beiden Mädchen, die so unendlich weiß waren, aber auch vor den beiden anderen, und da wiederum, weil sie es noch nicht waren... Verlegen sagte er:
„Ich habe dem nicht das Geringste hinzuzufügen. Für mich ... ist es auch so.“
„Aber Jungen können genauso weiß sein wie Mädchen!“, wandte nun Marlene ein.
Tief berührt verstand er, was sie sagen wollte...
„Nein, Marlene“, widersprach er ihr. „Das Mädchen ist trotzdem immer weißer... Liam hat Recht. Gerade darin verliebt man sich... In das Weiße des Mädchens.“
„Und worin verliebt sich dann das Mädchen?“, fragte Marlene.
Er überlegte.
„Vielleicht in das“, sagte er dann zögernd, „was auch bei dem Jungen schon weiß ist... Vielleicht weil sie gar nicht dachte, dass es das bei Jungen auch geben könnte. Vielleicht verliebt sie sich schon in das, was auch nur ein bisschen weiß ist...“
„Nein, es ist ganz viel weiß!“, widersprach sie entschieden.
„Egal, wieviel“, sagte er, „bei manchen Mädchen ist alles weiß...“
Sandra musste lachen.
„Leute, wenn wir nicht aufpassen, werden wir noch einen Streit darüber führen...“
„Trotzdem hat Valentin Recht“, sagte Liam. „Ich sehe es ganz genauso. Wenn Mädchen sich in das Weiße bei Jungen verlieben, so ist es trotzdem so, dass bei den Jungen schon viel weniger ,viel’ ist, weil es bei den Jungen generell so schlecht aussieht mit dem Weiß... Ich meine, es gibt viele nette Jungs, aber wir wissen ja, worum es geht... Das Gefühl, das Fühlen, das ist doch bei den Jungen wirklich im Mangel. Es ist heute bei allen im Mangel. Aber die Mädchen und Frauen können es doch noch leichter wiederfinden, scheint mir, viel leichter, als die Männer. Die Männer können es nur von ihnen lernen... Ohne sie würde es völlig verlorengehen...“

„Heißt das“, fragte Sandra, „die ganze Emanzipation ist in eine falsche Richtung gegangen?“
„Es heißt“, sagte Liam, „dass wir das, um was es eigentlich geht, noch überhaupt nicht begriffen haben. Die Frauen haben sich gegen die Unterdrückung gewehrt. Sie haben es so weit gebracht, dass sie heute in ,Männerdomänen’ auftauchen können und ,ihren Mann stehen’ können. Aber ist das das Ziel? Dass die Frauen Männer werden? Die Frauen sollen nicht Männer werden, sondern die Unterdrückung soll aufhören! Wenn die Frauen wie Männer werden müssen, um sich zu befreien, läuft noch immer grundlegend was falsch. Ich wünsche mir ... sagen wir ... Krankenhäuser, in denen die Chefärztin – schon das Wort! – ist wie Sonja. In einem weißen Kleid geht sie durch die Klinik und ist gerade deshalb die leitende Ärztin, weil sie so sehr Frau ist wie niemand sonst... Niemand liebt die Patienten so sehr wie sie... Niemand kümmert sich so liebevoll um alle und alles wie sie... Das wäre eine Chefärztin. Eine Ärztin der Liebe... Und so müsste es überall sein. Die Liebe ... die Liebe der Frauen, dieses unglaublich Weiße, dieses unglaublich Schöne ... das müsste die Welt regieren. Und es würde gar nicht regieren wollen. Aber es müsste die ganze Welt durchziehen, durchdringen, wie ein Lied... Wie der Schnee, die zarten Schneeflocken, alles bedecken, alles unendlich sanft bedecken – und selbst auch weiß machen...“
Eine heilige Stille breitete sich aus, ein neues Weiß, nun durch die Worte von Liam, einem Jungen, aber er hatte von dem Weiß der Mädchen gesprochen...

Schließlich sagte Sandra nachdenklich:
„Und doch hat man immer wieder das Gefühl, man wäre rückständig, altmodisch, wenn man, na ja...“
Warm erwiderte Liam:
„Denkst du das bei Sonja denn auch?“
„Nein! Aber bei sich selbst...“
„Die Emanzipation“, sagte Liam, „hat eben ganze Arbeit geleistet. Aber nicht nur sie, sondern überhaupt die ganze männerdominierte Gesellschaft. Wir leben in einer Welt, die ganz auf den Egoismus aufbaut – und das heißt, auf das Männliche, jedenfalls nicht das Weibliche, und nicht auf das Herz. Das Herz, von dem gerade die Frauen so viel haben, weil sie das Gefühl haben. – Uns allen ist also erfolgreich eingetrichtert worden, dass das nicht sein darf. Dass auch die Frauen gerade dann ,modern’ sind, wenn sie das unterdrücken und bei einer Emanzipation mitmachen, in der sie viel männlicher werden, als sie eigentlich sind. Die ganze Emanzipation und auch die ganze übrige Entwicklung läuft hinaus auf eine Vernichtung des Weiblichen. Die Emanzipation macht bei der sonstigen Entwicklung einfach nur mit. Emanzipation bedeutet, dass die Frauen erfolgreich gesagt haben: Wir wollen mitmachen! Wir wollen auch wie Männer sein. – Ich finde, das ist eine Katastrophe! Wirklich eine Katastrophe! Das Gegenteil hätte passieren müssen. Die Frauen hätten darum kämpfen müssen, dass die Männer endlich auch so werden wie sie! Das wäre Emanzipation gewesen! Emanzipation von dem Irrsinn, der die Welt regiert. Die Männer sind besessen – sie sind besessen von etwas, was ihnen das Gefühl austreibt. Sie retten sich dann zu den Frauen, aber sie ändern sich nicht. Sie sind besessen, und niemand heilt sie. Die Frauen haben es nicht geschafft, stattdessen haben sie sich selbst angepasst. Wer rettet die Männer vor dem, was ihnen das Gefühl aussaugt? Das können nur die Frauen sein! Emanzipation muss bedeuten, dass die Frauen den Männern helfen, sich von dem zu befreien, was sie besitzt. Aber um das zu können, müssen sich die Frauen davon befreit halten. Sie müssen sich auf das besinnen, was sie sind. Sie sind Frauen! Sie allein können die Männer retten – aber dafür müssen sie zuerst sich retten...“

Alle schwiegen tief beeindruckt – wirklich alle.
Und so war es Liam selbst, der das Schweigen von neuem durchbrach und ergänzte:
„Es hätte einen Krieg geben müssen, einen Krieg der Liebe. Die Frauen hätten mit aller Liebe darum kämpfen müssen, dass die Männer von dem befreit werden, was sie völlig besessen macht – ich weiß nicht, was das ist, aber es besitzt jetzt fast die ganze Welt –, und sie hätten mit voller Verzweiflung kämpfen müssen. Es hat etwas von ,Herr der Ringe’. Diese radikale Situation: Gut gegen Böse. Die Gefährten gegen die unvorstellbare Macht des Bösen. Aber was kann dieses Böse besiegen? – Vielleicht ist es auch kein gutes Beispiel, denn da wird ja wirklich auch gekämpft. Aber das Böse heute sind nicht bestimmte Menschen oder Kreaturen, das Böse ist einfach der Mangel an Liebe. Es ist die Mauer um die Herzen. Da sitzt das Böse – in uns selbst. Die grauen Männer bei Momo. Da sitzt das Böse – in uns selbst. Einen Krieg der Liebe hätte es geben müssen. Dieser Krieg kennt nur eine einzige Waffe – und das ist die Liebe. Sonja führt diesen Krieg. Sie führt einen Krieg der Liebe. Er ist das Einzige, was unsere Welt erlösen kann. Er ist auch das Einzige, was die Frauen erlösen kann. Die Frauen sollten nicht Männer werden – sie sollten Kriegerinnen sein, Kriegerinnen in einem Krieg, der völlig anders ist als alles, was wir kennen. Brandpfeile! Brandpfeile der Liebe sollten die Frauen in die Herzen der Männer schicken – und in die Herzen der anderen Frauen, die sich selbst vergessen haben. Und das tut Sonja! Nichts anderes...!“

Wieder breitete sich eine heilige Stille aus – in der auch der Ernst eines dramatischen Kampfes lebte.
Verlegen sagte das Sonnenmädchen schließlich:
„Ich war erst erschrocken vor diesem Bild, vor diesen ganzen Worten... Aber ... vielleicht hast du auch Recht, Liam. Vielleicht ist es ... ein Krieg. Ich erschrecke schon vor dem Wort. Aber ich rede ja selbst von einer Mauer. Wie kann man eine Mauer ... überwinden? Ich möchte sie ja gar nicht durchbrechen, ich möchte sie eigentlich auflösen... Aber vielleicht löst sie sich nur dann auf, selber, wenn sie durchbrochen wird... Ja – ich möchte Brandpfeile der Liebe in die Herzen schicken. Und sie sollen nicht zerstören, sie sollen retten... Sie sollen vor dem Eis retten, was von den Mauern in die Herzen eindringt... Es ist wie ein Krieg gegen einen unbekannten Gegner. Wenn man ihn kennen würde, könnte man zu ihm gehen und ihn bitten, auch mit Liebe... Es ist ein Krieg gegen alle Irrtümer, die unsere Welt regieren und alles bestimmen. Es ist ein Krieg gegen den Mangel an Liebe, ja, genau. Und es ist kein Krieg, weil einfach die Liebe gebracht wird. Weil die Herzen daran erinnert werden. Einen Mangel muss man auffüllen – und die Quellen öffnen, durch deren Verstopfung der Mangel entstanden ist. Das ist kein Krieg, es sieht nur so aus, weil es so schwierig ist.“
„Es ist ein Krieg der Liebe“, beharrte Liam. „Denn immer wieder musst du dich gegen das wehren, was sich gegen dich zur Wehr setzt. Was immer und immer wieder Einwände findet. Oder dich nicht versteht – oder es noch einmal bewiesen haben will, und so weiter, und so weiter. Du musst so unglaublich kämpfen, weil du so unglaublich bekämpft wirst, und man merkt es noch nicht einmal... Es ist ein Krieg – ein Krieg, in dem du fast ganz allein kämpfst. Aber es soll nicht so bleiben, Sonja...“
„Nein, das soll es nicht“, sagte er.
„Nein“, sagte nun auch Marlene, danach Ruth.
„Ich will das auch nicht“, sagte Sandra. „Aber bitte hilf mir noch einmal, Sonja. Was kann ich tun? Ich bin so erzogen, ich habe mich selbst so erzogen, ich bin von anderen Freunden umgeben, die so erzogen wurden und sich selbst so erzogen haben. Ich kann nicht auf einmal ein weißes Kleid tragen und das auch so meinen. Ich kann meine Rolle überhaupt nicht verlassen. Es fühlt sich so an, als ob ich alles verlieren würde, was ich bin – mich selbst. Ich bin kein weißes Kleidermädchen. Ich bin eine Frau, die immer den Gedanken der Emanzipation vertreten hat. Ich habe mich nie wie ein Mädchen benommen. Ich habe meinen Eltern so früh wie möglich gezeigt, wo es langgeht. Und ich wäre allergisch, wenn ... na ja, wenn ein Junge in mir so ein Mädchen sehen wollen würde.“

Das Sonnenmädchen sah seine Freundin voller Wärme an. Dann sagte es:
„Du kannst doch immer so bleiben, wie du bist, Sandra... Wichtig ist doch nur, dass wir fühlen, in was für einer Welt wir leben möchten...“
„Aber nach dem, was Liam gesagt hat, fühle ich mich fast nicht mehr wie eine Frau...“
„Das wollte ich nicht“, sagte Liam. „Natürlich darf es auch Frauen geben, die die Unterschiede zwischen Mann und Frau überwinden wollen – weil sie in gewisser Weise kein Mädchen sein wollen. Wichtig ist, was Sonja sagte. Worauf kommt es eigentlich an? Das ist die Liebe, das Gefühl. Ich erlebe das am stärksten an jemandem wie Sonja – und darin sind wir uns wahrscheinlich sogar ganz und gar einig. Aber natürlich darf jeder bleiben, wie er ist – wenn er nur als der, der er ist, wieder zu seinem Herzen finden kann... Aber ohne Menschen wie Sonja geschieht das nicht. Ich weiß nicht, wie ich sagen soll. Es braucht jemanden wie Sonja, der ohne alle Emanzipation und so etwas einfach nur vollkommen weiß ist, ganz und gar Mädchen – und an ihr können dann alle Menschen wieder zu ihrem Herzen finden, jeder zu seinem...“
„Das beruhigt mich“, sagte Sandra, „dass ich ... so bleiben kann, wie ich bin, und das nicht falsch ist. Und doch gestehe ich, dass es, wie bei Ruth vorhin, auch in mir einen winzigen Zipfel gibt, der vielleicht anders sein wollen würde. Ich muss darüber, glaube ich, noch viel nachdenken. Das ist interessant, unglaublich interessant. Diese verschiedenen Seiten in einem. Wer weiß!“, sie lachte, „vielleicht entdecke ich auch in mir noch das weiße Kleid, das kleine Mädchen.“
Sie sah das Sonnenmädchen an.
„Ich meinte nicht dich, Sonja! Ich hoffe, du hast das nicht gedacht. Ich meinte ein kleines Mädchen in mir. Mir scheint, der Mensch hat wirklich alle Seiten in sich. Irgendwie finde ich es toll, dass wir darüber gesprochen haben. Und ich bin echt dankbar“, sie sah ihn an, „dass du mir das vorhin gesagt hast. Ich meine, es war in dem Moment echt heftig. Aber es war glaube ich sehr wichtig... Danke...“
Völlig überrascht nahm er ihren Dank entgegen...
„Bitte, Sandra...“, brachte er hervor.
Sie lächelte.

Das Sonnenmädchen hatte plötzlich Tränen in den Augen.
„Was ist, Sonja?“, fragte Marlene bestürzt.
Sie aber antwortete:
„Es – es – ist ... so ein schöner Moment... Ihr wisst gar nicht, wie glücklich ich bin! Wie berührt...“
Sie nahm ihre Hände vor das Gesicht und weinte still, und Liam legte still seinen Arm um sie. Zwei weiße Herzen inmitten ihrer Freunde, die ebenfalls auf dem Weg waren...

...

Das Sonnenmädchen und der Moderator


„Aber LeFloid möchte, genau wie Sie, eine Welt, in der das alles anders läuft als jetzt. Er kritisiert, er prangert an, er macht aufmerksam, weckt Bewusstsein. Das hat doch mit dem Herzen zu tun? Man merkt doch, dass auch ihn etwas dazu bewegt?“
„Ja ... das ist natürlich so. Er würde das nicht machen, wenn er es nicht auch schlimm fände, was passiert. Aber ... die Frage ist: Was kann man tun? Wenn ich ... wenn ich ehrlich sein darf, dann... Mir kommt es leider so vor, als ob er, obwohl er das Gute will, gerade das Falsche tut ... und anrichtet. Man verliert sein Herz gerade, wenn man so etwas guckt. Es ist dieses ,Coole’, dieses Mit-dem-Finger-auf-etwas-Zeigen. Er sagt ja die Wahrheit. Aber er sagt sie nicht ... wie sie gesagt werden müsste.
Was nützt es, wenn man alles weiß – weiß, wie schlimm alles ist, und man weiß es besser, und man zeigt mit dem Finger darauf, und man hat ,die Bösen’ ausfindig gemacht ... und kennt immer noch nicht die Stimme des Herzens? Wir sollen nicht wissen, was schlimm ist, wir sollen lernen ... in unserem Herzen zu wohnen. Hat man ein Herz? Woher weiß man das? Und wenn man es weiß – ist es dann auch wirklich da?
Ja, es ist ein bisschen Herz, gegen dies und das zu sein und dies und jenes nicht gut zu finden und selbst nicht zu tun. Aber das reicht nicht! Das reicht wirklich nicht. Wenn es reichen würde – dann wäre die Welt ja nicht so. Aber sie ist so! Wir wissen noch überhaupt nicht, was das Herz eigentlich ist! Denn wir wohnen noch nicht in ihm, und wir hören noch nicht wirklich seine Stimme.
Wenn wir ein Herz haben – dann müssen wir auch mit dem Herzen fühlen. Wir müssen mit dem ganzen Herzen sprechen. Und wir müssen nur mit dem Herzen handeln.
Sie haben vorhin den Kleinen Prinzen erwähnt. Ich liebe ihn, und ich liebe Antoine de Saint-Exupéry. Er hat auch einmal gesagt: ,Wenn du ein Schiff bauen willst, beginne nicht damit, Holz zu sammeln, die Planken zu schneiden und Arbeit zu verteilen, sondern wecke im Herzen der Menschen die Sehnsucht nach dem großen, weiten Meer.’ – Darum geht es. Tut LeFloid das? Ich fühle es nicht. Aber ich versuche es... Das ist mein einziges, großes Anliegen...“

Er war wieder tief berührt. Er spürte, dass auch seine Eltern gleichsam atemlos zuhörten, ebenfalls berührt...

„Nach was genau wollen Sie dann eine Sehnsucht erwecken?“
„Nach dem Herzen selbst. Die Sehnsucht ist eigentlich schon da. Denn das Herz ist die Sehnsucht. Im Herzen lebt alle Sehnsucht, die wir nur haben können – die Sehnsucht nach einer Welt, die ganz aus dem Herzen kommt; nach einer Welt, in der nichts anderes lebt, als das, was auch im Herzen lebt.
Wir haben diese Sehnsucht alle. Sie lebt in unserem Herzen, und unser Herz ist das. Ich will eigentlich nur ... ich will eigentlich nur, dass jeder Mensch das wieder merkt...“
„Das klingt nach einer sehr einfachen Botschaft: ,Hört auf euer Herz – und alles wird gut.’ Ist die Welt so einfach?“

Er hätte den Moderator würgen können. Was sollte dieses sinnlose Nachfragen – dieses Immer-wieder-Kaputtmachen von dem, was sie gerade gesagt hatte? Warum machte man so etwas?

„Nein, die Welt nicht – aber das Herz. Die Welt ist gerade deshalb nicht so einfach, weil sie nicht auf das Herz hört. Weil sie sogar fast vergessen hat, dass es dieses Herz gibt. Aber es hat niemand vergessen, jeder weiß das eigentlich. Und, ja – wenn wir wirklich auf unser Herz hören würden, dann würde alles gut werden. Wie können Sie daran zweifeln?“
„Ich habe nur nachgefragt. Die Welt ist ja sehr komplex. Man steht in Sachzwängen, man ist eingebunden in verschiedenste Strukturen. Denken Sie einmal an schwierige Verhandlungen zwischen Staaten. Denken Sie an den Konflikt in der Ukraine. Oder an die USA und Russland, oder China. Oder Israel und Palästina...“
„Es ist überall dasselbe. Sehen Sie da irgendwo das Herz? Nein, es ist nicht da. Wie würde dieselbe Situation aussehen, wenn es da wäre? Sie wäre völlig anders. Ich glaube, es gäbe keine Situation, die dann nicht lösbar wäre. Und das Herz würde sofort wissen, wie man sie lösen könnte.“
„Sie meinen, das Herz wüsste sofort eine Lösung für einen Konflikt, der eine ganze Region seit Jahrzehnten in ein Pulverfass verwandelt?“
„Ja – sofort.“
„Wie würde das Herz denn mit den religiösen Konflikten umgehen, die jede Verständigung schon im Ansatz zu verhindern scheinen oder zumindest immer wieder neu torpedieren?“
„Ich sage noch einmal: Diese Konflikte wären gar nicht da, wenn das Herz sprechen dürfte.“
„Meinen Sie damit, Religion hat nichts mit dem Herzen zu tun?“
„Doch, aber nicht mit dem Herzen, das ich meine. Ich meine das ganze, das eigentliche Herz. Nicht nur das normale Herz, das diese oder jene Religion hat ... und dann schon den anderen Menschen nicht mehr versteht. Ich meine das Herz, das unmittelbar weiß und fühlt, dass es niemanden hassen darf und auch niemals hassen muss, es braucht das einfach nicht und will es auch niemals. Wie soll dann je ein Konflikt entstehen? Er entsteht einfach nicht, weil niemand etwas tut, was gegen einen anderen gerichtet wäre.“
„Aber wenn jemand mir nun, sagen wir, etwas wegnimmt –“
„Das würde er ja gar nicht tun...“
„Gut, dann sagen wir, dass zwei Seiten Anspruch auf dieselbe Sache erheben...“
„Sie könnten teilen...“
„Aber wenn es für beide nicht reicht?“
„Es reicht immer...“
„Das sagen Sie so.“
„Nein, ich weiß es.“
„Manches kann man auch nicht teilen.“
„Dann würde man eine andere Lösung finden. Es gibt auch immer eine Lösung.“
„Wie können Sie da so sicher sein? Vielleicht brauchen beide Seiten dasselbe unbedingt.“
„So unbedingt kann es niemals sein. Nur der Frieden ist unbedingt. Wenn das Herz sprechen würde, dann würden beide Seiten lieber verzichten, als dem Anderen etwas anzutun. Verstehen Sie? Beide Seiten!“
„Und dann vielleicht zugrunde gehen?“
„Ja. Ich glaube nicht, dass so eine Situation überhaupt vorkommen kann. Aber, ja. Wenn ich auf einem Boot wäre, und das Wasser würde nicht mehr für mich und meinen Mitmenschen reichen – ich würde verzichten... Und wissen Sie, warum? Weil mein Herz mir das sagt. Das Herz kennt nur eine Sprache...“

Sein eigenes Herz tat weh vor Liebe... Es war das Herz selbst, das erkannte, was da war, was da sprach...

„Wie würden Sie den Nahost-Konflikt lösen? Wir erinnern uns: Israel wurde als neuer Staat 1948 mit Mandat der Vereinten Nationen gegründet; als neuer Staat, das Land gehörte nun den Juden. Daran schlossen sich all die wechselseitigen Konflikte an, die immer wieder eskalierten und nie zur Ruhe kamen. – Hätten die Juden auf einen eigenen Staat verzichten sollen?“
„Man kann an jedem Punkt eines Streites einfach aufhören – einfach und sofort. Das Herz würde einem das sofort sagen. Es sind andere Stimmen, die einem sagen: Mach weiter, du bist gerade im Unrecht, jetzt musst du mindestens noch einmal austeilen. Das Herz spricht so nicht. Es sagt: Hör auf, jetzt sofort... – Jeder kann aufhören. Zu einem Streit gehören immer mindestens zwei. Jeder Einzelne kann aufhören. Aber wenn das Herz sprechen würde, dann würden alle aufhören wollen, alle gleichzeitig. Ich sage doch: Es könnte überhaupt nicht zu einem Streit kommen! Er würde sofort aufhören, von einer Sekunde zur anderen.“
„Aber nehmen wir einmal an, der Eine hört auf – und der Andere will weitermachen und, sagen wir, erobert auf einmal das ganze Land, denn der Eine wehrt sich ja nicht mehr.“
„Wehren darf man sich ja...“
„Aber dann geht es ja doch immer weiter, es sei denn, es hören wirklich alle auf.“
„Nein, es kommt darauf an, wie man sich wehrt. Obwohl man sich wehrt, kann man versuchen, den Anderen auch an sein Herz zu erinnern. Man kann versuchen, Lösungen zu finden, während man sich wehrt.“

„Denken Sie, dass das bei so einem Menschen wie Hitler geholfen hätte?“
„Das weiß ich nicht. Es gibt Menschen, die verrückt sind. Ihr Herz kann man nicht erreichen, weil sie die Sprache überhaupt nicht mehr verstehen können.“
„Was kann man dann tun? Was sagt das Herz zu den Menschen, die versucht haben, Hitler zu töten?“
„Da kommt das Herz an seine Grenzen... Es kann nicht töten, aber es kann auch nicht zusehen, wie getötet wird. Es hätte gar nicht so weit kommen dürfen. Hitler hätte nie an die Macht kommen dürfen. Die Herzen haben vorher schon zu wenig gesprochen...“
„Aber was macht das Herz dann in so einer Zwangslage? Hitler ist an der Macht. Er führt Krieg. Die Juden werden zu Millionen getötet...“
„Ja... Das Herz würde einem dann sagen: Es gibt keinen anderen Weg... Die Indianer haben, bevor sie ein Tier töteten, den Großen Geist um Erlaubnis gebeten. Sie wollten nicht töten, aber sie mussten. Ich glaube, das ist so ähnlich...“
„Glauben Sie selbst an Gott? Was ist Ihre Religion?“

Er konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, was für Fragen ein Moderator einfach so stellen durfte – bloß weil er Moderator war. Warum musste man all diese Fragen einfach so zulassen!?

„Ich ... weiß es ehrlich gesagt nicht ganz – weil ich nicht genau weiß, was alles dazu gehört, damit andere Menschen sagen würden: ,Ah ja, dann glaubst du an Gott’. Für mich ist schon das Wort ,Gott’ zu fest. Ich weiß nicht, was ich mir darunter vorstellen soll. Ich weiß zu wenig über Gott, um an dies oder jenes glauben zu können und dann sagen zu können: Ja, ich glaube an ,Gott’. Wer ist Gott? Wissen Sie das? Und wenn Sie es nicht wissen – wie können Sie dann sagen, ,ich glaube an Gott’? Für mich ist das alles ein Rätsel. Es gibt so viele Rätsel! Das Herz ist für mich ein unerklärliches Wunder. Die Liebe, die es empfindet. Woher kommt das? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es ein Wunder ist. Und ich weiß, dass es noch viel mehr gibt. Aber an all das brauche ich ja nicht zu glauben, denn das erlebe ich ja. Die Liebe hat einen Ursprung... Aber wie kommt sie von diesem Ursprung in das Herz? Und ist dieser Ursprung dann ,Gott’? Vielleicht gibt es mehr als ein Wesen...“
„Würden Sie auch sagen, dass alle Religionen eigentlich an denselben Gott glauben?“
„Ich kenne mich mit den Religionen nicht aus, aber wahrscheinlich ist das so...“
„Und die Kämpfe sind dann darauf zurückzuführen, dass man sich das gegenseitig abstreitet oder aber abstreitet, dass der Andere ,richtig’ glaubt?“
„Ja – aber ich kann das alles nicht beurteilen, es ist nicht meine Welt, ich verstehe es auch nicht...“
„Fürchten Sie nicht, dass religiöse Menschen sagen: Sie hat ja keine Ahnung – und sie versteht einfach nicht, dass wir Recht haben und die Anderen Unrecht.“
„Wenn ich ein Video mache und zu sprechen beginne, denke ich an das alles nicht. Aber generell fürchte ich nur eines: Dass die Menschen nicht spüren, was ich meine und was jeder bei sich finden kann. Kein Mensch hat Recht – und um das Rechthaben geht es auch gar nicht. Man hat erst dann ,Recht’, wenn man sein Herz gefunden hat, wirklich die Stimme des Herzens. Aber dann braucht man gar nicht mehr Recht haben, verstehen Sie? Die Liebe sagt nie: Ich habe Recht und der Andere nicht. Sie will einfach, dass der Andere sie ebenfalls findet...“

„Könnte das nicht eine neue Art der Bekehrung werden? Ich meine, im negativen Sinne?“
„Wie meinen Sie das?“
„Dass man sagt: Du sollst lieben, und ich zeige dir, wie es geht. Ich bringe dir die Stimme des Herzens...“

Er hätte in den Fernseher springen mögen, um den Mann durchzuschütteln. Wie konnte man so sein...

„Ich verstehe es noch immer nicht ganz. Das Herz kann und will niemanden zwingen. Was meinen Sie genau?“
„Nun ja, es gibt zum Beispiel diese Erweckungsbewegungen, oder andere Sekten. Auch sie wollen niemanden zwingen. Aber zwischen Zwingen und Überreden und Bekehrenwollen und Überall-Verkünden ist ja manchmal ein sehr schmaler Übergang. Was machen Sie zum Beispiel mit Leuten, die Ihnen einfach nicht zuhören wollen?“
„Ich kann nichts machen – was soll ich machen? Meine Videos kann man entweder ansehen oder nicht ansehen. Mit dieser Sendung ist es ja auch so...“
„Aber Sie wollen ja die Menschen zu etwas bringen...“
„Ja, zu ihrem eigenen Herzen...“
„Liegt darin nicht auch eine Gefahr? Zu sagen: Ich weiß, was Ihr Herz ist, wie Sie es finden. Es ist der einzige Weg zum – ja, zum Heil...“
„Darin läge nur eine Gefahr, wenn es nicht so wäre. Es ist aber so. Wir müssen unser Herz finden – und wir wissen auch, wo es ist. Es besteht gerade deshalb keine Gefahr, weil im Grunde jeder weiß, wovon ich rede. Es ist die Wahrheit.“
„Aber wenn man nun zum Beispiel trotzdem nicht dorthin wollen würde?“
„Ich kann nur versuchen, die Sehnsucht zu wecken und die Herzen zu erinnern. Mehr kann ich nicht tun...“

...