Der Michaels-Gedanke: Das Fest des Werdenden

aus Emil Bock: Der Kreis der Jahresfeste. Urachhaus, 1978.


Das Michaelische, das wir ja ganz neu finden und fühlen lernen müssen, liegt niemals im Gewordenen und Fertigen; es liegt stets im Werdenden, in dem, worum noch gerungen werden muß, über dem aber doch der Stern einer erstrebten Vollkommenheit leuchtet.

Es ist gar nicht so leicht, wie es sich wohl manche vorstellen, sich heute ein Bild von Michael, dem Erzengel, zu machen. Die Bilder aus früheren Jahrhunderten treffen ja alle nicht mehr zu. Wir dürfen uns durch die alten Michaelsbilder nicht mehr festlegen lassen, sondern müssen lernen, den Erzengel da zu finden, wo er heute steht, nachdem er alle seine früheren Schauplätze und Wirkensbestrebungen hinter sich gelassen hat. Das Michaelische will heute eigentlich mehr wie ein Wind empfunden werden, der durch die Welt geht; wie eine große Stimmung, die sich der Herzen bemächtigen möchte, ja vielleicht nicht bloß wie ein Wind, sondern wie ein Sturm, vor dem man sich nur nicht fürchten darf. Sich ein fertiges menschenähnliches Bild von ihm zu machen, lenkt nur allzu leicht von dem Elementarischen, Sphärischen, alles Durchdringenden des michaelischen Wirkens ab.

Wie spricht denn Michael heute? Er spricht nicht mit Worten. Seine Sprache ist sozusagen eine solche mit verschlossenen Lippen. Sie ist eine Sprache der Ausstrahlung, der Atmosphäre, der Willens-Gesinnung. Wir müssen heute insbesondere auch verstehen, daß er, obwohl er der Erzengel der Sonne ist, nicht durch den Frühling und den Sommer, sondern durch den Herbst spricht. Er spricht eben nicht durch das aufsteigende Leben der Natur, er spricht nicht aus dem, was irgendwie von außen dem Menschen geschenkt werden kann, er spricht ernst; er spricht so, daß er den Menschen immer etwas Großes zutraut. Er will nicht die Menschen als bloße Empfänger, die immer nur entgegennehmen wollen. Über solche sieht er großzügig hinweg. Er sucht diejenigen, die selber das bewirken wollen, was sie sich in der Welt und für die Welt wünschen.

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Michael will uns nichts schenken; er will uns auch nicht Schweres ersparen. [...] Alles, was nur von außen kommt, die Wohltaten der Sommernatur und des Wohlstandes, das sind nur allzu leicht Hindernisse für die Absichten Michaels, falls nämlich der Mensch nicht den rechten Gebrauch davon macht, wenn er nicht in allem und jedem den Schwerpunkt des Menschendaseins nach innen verlegt. Im Sommer wird heute in der Welt herumgereist, wie es in der Weltgeschichte niemals, nicht einmal in der Völkerwanderungszeit, der Fall gewesen ist. Man meint, sich auf diese Weise zu erholen. Aber man wird in der Zukunft immer mehr darauf kommen, daß auch die schönste Natur nicht mehr die erhoffte Wiederherstellung der Kräfte geben kann. Nur durch eine innere Erholung, durch innere Regsamkeit und Arbeit werden die verbrauchten Lebenskräfte erfrischt und erneuert. Auf diese Weise geschieht eine Verlegung der Sommerlandschaft in das Innere der Seele, mögen dann auch Stürme tosen und endlose Regengüsse niederrauschen. Die innere Sommerlandschaft, die durch die Wärme treuer innerer Übung entsteht, wird dem Menschen Erholung spenden.

Der Blick Michaels geht immer in die Zukunft. [...] Er sieht das Mysterium von Golgatha nicht, indem er sich umkehrt und in die Geschichte zurückschaut; er sieht es als etwas Gegenwärtiges und Zukünftiges. Deshalb spricht er, daß er uns zu einem neuen, höheren Ahnen und Verstehen der Lebenstodestat auf Golgatha führen will, die fortwirkend Leben und Licht spendet. Das Ereignis von Golgatha ist für Michael in erster Linie ein Schlüssel für alle Türen und Tore der Zukunft. Er will, daß es ein Erkenntnisprinzip sei: jeder recht gestorbene Tod bringt wirklich die Menschheit vorwärts, jedes innerlich erfüllte Leiden trägt Früchte, und so erblüht fortwährend Leben aus dem Tode. Also: Golgatha nicht als Vergangenheitsinhalt, sondern als Lebensprinzip, als Zukunftsschlüssel, als innere Orientierung für die Haltung der Menschen - das ist das stumm ausgesprochene Wort Michaels, es ist der Inhalt seines stummen und doch lautvernehmbaren Rufes an unsere Zeit.

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Heute sind wir seit etwas mehr als einem halben Jahrhundert wieder in ein Michaelzeitalter eingetreten. Und so wie damals die großen, gigantischen Machtblöcke entstanden, etwa des Assyrerreiches und anschließend des neubabylonischen Reiches, in dessen Namen Nebukadnezar Juda zertrümmerte und den Rest des israelitischen Volkes in die Gefangenschaft führte, so haben wir auch heute die großen Machtblöcke, nun in Ost und West aufgeteilt. Europa geht politisch unter. Politisch ist es nicht mehr zu einem Machtfaktor zu machen, wenn es nicht seine geistige Aufgabe ergreift. Wenn ein Michaelzeitalter kommt, sind immer die völkischen Gebundenheiten überholt. Das nationale Element, das die Menschen sich nicht erwerben, sondern einfach durch gemeinsame Abstammung haben, tritt in den Hintergrund, und es muß Menschheit werden. Das war damals so und ist heute wieder so. Die nationalen Ambitionen und Machtbestrebungen können nicht mehr segensreich sein, da sie nichts sind als ein Zurückgreifen auf Vergangenheitsverhältnisse. In einem Michaelzeitalter sind die bloß geschenkten Güter der Vergangenheit überholt und nicht mehr zeitgemäß. Dafür aber kann nun das menschheitliche Wehen des michaelischen Windes, das menschheitliche Brausen des michaelischen Sturmes durch die Welt gehen; ein neues Geistelement kann empfunden werden, zunächst noch wie eine sich ankündigende, dann aber wie eine immer deutlichere Atmosphäre um uns herum, die allerdings keine Bequemlichkeit bietet, sondern den Menschen im innersten Wesenskern anspricht. [...]