Michaeli

Der Liberale

Aus: Michail Saltykow-Schtschedrin: Die Tugenden und die Laster. Insel-Verlag 1966.

Ein wunderbares Gleichnis über die Notwendigkeit von klarer Geist-Erkenntnis und von wirklichem Mut, wahre Ideale mit realer Kraft zu erfüllen...


Irgendwo in einem Lande lebte einst ein Liberaler, der war so freimütig und offenherzig – kaum daß einer den Mund auftat, da rief er schon aus vollem Halse: „Aber Herrschaften, Herrschaften! Was machen Sie da! Sie stürzen sich ja selbst ins Unglück!“ Und niemand war ihm deshalb böse, nein, alle sagten: „Mag er uns nur immer warnen – es ist zu unserem Besten!“

„Drei Faktoren“, so meinte er, „müssen das Fundament alles öffentlichen Lebens bilden: Freiheit, Sicherheit und Selbsttätigkeit. Ist die Gesellschaft der Freiheit bar, so bedeutet dies, daß sie ohne Ideale lebt, ohne die Flamme der Idee; damit fehlt ihr aber die Voraussetzung, zu schaffen und zuversichtlich ins Morgen zu blicken. Empfindet die Gesellschaft sich selbst als ungesichert, so drückt ihr dies den Stempel der Niedergeschlagenheit auf und macht sie gleichgültig gegenüber dem eigenen Schicksal. Gebricht es der Gesellschaft schließlich an Selbsttätigkeit, so wird sie unfähig, Schmied ihres Glückes zu sein, und verliert am Ende die Vorstellung vom Vaterland.“

So also dachte der Liberale, und – was wahr ist, muß wahr bleibe – er dachte richtig. Er bemerkte, daß rings die Menschen wie vergiftete Fliegen einherschwankten, und sprach bei sich: „Es kommt daher, daß sie sich selbst nicht als Schmied ihres Glückes fühlen. Das sind Sträflinge, die Freud und Leid ohne jede Voraussicht an sich herankommen lassen, ihren Eindrücken nicht rückhaltlos vertrauen können, im Zweifel, ob sie es mit wirklichen Eindrücken oder nur mit Einbildungen zu tun haben.“ Kurz gesagt, der Liberale war fest davon überzeugt, daß nur die obengenannten drei Faktoren imstande wären, die Grundfesten der Gesellschaft abzugeben und alle übrigen Segensgüter zu verbürgen, die das Gemeinwesen zu seiner Entwicklung nun einmal nötig habe.

Damit nicht genug: der Liberale dachte nicht nur edel, es drängte ihn auch, edle Taten zu vollbringen. Sein herzinnigster Wunsch war es, der Lichtstrahl, der sein Denken erhellte, möchte auch die ihn umgebende Finsternis zerschneiden, sie erleuchten und alle Kreatur mit Wohlwollen erquicken. Alle Menschen nannte er Brüder, alle rief er gleichermaßen auf, sich im Schutze seiner geliebten Ideale zu erfrischen.

Wenngleich dieses Streben, die Ideale von den Himmelshöhen auf den Boden der Praxis herunterzuholen, ein klein wenig anrüchig schien, war doch der Liberale andererseits so aufrichtig begeistert, zugleich so lieb und freundlich zu allen, daß man ihm selbst seine Anrüchigkeit gern verzieh. Er verstand es, lächelnd die Wahrheit zu sagen, gegebenenfalls den Biedermann zu spielen und im Glanze seiner Uneigennützigkeit zu strahlen. Vor allem aber setzte er niemandem gleich die Pistole auf die Brust, sondern verlangte alles nur nach Möglichkeit.

Natürlich war dem Liberalen bei seinem Eifer der Ausdruck „nach Möglichkeit“ nicht gerade schmackhaft, aber er hatte sich mit ihm abgefunden, erstens um des öffentlichen Nutzens willen, der ihm über alles ging, und zweitens, um seine Ideale vor sinnlosem und vorzeitigem Scheitern zu bewahren. Außerdem gab er sich keinen Illusionen hin – die ihn beseelenden Ideale trugen einen viel zu allgemeinen Charakter, um unmittelbar auf das Leben einwirken zu können. Denn was ist die Freiheit? was die Sicherheit? was schließlich die Selbsttätigkeit? All das sind abstrakte Termini, die man zum Zwecke des gesellschaftlichen Gedeihens mit konkretem, greifbarem Inhalt erfüllen muß. In ihrer Gesamtheit vermögen diese Termini die Gesellschaft zu erziehen, sie in ihrem Glauben und Hoffen zu stärken, aber einen handgreiflichen Nutzen, der das unmittelbare Gefühl der Zufriedenheit auslöst, vermögen nicht zu bieten. Um diesen Nutzeffekt zu erzielen, das Ideal allgemein zugänglich zu machen, muß man es in kleine Münze umwechseln und in dieser Form auf die Heilung der Krankheiten anwenden, die die Menschheit bedrücken. Und hier, bei der Umwechselung in kleine Münze, ergibt sich von allein jener Ausdruck „nach Möglichkeit“, von den beiden miteinander in Konflikt geratenden Seiten die einen veranlaßt, sich in gewissem Grade ihrer Exklusivität zu begeben, die andere aber, in erheblichem Grade ihre Forderungen zu reduzieren.

Unser Liberaler hatte das wohl begriffen und sich unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte zum Kampf mit Wirklichkeit gerüstet. Selbstverständlich wandte er sich zunächst an die Experten.

„Die Freiheit – daran ist doch nichts Anstößiges?“ fragte er sie.

„Wie sollte so etwas anstößig sein? Nein, durch und durch lobenswert, antworteten die Experten. „Es ist doch nur Verleumdung, wenn man uns in die Schuhe schiebt, die Freiheit nicht zu wünschen: in Wirklichkeit liegt uns nichts mehr am Herzen als sie... Aber, natürlich, in Grenzen.“ „Aha... ‚in Grenzen’... ich verstehe! Und was sagen Sie in bezug auf die Sicherheit?“

„Ausgezeichnet, auch das! Aber, natürlich, ebenfalls in Grenzen.“

„Und wie stehen Sie zu meinem Ideal der gesellschaftlichen Selbsttätigkeit?“

„Das ist gerade, was uns fehlt. Aber, natürlich, auch das in Grenzen.“

Also gut! In Grenzen! Der Liberale wußte ohnehin, daß es anders nicht ging. Laßt dem Rappen die Zügel schießen, dann wird er augenblicklich Dinge anstellen, die man in Jahren nicht wieder gutmachen kann! Aber mit Zügeln – famos! Dann läuft der Rappe Trab, und schaut er sich um, – „ei, so werde ich dir eins mit der Knute geben ... siehst du wohl!“

Nun begann also der Liberale, „in Grenzen“ zu Werke zu gehen: hier etwas abgezupft, da ein bißchen abgeschnitten, dort schließlich sich taub gestellt. Und die Experten schauten zu und hatten ihre helle Freude an ihm. Ein Weilchen ließen sie sich von seiner Arbeit so mitreißen, daß man hätte meinen können, sie seien selber Liberale geworden. „Nur weiter so!“ spornten sie ihn an, „hier umgangen, da vertuscht und dort schließlich gar nicht angerührt. Und alles wird gut. Lieber Freund, wir würden dich Bock mit Freuden zum Gärtner machen, aber du siehst ja selbst den hohen Zaun um den Garten!“

„Ich seh schon, ja, ich seh’s“  stimmte der Liberale zu. „Ich schäme mich nur so, meine Ideale zu verschandeln! Ich schäme mich so sehr, ach, wie ich mich schäme!“

„Nun, so schäme dich ein bißchen: Scham beißt nicht die Augen aus! Dafür wirst du nach Möglichkeit dennoch deine Pläne verwirklichen.“

Je weiter aber die liberalen Pläne nach Möglichkeit verwirklicht wurden, desto deutlicher erkannten die Experten, daß des Liberalen Ideale auch in dieser Gestalt nicht nach Rosenöl dufteten. Einerseits waren sie zu weitläufig angelegt, andererseits war die Zeit noch nicht reif für sie. „Deine Ideale übersteigen unsere Kräfte!“ sagten die Eperten zu den Liberalen. „Wir sind noch nicht bereit zu ihrer Aufnahme, wir ertragen sie nicht!“

Und sie beschrieben ihre eigene Unzulänglichkeit und Niedertracht so ausführlich und genau, daß der Liberale, so bitter es ihn ankam, doch zugeben mußte, ihm sei tatsächlich ein fatales Versehen unterlaufen: die Hosen paßten nicht – punktum.

„Ach, wie ist das traurig!“ murrte er wider sein Geschick.

„Du wunderlicher Mensch, deshalb brauchst du doch nicht zu jammern, trösteten ihn die Experten. „Was willst du denn? Deinen Idealen die Zukunft sichern? Aber bitte, wir legen dir doch kein Hindernis in den Weg. Hab es nur nicht so eilig, um Gottes willen! Wenn es nicht ‚nach Möglichkeit’ geht, so sei damit zufrieden, daß du ‚wenigstens etwas’ erreichst! ‚Wenigstens etwas’ hat auch seinen Wert. Ein wenig, allmählich, Eile mit Weile – und schon bist du mit einem Fuß im Heiligtum! In das Heiligtum hat seit seiner Errichtung noch niemand hineingeblickt; du aber darfst einfach hinein... Wahrlich ein Grund, Gott zu danken.“

Nun, ihm blieb nichts übrig, als sich auch damit zufriedenzugeben. Ging es nicht ‚nach Möglichkeit’, so mußte er sich eben bemühen, ‚wenigstens etwas’ abzuzupfen, und dafür dankbar sein. Danach tat denn auch der Liberale und hatte sich bald schon völlig an seine neue Lage gewöhnt, so daß er selber staunte, früher in seiner Dummheit andere Grenzen für möglich gehalten zu haben. Alle möglichen Gleichnisse kamen ihm noch zu Hilfe. Auch das Weizenkorn brachte nicht sogleich die Frucht, sondern machte einige Umstände. Zuerst mußte man es in die Erde säen und warten, bis sein Verwandlungsprozeß vonstatten ging, sodann zeitigte es einen Sproß, der wuchs, halmte und die Ähre bildete. Wie viele Zauberreiche mußte das Korn also erst durchlaufen, ehe es hundertfältige Frucht brachte! Und so war es auch hier bei den Idealen. Hast du ‚wenigstens etwas’ in die Erde gesät, so sitze da und warte.

Und richtig: der Liberale säte ‚wenigstens etwas’ in die Erde, saß und wartete. Doch so lange er auch wartete, ‚wenigstens etwas’ wollte nicht keimen – mach einer was! War es auf steinigen Grund geraten? War es im Miste verfault? Wer konnte das wissen!

„Woran mag es nur liegen?“ murmelte der Liberale bestürzt.

„Es ist wieder das gleiche; du hast die Furche zu breit gezogen“, antworteten die Experten. „Unser Volk aber ist schwach und überaus niederträchtig. Kommst du ihm mit Güte, gleich dreht es dir den Hals um. Man muß viel Geschick haben, um bei diesem Volke rein zu bleiben!“

„Aber hören Sie! Wie kann da noch von Reinheit die Rede sein! Mit was für einem Besitz bin ich ausgezogen und habe unterwegs alles hergeben müssen. Zuerst habe ich ‚nach Möglichkeit’ gewirkt, dann bin ich auf ‚wenigstens etwas’ heruntergegangen – kann man denn noch tiefer sinken?“

„Aber natürlich kann man. Willst du nicht beispielsweise ‚der Niedertracht angemessen’...?“

„Wie das?“

„Ganz einfach. Du sagst, du hast uns Ideale gebracht; wir sagen: ausgezeichnet; willst du aber, daß wir Anteil nehmen, so mußt du angemessen vorgehen.“

„Und?“

„Das heißt, tu nicht groß mit deinen Idealen, sondern schraube sie auf unseren Maßstab herab, und handele angemessen. Dann werden vielleicht wir, wenn wir den Nutzen sehen... wir, mein Lieber, sind auch gebrannte Kinder und haben mit Pläneschmieden unsere Erfahrungen gemacht. Erst vor kurzem hat uns der General Krokodilow verkündet: ‚Meine Herren’, sagte er, ‚mein Ideal sind die schwedischen Gardinen! Wenn ich bitten darf!“ Wir sind aus Dummheit gefolgt, und jetzt sitzen wir hinter Schloß und Riegel.“

Als der Liberale diese Worte hörte, dachte er ernsthaft nach. Ohnedies war von seinen ursprünglichen Idealen nur die Aufschrift übriggeblieben, und nun verordnete man ihnen unverblümte Niedertracht! Ehe man sich’s versah, befand man sich selbst unter dem niederträchtigen Gesindel. Herr, erleuchte meinen Geist!

Als aber die Experten sein Grübeln sahen, begannen sie ihrerseits zu nötigen: „Verehrter Liberaler, du hast den Kuchen eingerührt, so backe ihn auch zu Ende! Du hast uns in Spannung versetzt, nun stelle uns auch zufrieden. Vorwärts, geh ans Werk!“

Und er ging ans Werk, immer ‚der Niedertracht angemessen’. Manchmal wich er aus Versehen zur Seite; aber gleich war ein Experte zur Stelle und nahm ihn am Ärmel: „Wo schielst du hin, Liberaler? Immer geradeaus!“

So ging es einen Tag um den anderen, und die Sache nahm ihren Verlauf, ‚der Niedertracht angemessen’. Nach Idealen krähte längst kein Hahn mehr – nur der Ekel war geblieben –, aber der Liberale ließ dennoch den Kopf nicht hängen. „Was ist schon dabei, daß meine Ideale bis über die Ohren in der Niedertracht versunken sind! Dafür stehe ich selbst unversehrt und stolz wie eine Säule! Stecke ich auch heute im Schlamm, morgen wird die Sonne scheine, dann fällt der Schlamm ab, und ich bin wieder ein aufrechter Kerl!“ Die Experten aber pflichteten ihm bei: „Genauso ist’s!“

Eines Tages ging er mit seinem Freund auf der Straße spazieren, schwatzte wie gewöhnlich von den Idealen und pries seine Weisheit. Da spürte er plötzlich ein paar Spritzer auf seiner Wange. Woher? Wieso? Der Liberale blickte nach oben: Fing es an zu regnen? Kein Wölkchen war am Himmel, strahlend stand die Sonne im Zenit. Nur der Wind ging. Da es aber verboten war, Spülwasser aus den Fenstern zu schütten, konnte er auch nach dieser Richtung keinen Verdacht hegen.

„Seltsam“, sprach der Liberale zu seinem Freund, „kein Regen, kein Spülwasser, aber meine Wange ist naß!“

„Sieh doch dort, hinter der Ecke hat sich ein Mensch versteckt“, antwortete der Freund; „das ist sein Werk! Er wollte auf dich spucken wegen deiner liberalen Werke, aber es dir ins Angesicht zu tun, ist er zu feige. Da hat er eben ‚der Niedertracht angemessen’ hinter der Ecke hervorgespuckt und der Wind dir die Spritzer zugetragen.“