Michaelswende

von Gerhard Winkel, aus: Die Spuren der Engel, 1993.


Merkwürdig, wie das Jahr regelmäßig auch einen geistigen Rhythmus hat, der das Erleben und das Denken bestimmt! Draußen fallen jetzt die Kastanien von den Bäumen, Ahornbäume glühen gelegentlich noch einmal im Rot des Vorherbstes auf, es raschelt schon überall vom abgefallenen Laub, die Winterrosetten der Disteln liegen zwischen allem wie frühe Vorboten der Schneekristalle. Von Tag zu Tag werde die Bäume lichter. Man merkt ihnen an, daß sie ihre innere Form, den Schriftzug aus Stamm, Ästen und Zweigen, bald freigeben werden. Sie warten darauf, ob jemand lesen kann. 

Das Jahr der Natur hat jetzt Erntezeit. Auch ich werde in dieser Zeit gefragt, was ich hervorgebracht habe. Bin ich gewachsen? Gab es viele Früchte? Waren sie gut und sind sie reif geworden? Dieser Prozeß spielt sich in mir in jedem Jahr ab, seit ich bewußt zu leben versuche. Ich erfahre ihn immer wieder wie neu und kenne ihn doch schon genau. Ich weiß, daß viele das ähnlich erleben. Im Herbst, in jedem Herbst sterben sie gleichsam mit der Natur einen kleinen Tod. So komme auch ich zur Probe auf die Seelenwaage des Michael, fühle seinen gewaltigen Anspruch und empfinde mein Ungenügen in durchsichtiger Klarheit. Sie ist jedoch nicht niederdrückend. Meist hat sie sogar eine ganz gewöhnliche Ordnungsphase zur Folge. Plötzlich werden Briefe geordnet und endlich beantwortet, Bücher werden zurückgegeben, Liegen-Gebliebenes wird infolge eines inneren Impulses aufgegriffen und erledigt. Manchmal verliert sich das Interesse auch in längst Vergangenem und wandert gleichsam, von den Zweigen ausgehend, zurück bis in die ältesten Jahresringe des Stammes. Der Jahreslauf beschert mir Anfang Oktober regelmäßig ein sanftes Gericht. Es ist buchstäblich Erntezeit, in der ich gleichzeitig die Geburt eines neuen Versuchs fühle. Es ist mit Händen zu greifen, daß Michael in dieser Zeit besonders kräftig wirkt und mich fragt, ob ich den Abstieg in das Reich des Todes wagen will. Er weiß, ich will. So nimmt er mich mit. Der November wird der einsamste Monat des Jahres, fast ohne jede Hoffnung fühle ich mich, alleingelassen. Nebel und Dunkel umgeben Gefühle und Denken. Es ist, als ob ich mitten zwischen lieben Menschen wie begraben wäre. Sinnlosigkeitsgefühle kommen auf und widersprechen der leuchtenden Klarheit des Oktobers. Ja, die Gefühle selbst beginnen abzusterben. Selbst die Bekanntheit des Vorgangs und der Wille reichen nicht aus, diesen Todesgang zu umgehen.

Zu Advent dann ist es wirklich erlebbar, wie wenn ein winziges Licht aufleuchtete. Das ist hier keine Metapher, kein Symbol, kein bloßes Gefühl, sondern eine geistig reale Wirklichkeit, die Beobachtung des eige­nen Seelenweges unter dem Geleit der Geistwesen. Doch die Adventszeit ist leise, wie das Einstimmen eines Orchesters, ohne hervortretende Melodien. Weihnachten kommt regelmäßig der Dirigent, das ist zu spüren, aber das Orchester schweigt noch und hört zu. Jahr für Jahr liegt dann zwischen Weihnachten und Epiphanias die merkwürdigste Erfahrungszeit des ganzen Jahres. Es ist, als ob meine Seele für diese Welt erblinde, sich Traumwelt und reale Welt gleichsam vertauschten und die Seele eine Einweihung erführe. Es ist eine Wanderung unter den Horizont dieser Welt, in kaum erträgliche Einsamkeit. Das alles wird völlig real erlebt und tritt doch nur wie in Traumbildern ins Bewußtsein. Nicht die Baumschrift über der Erde wird erfahren, sondern die dunkle Welt der Baumwurzeln. Gegen Ende der Tage wird das Licht wärmer. Ob mein Schutzengel wohl bis in diese Regionen mitgeht?

Anfang Januar endlich taucht die Seele buchstäblich wieder über dem Horizont auf. Es breitet sich in ihr eine Klarheit aus, die wie das Spiegelbild einer leuchtenden Winterlandschaft ist. Die Erfahrung einer Einweihung des Unbewußten oder Überbewußten wirkt lange nach, den ganzen Januar hindurch. Sie wird erst schwächer mit dem merkbaren Aufsteigen der Sonne Anfang Februar. Es ist wie ein großartiges Bild: Der scheinbare Tod des Lichtes, seine Geburt zu Weihnachten und Auf­erstehung prägen die nächsten Monate. Es ist Saatzeit, keine Erntezeit, Zeit der Pläne, der neuen Vorsätze, sogar der Ungeduld. Alles stülpt sich in dieser Zeit um: aus Innen wird Außen, aus Kontemplation Aktivität, aus Geist Materie. Wirklich, das Wort Umstülpen trifft die innere Erfahrung am besten. Meist wird aber die Umstülpung nicht so wirksam wie sie müßte. Sie wird von den äußeren Ereignissen des Jahresganges aufgesogen, überdeckt. Der tägliche Gang zu den Krokussen, Tulpen, Narzissen und Obstbäumen veräußerlicht die Erfahrungen, macht aus dem geplanten Konzert der Seele mit der Natur eine einfache Etüde. Mit der Obstbaumblüte machen sich alle Stimmen selbständig, musizieren wie in Trunkenheit, der Dirigent steht resigniert auf dem Podium. Mein Weg nach innen ist unter den Blütenwellen unkenntlich geworden, das Gespräch mit dem Engel stockt. Jeder Tag präsentiert eine neue Welt. Von Jahr zu Jahr spüre ich mehr, daß ich in dieser Zeit besonders Obacht geben muß, weil sich die Seele sonst im Überschwang der Sinne völlig verliert. Es ist eine paradiesische Zeit, aber ich habe bisher mehr oder weniger übersehen, daß die Ernte, die Michaeli eingebracht werden soll, jetzt angelegt wird. Fast in jedem Jahr habe ich mich in dieser Zeit als zu schwach erwiesen und bin untergegangen im Meer des Sommergrüns. Wie eine Seelenmüdigkeit kommt das im Sommer auf mich zu, wie eine Nebelhülle ist es, die die klare Sicht auf den Herbst verschleiert. Vorhaben bleiben liegen, Briefe werden nicht geschrieben, die Seele ist wie ausgeflogen, die Führung schwach. So geht es - wenn auch schwächer werdend - immer noch Jahr für Jahr, bis dann im September die Seele aus der Außenwelt in die Innenwelt zurückkehrt, Form gewinnt und von neuem die Frage auftaucht: Bist du gewachsen, hast du Früchte hervorgebracht?

Zu Michaeli werden meine Erträge gewogen. Mein Engel trägt sie auf die Waage des kleinen Todes und ist betrübt oder beglückt - je nachdem, was ich mit meinem Jahr gemacht habe.