Sankt Michael auf der Mondsichel

nach einer polnischen Legende erzählt von Herbert Hahn, aus: Nora Stein von Baditz: Aus Michaels Wirken.


Sahst du in klaren, hehren Herbstnächten die Sternenfunken am Himmel aufsprühen? Wie die Hoffnung einer Menschenseele gehen sie auf; wie der Entschluß eines Menschenherzens tauchen sie unter, leuchtend in Kraft. Sternenschnuppen nennen es die Menschen. Wer aber seinen Engel liebt hat und von Kind auf keine Furcht in sein Herz einließ, weiß es besser. Er sieht in klaren Herbstesnächten dort oben in den Sternen den großen Kämpfer, Sankt Georg auf Erden genannt, Sankt Michael in den Himmeln. Und er sieht sein Antlitz überstrahlt von gol­dener Weisheit, die ihrer selbst nicht wissend, das Herz­ der höchsten Gottheit widerspiegelt. Und sieht seinen Arm erschimmernd in der Wehr, die stark ist und rein, wie aus Himmelsgerechtigkeit gehärtet. 

Und mit der wehrhaften Hand schlägt Sankt Michael an das Schwert, das die kriechende und begehrende, wüh­lende und zerfressende Unreinheit treffen wird. Und die Sterne erbeben, und diamantene Funken springen, wenn Sankt Michael an sein Schwert schlägt [...]

Sahst du in dunkler Winterzeit die zarte Sichel des Mondes über den feinen, weißen Wolken dahingleiten? Es rauscht um sie wie ein Flüstern ferner Gräser von der weiten, schönen Himmelswiese. Sehnsucht, ferne, ferne fort zu sein, erfaßt die Herzen der Menschen, die da hin­schauen zu der Sichel am Winterhimmel. Wer aber seinen Engel lieb hat und von Kind auf die Reinheit in seinem Herzen pflegte, weiß es besser. Er sieht dort oben auf der schmalen silbernen Sichel die himmlische Jungfrau Maria stehen. Und er weiß, daß sie eine Königin ist. Denn sie lächelt nieder zu denen, die auf Erden sich sehnen und darben. Und spendet aus ihren rosigen Händen himmlische Weizenkörner, die segnend zur Erde fallen. Sie spen­det aus betend gebeugten Händen. Sie betet für die Tiefen, daß sie satt werden mögen und gut und erfüllt mit dem Wunder, das die Höhe noch birgt.

Und einmal wird es geschehen. In einem Herbste, wo die Birke nicht nachweint ihren Blättern; wo das Birkenlaub fröhlich zur Erde fällt. Da wird eines Tages über dem Monde eine Treppe erscheinen, deren Stufen so sind wie milchiger Stein. Und auf diesen weißen Stufen, mit segnenden Händen Erlösung winkend, wird Maria emporschreiten zum goldenen himmlischen Erntedank-Tisch, als trete ihr Fuß auf sich spreizende Taubenflügel.

Die Sichel des Mondes wird dann nicht verwaist sein. Ein Lied wird dann von ihr tönen, das im Himmel und auf Erden noch nie gehört wurde. Sankt Michael wird dann auf der Mondsichel stehen. Als himmlischer Schmied hat er sein Schwert umgeschmiedet zum Rahmen einer Leier, und aus Mutesgedanken der Menschen wurden die Saiten darauf gespannt. Der Drachenbesieger wird singen und spielen und als himmlische Lautenspieler walten seines Amtes. Kraft ist in seinem Lied. Von der Tröstung und Erfüllung einer alten Zeit wird er singen und von dem nahen Niederströmen des höchsten Lichtes, in welches das Lächeln Marias entschwand.

Und die Birke wird erschauern bis in ihr tiefstes Mark voll Freude, wenn dieses Lied ertönt. Und der Herbst wird sein wie Frühling.

Manche Menschen werden es nicht sehen, manche nicht hören. Wer aber seinen Engel lieb hat und Treue in seinem Herzen trägt: der weiß es gut und will es besser.