Ostern – nicht Leiden, sondern Auferstehung

Rudolf Steiner: Vortrag vom 27.3.1921, Ostersonntag, GA 203 („Der Ostergedanke – ein Auferstehungsgedanke“). [Überschriften eingefügt].


[...] Der Weihnachtsgedanke weist uns ja hin auf die Geburt. Wir wissen, wie durch die Geburt das Ewige des Menschen hereinzieht in die Welt, aus der des Menschen sinnlich-sichtbare leibliche Wesenheit genommen ist. Und wenn wir uns mit dieser Anschauung dem Weihnachtsgedanken nähern, dann erscheint er uns als der Gedanke, der uns verbindet mit dem Übersinnlichen. Dann erscheint er neben allem übrigen, was er uns nahebringt, so, daß er gewissermaßen an den einen Pol unseres Daseins hinweist, wo wir als sinnlich-physische Wesen zusammenhängen mit dem Geistig-Übersinnlichen. [...]

Am anderen Pol des menschlichen Erlebens liegt der Gedanke, der dem Osterfeste zugrunde liegt [...] Der Ostergedanke kann, zunächst in einer mehr abstrakten Weise, erfaßt werden, wenn man sich klar darüber ist, wie das Ewige, das Unsterbliche des Menschen, das also auch nicht geboren werden kann, wie das Geistig-Übersinnliche heruntersteigt aus geistigen Welten und sich umkleidet mit dem menschlichen physischen Leibe. Vom Beginne dieses physischen Daseins an – das habe ich von den verschiedensten Gesichtspunkten her vor Ihnen hier ausgeführt – ist dieses Wirken des Geistes im physischen Leibe eigentlich ein Hinführen des physischen Leibes zum Sterben, und mit dem Gedanken der Geburt ist zu gleicher Zeit der Gedanke des Sterbens gegeben. [...]

So ist in Wahrheit der Todesgedanke nur, ich möchte sagen, die andere Seite des Geburtsgedankens, und es kann daher im Ostergedanken nicht der Todesgedanke zum Ausdrucke kommen. [...]

Die Auferstehung, der Triumph über den Tod, die Überwindung des Todes, das ist es, was vor allen Dingen als der Ostergedanke vorhanden gewesen ist in der ersten, noch durch die Weisheit des Morgenlandes bedingten Form des Christentums. [...]

Das Kruzifix und der Materialismus

Die große, umfassende Weisheit, welche sich in den ersten Jahrhunderten des Christentums noch angeschickt hat, das Mysterium von Golgatha mit allem, was dazu gehört, zu durchdringen, sie tauchte zunächst unter in den Materialismus des Abendlandes. Dieser Materialismus war in den ersten Jahrhunderten noch nicht zum vollen Durchbruch gekommen. Er bereitete sich langsam vor. Man möchte sagen, die ersten, noch ganz schwachen materialistischen Impulse der ersten Jahrhunderte, die kaum bemerkbar waren, wandelten sich erst viel später um in das, was immer mehr und mehr Materialismus wurde und immer mehr die Zivilisation des Abendlandes durchdrang. Verbunden hat sich ja der morgenländische Religionsgedanke mit dem im Abendlande heraufziehenden Staatsgedanken. Im 4. Jahrhundert wurde das Christentum Staatsreligion, das heißt, es drang in das Christentum etwas ein, was nicht mehr Religion sein kann.

[...] Und so sehen wir, wie erst ganz schwach, aber eben doch schon etwas bemerkbar in der Vermischung des Christentums mit dem untergehenden Römertum, wie da der Materialismus des Abendlandes seine ersten Strahlen wirft. Unter diesem Einflusse entstand auch jenes Bild des Christus Jesus, das im Anfange gar nicht vorhanden war, das durchaus nicht im Ursprunge des Christentums liegt: das Bild des Christus Jesus als des Gekreuzigten, Leidenden, als des Schmerzensmannes, als desjenigen, der in Schmerzen vergeht unter dem Eindrucke des unsäglichen Leides, das ihm zugefügt worden ist.

Damit war ein Bruch gekommen in die ganze Anschauung der christlichen Welt; denn dieses Bild, welches fortan durch die Jahrhunderte gegangen ist – der am Kreuz hängende, schmerzdurchtränkte Christus –, das ist der Christus, welcher nicht mehr in seiner geistigen Wesenheit aufgefaßt werden kann, sondern allein in seiner leiblich-körperhaften Wesenheit. Und je mehr die Schmerzensmerkmale dem menschlichen Leibe aufgeprägt wurden, je mehr es die Kunst in ihrer großen Vollkommenheit zu verschiedenen Epochen zustande gebracht hat, dem am Kreuze hängenden Erlöser die Schmerzensmerkmale aufzudrücken, um so mehr wurden die Keime materialistisch-christlichen Empfindens gelegt. Der Kruzifixus ist der Ausdruck für den Übergang zum christlichen Materialismus. Dem widerspricht nicht, daß in einer großen, gewaltigen Weise gerade das, was als Schmerz des Erlösers durch die Kunst verkörpert worden ist, in seiner vollen Tiefe und Bedeutung anerkannt werde. Trotzdem bleibt es wahr, daß mit diesem Bilde des Erlösers, der am Kreuze unter Schmerzen vergeht, von einer eigentlich geistigen Auffassung des Christentums der Abschied genommen worden ist. [...]

Und zusammengeschoben wurde das Karfreitagsfest und das Auferstehungsfest, das Osterfest. Das Karfreitagsfest war in gewissem Sinne in den Zeiten, in denen die Menschen noch nicht so trocken und nüchtern und verstandesöde waren, zu einem Fest geworden, in dem der Ostergedanke umgewandelt war in einer durch und durch egoistisehen Weise. Im Schmerze wühlen, die eigene Seele wie wollüstig in den Schmerz eintauchen, Schmerzensseligkeiten empfinden, das war durch Zeitalter hindurch der Karfreitagsgedanke, der gewissermaßen nur den Hintergrund abgeben sollte für einen Ostergedanken, zu dessen Erfassung man in seiner wahren Gestalt immer weniger fähig wurde. [...] Man brauchte erst das Marterbild des Todes, um als Kontrast zu empfinden den eigentlichen Ostergedanken. [...]

Eine Zeit, die darauf hinweisen muß, daß der Mensch die Auferstehung seines Wesens aus dem Geiste heraus wieder erleben müsse, die muß gerade den Ostergedanken in besonderer Art betonen. Wir brauchen den Ostergedanken, wir brauchen ein völliges Verständnis des Ostergedankens. Dazu ist es aber notwendig, daß wir uns klarwerden, daß der Schmerzensmann ebenso der Ausdruck für das Hineingehen der abendländischen Entwickelung in den Materialismus ist wie auf der anderen Seite der bloß juristisch richtende Weltenrichter. Wir brauchen ja den Christus als übersinnliche Wesenheit, als Wesenheit, welche außerirdischer Art ist und dennoch hereingezogen ist in die irdische Entwickelung. [...]

Der Christus als Triumphator

Uns muß, weil wir ja nicht unhistorisch sein dürfen, vor Augen stehen der schmerzgeplagte Jesus am Kreuze, der Schmerzensmann; uns muß aber über dem Kreuze erscheinen der Triumphator, der unberührt bleibt sowohl von der Geburt wie vom Tode, und der allein unseren Blick hinaufwenden kann zu den ewigen Gefilden des geistigen Lebens. Erst dadurch werden wir uns der wahren Wesenheit des Christus wiederum nähern.

Die abendländische Menschheit hat den Christus zu sich heruntergezogen; heruntergezogen als kleines Kind, heruntergezogen als denjenigen, der vorzugsweise empfunden wird im Vergehen, im Schmerz. Es ist von mir des öfteren hervorgehoben worden, wie ebensolange Zeit, als vor dem Mysterium von Golgatha aus des Buddha Munde die Worte tönen, der Tod sei das Übel, nach dem Mysterium von Golgatha auftritt der Kruzifixus, der Gekreuzigte, wie da hingeschaut wird auf den Tod, und er als kein Übel empfunden wird, sondern als etwas, was in Wahrheit kein Dasein hat.

Aber diese Empfindung, die noch hereintaucht aus einer morgenländischen Weisheit, die tiefer ist als der Buddhismus, diese Empfindung unterliegt der anderen, die sich festhaftet an dem Anblicke des Schmerzgepreßten. [...]

Wir aber brauchen den Christus, den wir in unserem Inneren suchen können, weil er, wenn wir ihn suchen, alsbald erscheint. Wir brauchen den Christus, welcher in unseren Willen einzieht, der unseren Willen durchwärmt und durchfeuert, damit dieser Wille kraftvoll werde zu denjenigen Taten, die für die Menschheitsentwickelung von uns verlangt werden. Wir brauchen denjenigen Christus, den wir nicht als den leidenden anschauen, sondern der da schwebt oberhalb des Kreuzes und herüberschaut auf das, was wesenlos am Kreuze endet. Wir brauchen das starke Bewußtsein von der Ewigkeit des Geistes. [...]

Und wenn wir sehen, wie das Bild des Kruzifixus nach und nach immer mehr umgestellt worden ist zum Leidenden und Schmerzfühlenden, so werden wir sehen, welche Kraft gerade diese Richtung menschlichen Empfindens gewonnen hat. Es ist die Abwendung des Blickes der Menschheit von dem eigentlich Geistigen und die Hinwendung zu dem bloß Irdisch-Physischen. Das ist ja zuweilen in einer grandiosen Weise ausgedrückt; aber denen, die zum Beispiel wie Goethe schon etwas empfunden haben von der Notwendigkeit, daß unsere Zivilisation wieder zum Geiste durchdringe, solchen Menschen ist es immer als etwas erschienen, mit dem sie eigentlich nicht mitgehen. Goethe hat es ja oft genug zum Ausdruck gebracht, daß der gekreuzigte Erlöser im Grunde genommen eigentlich nicht dasjenige zum Ausdrucke bringt, was er an dem Christentum empfindet: die Erhebung des Menschen zum Geistigen. [...]

Der eigentliche Mensch muß sich verbinden mit demjenigen, was hereingekommen ist in die Welt als der Christus, der nicht sterben kann, der auf ein anderes als auf sich selbst hinabsieht, wenn er den Schmerzensmann des Kreuzes ansieht. [...]

Der Ostergedanke und der menschliche Wille

Wie soll der Mensch die Kraft gewinnen zu diesem Pfingstgedanken, wenn er nicht durchzudringen vermag zu dem Ostergedanken, zu dem wahren Ostergedanken, zu dem Gedanken von der Auferstehung des Geistes! Es darf der Mensch nicht betäubt werden durch das Bild des sterbenden, des schmerzdurchdrungenen Erlösers. Es muß der Mensch lernen das Verbundensein des Schmerzes mit dem Zusammengefügtsein mit dem materiellen Dasein.

Das war ein Grundprinzip der alten Weisheit, die noch aus instinktiven Untergründen des menschlichen Erkennens heraus gekommen ist. Wir müssen uns diese Erkenntnis durch bewußtes Erkennen wiederum erringen. Das war aber ein Grundprinzip, daß des Schmerzes Ursprung die Verbindung mit der Materie ist, daß das Leiden stammt von der Verbindung des Menschen mit der Materie. Ein Unding wäre es allerdings, zu glauben, daß der Christus, weil er als göttlich-geistiges Wesen durch den Tod hindurchgegangen ist, den Schmerz nicht erlitten habe. Den Schmerz beim Mysterium von Golgatha für einen bloßen Scheinschmerz zu erklären, wäre unreal gedacht. Er muß im allerbedeutendsten Sinne als wirklich gedacht werden, aber er darf nicht gedacht werden als sein Gegenbild. [...]

Wiedergefunden werden muß so die Möglichkeit, den triumphierenden geistigen Christus vor der Seele und in der Seele und namentlich im Willen zu haben. Das ist dasjenige, was uns bevorstehen muß in der Gegenwart und insbesondere in dem, was wir tun wollen in dieser Gegenwart zu der Herbeiführung einer heilsamen menschlichen Zukunft. Aber nimmermehr werden wir diesen Ostergedanken, diesen wahren Ostergedanken fassen können, wenn wir nicht einzusehen vermögen, daß wir hinausblicken müssen von dem bloß Irdischen in das Kosmische, wenn wir überhaupt von dem Christus sprechen wollen. [...]

Der Ostergedanke verträgt nur die Interpretation aus dem Überirdischen heraus. Denn geschehen ist mit dem Mysterium von Golgatha, insofern es das Auferstehungsmysterium ist, etwas, was sich unterscheidet von den übrigen Angelegenheiten der Menschen. Die übrigen Angelegenheiten der Menschen verlaufen auf der Erde in einer ganz anderen Art als das, was mit dem Mysterium von Golgatha geschehen ist. Die Erde hat aufgenommen die kosmischen Kräfte, und aus dem, was sie selber geworden ist, sprießen sie hervor die menschlichen Willenskräfte in den menschlichen Stoffwechsel hinein. Als aber das Mysterium von Golgatha sich abgespielt hat, da drang ein neuer Zusammenfluß des Willens in das irdische Geschehen herein. Da geschah auf der Erde etwas, was kosmisches Geschehen ist, und wofür die Erde nur Schauplatz ist. Der Mensch wurde wiederum mit dem Kosmos verbunden. [...]

Wir müssen verstehen, zu Ostern uns hinzuwenden zu dem Geiste, der uns allein in dem Bilde der Auferstehung gegeben werden kann. Dann werden wir in der richtigen Weise vorschreiten können von der Leidens-Karfreitagsstimmung zu der geistigen Stimmung des Ostertages. Dann werden wir aber auch fähig werden, in dieser Stimmung des Ostertages dasjenige zu finden, was unser Wille aufnehmen muß, damit wir Wirkende werden können gegenüber den Niedergangskräften in den Aufgangskräften der Menschheit. Und solche Kräfte, die da mitwirken können, die brauchen wir. Und in dem Augenblicke, wo wir in der richtigen Weise den Auferstehungs-Ostergedanken verstehen, wird dieser Ostergedanke, warm und uns durchleuchtend, die Kräfte in uns entzünden, die wir für die zukünftige Menschheitsentwickelung brauchen.