Ostern

Osternacht (Eine Legende)

aus: Michail Saltykow-Schtschedrin: Die Tugenden und die Laster. Insel-Verlag 1966.


Noch liegt die Ebene in Banden, doch inmitten der tiefen nächtlichen Stille ist unter der Schneedecke das Glucksen der erwachenden Bäche zu vernehmen. In Schluchten und Hohlwegen schwillt es schon zu dumpfem Brausen an und kündet dem Wanderer, daß hier der Weg von Schneewasser unterspült ist. Aber der Wald schweigt noch. Reifbedeckt, gleicht er einem sagenhaften Recken unter der Eisenkappe. Der dunkle Himmel ist über und über mit Sternen besät, die ihr kaltes, flimmerndes Licht auf die Erde gießen. Wie einsame Punkte blinken im geisterhaften Dämmerschein die schneeverwehten Dörfer. Verwaist und armselig liegt die erstarrte Ebene, der schweigsame Dorfweg. Alles ist gefesselt, ohnmächtig und still, wie erdrückt von einem unsichtbaren, grausamen Joch.

Da erklingt an dem einen Ende der Ebene das Läuten der Mitternachtsglocke; von der anderen Seite schwingt der Ton einer zweiten herüber, dann fällt die dritte ein und schließlich die vierte. Vor dem nächtlichen Hintergrunde zeichnen sich helle Kirchtürme ab, und die Landschaft wird lebendig. In langer Kette ziehen auf dem Wege die Dorfbewohner einher. Vornan gehen graue, von Armut und Leid gemarterte Menschen mit zerrissenem Herzen, den Kopf tief auf die Brust gesenkt. Sie tragen ihre Demut und ihre Seufzer zum Altare: es ist alles, was sie dem auferstandenen Gotte darbringen können. In einiger Entfernung folgen, feiertäglich gekleidet, die Dorfreichen, Kulaken und sonstigen Herren des Dorfes. Sie schwatzen fröhlich untereinander und bringen zum Gotteshaus ihre Träume vom bevorstehenden Festtagstrubel. Doch bald entschwinden die einen wie die anderen dem Blick, der letzte rufende Glockenton verhallt, und alles sinkt wieder in feierliches Schweigen zurück.

Dieses abermalige Schweigen birgt ein tiefes Geheimnis, als solle aus der erwartungsvollen Stille ein Wunder hervorgehen, das aller Kreatur Leben und Erneuerung bringt. Und wirklich: noch hatte sich der Osten nicht gerötet, als das ersehnte Wunder eintrat. Auferstanden war der geschmähte und gekreuzigte Gott! Auferstanden war der Gott, zu dem von Anbeginn die beladenen und kranken Herzen emporrufen: „Komm, o Herr!“

Gott war auferstanden und erfüllte die Welt. Mit Sturm und Schnee trat ihm die weite Steppe entgegen. Auch der mächtige Wald fühlte das Nahen des Auferstandenen. Die riesigen Tannen erhoben ihre zottigen Äste zum Himmel, die hundertjährigen Föhren knarrten mit den Wipfeln; Schluchten und Flüsse erbrausten; aus Schlupflöchern und Höhlen kamen die Tiere des Waldes, aus den Nestern flogen die Vögel herzu, – und alle empfanden, daß aus dem Dunkel etwas Leuchtendes, Mächtiges, Licht und Wärme Ausströmendes geschritten kam, und alle riefen: „Herr, bist du es?“

Der Herr segnete das Land und die Gewässer, Tiere und Vögel, und er sprach zu ihnen:

„Friede sei mit euch! Ich bringe euch den Frühling, die Wärme und das Licht. Ich nehme die eisige Kette von den Strörnen, ich hülle die Steppe in ein grünes Gewand, ich fülle den Wald mit Wohllaut und Wohlgeruch. Ich nähre und tränke alles Getier und erquicke die Natur mit Frohlocken. Mögen ihre Gesetze euch leicht sein, möge sie jedem Hälmchen, jedem kleinsten Insekt, euch allen den Raum geben, in dem ihr getreu eurer Bestimmung leben könnt. Ihr werdet nicht gerichtet, denn ihr verrichtet nur, was euch aufgegeben ward am Zeitenbeginn. Der Mensch führt einen hartnäckigen Kampf mit der Natur, er dringt in ihre Geheimnisse ein und sieht doch kein Ende seines Bemühens. Er braucht diese Geheimnisse; sie bilden die unabdingbare Voraussetzung seiner Glückseligkeit und seines Gedeihens. Die Natur aber ist sich selbst genug, darin liegt ihr Vorzug. Daß der Mensch allmählich in ihre Tiefen eindringt, ist einerlei – er unterwirft sich nur die Atome, die Natur steht vor ihm in ihrer ursprünglichen Unfaßbarkeit und überwältigt ihn durch ihre Macht. Friede sei mit euch, ihr Steppen und Wälder, ihr Tiere des Waldes und Vögel des Himmels! Die Strahlen meiner Auferstehung mögen euch erwärmen und beleben!“

So segnete der Herr die Natur und wandte sich zu den Menschen. Die Leidvollen, unter das Arbeitsjoch Gebeugten und von der Not Ausgehöhlten nahten ihm als erste. Und als er zu ihnen sagte: „Friede sei mit euch!“, fielen sie weinend vor ihm nieder, und ihre wortlos ausgestreckten Arme flehten um Erlösung.

Und das Herz des Auferstandenen wurde aufs neue schwer von der großen und tödlichen Traurigkeit, von der es erfüllt war im Garten Gethsemane, in der Erwartung des Kelches. Das ganze Leidensheer, das vor ihm niederkniete, trug die Bürde des Lebens um seinetwillen; sie waren die ersten gewesen, die seinem Worte gelauscht. und hatten es treu in ihrem Herzen bewahrt. Sie alle hatte er von Golgathas Höhen aus in der Ferne gesehen, hatte sie unter dem Sklavenjoch stöhnen hören und sie gesegnet, als er den Kreuzgang vollendete, – und allen Befreiung verheißen. Und seit jener Zeit sehnten sie sich nach ihm. Alle streckten in hingebendem Glauben die Arme aus: „Herr, bist du es?“

„Ja, ich bin es“, sprach er zu ihnen, „ich habe die Bande des Todes gesprengt, um zu euch zu kommen, meine getreuen Diener, Geliebte im Leid! Ich bin mit euch immer und überall, und wo euer Blut vergossen wurde – da ist es mein Blut gewesen. Ihr habt reines Herzens und unbeirrt an mich geglaubt, einzig deswegen, weil meine Verheißung die Wahrheit in sich schließt, ohne die die Welt nur ein Behältnis des Verderbens und schlimmer als die Hölle ist. Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben, und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst – das ist sie, die Wahrheit, schlicht und klar, und nicht von Pharisäern und Schriftgelehrten wird sie am leichtesten erfaßt, sondern von euch, den einfältigen und bedrückten Herzen. Ihr glaubt an diese Wahrheit und harret ihres Erscheinens. Im Sommer, unter den Strahlen der brennenden Sonne, hinter dem Pfluge dient ihr dieser Wahrheit; an den langen Winterabenden, beim Schein des rauchenden Kienspans, beim kärglichen Mahle, unterweist ihr eure Kinder darin. Wie wenig Worte diese Wahrheit auch enthält, für euch umfaßt sie den ganzen Sinn des Daseins und ist eine nie versiegende Quelle neuer Gespräche und Betrachtungen. Mit ihr geht ihr in der Frühe ans Werk, mit ihr des Abends zur Ruhe, sie endlich legt ihr auf meinen Altar in euren Tränen und Seufzern, die meinem Herzen süßer sind als Weihrauch. So wisset denn: Wenngleich niemand vorauszusehen vermag, wann eure Stunde schlägt, so ist sie doch schon nahe. Ja, die ersehnte Stunde wird kommen und mit ihr das Licht, das alle Finsternis zerstreut. Und ihr werdet von euch werfen das Joch der Trauer, des Leidens und der Not, das euch bedrückt. So wird es sein, und wie ich euch dereinst von Golgathas Höhen segnete zur Bewahrung eurer Seelen, so segne ich euch nun zum neuen Leben im Reiche des Lichtes, der Güte und der Wahrheit. Mögen eure Herzen fest bleiben gegen alle Versuchungen, mögen sie rein und schlicht bleiben wie bisher, auf daß mein Wort sich erfülle. Friede sei mit euch!“

Weiter schritt der Herr und traf auf seinem Wege andere Menschen. Das waren die Reichen, Wucherer und brutalen Herrscher, die Diebe und Mörder, die Heuchler, Frömmler und ungerechten Richter. Die Herzen voller Tand, kamen sie fröhlich schwatzend daher, denn sie gedachten nicht der Auferstehung, sondern der Lustbarkeiten des kommenden Festes. Doch verwirrt blieben sie stehen, als sie die Nähe des auferstandenen Gottes empfanden.

Auch er hielt an und sprach:

„Ihr seid die Menschen dieser Zeit und laßt euch leiten vom Geiste dieser Zeit. Besitz und Herrschsucht sind eure Triebkräfte, das Böse ist der Inhalt eures Lebens. Doch ihr tragt das Joch des Bösen so leicht, daß kein Gewissensskrupel euch erzittern läßt vor der Zukunft, der euch dieses Joch entgegenführt. Alles, was euch umgibt, scheint einzig berufen, euch zu dienen. Aber nicht aus eigener Kraft habt ihr die Welt in Besitz genommen, sondern eure Väter haben euch die Macht vererbt. So seid ihr von allen Seiten geschützt, und die Mächtigen der Welt halten euch für wahrhaft und ewig. Feuer und Schwert sind euer Werkzeug, Raub und Mord eure Taten. Ungestraft schmäht ihr die Gesetze Gottes und der Menschen und brüstet euch, dies sei euer verbrieftes Recht. Aber ich sage euch: die Zeit wird kommen – und sie ist nicht fern –, da eure Träume und Pläne zu Staub werden. Dann werden die Schwachen ihre Kraft erkennen, ihr aber eure Nichtigkeit gegenüber dieser Macht. Habt ihr solches je geahnt? Hat euch nie die Furcht befallen um euch und eure Kinder?“

De Sünder schwiegen. Sie standen mit gesenkten Köpfen, als hätten sie das Bitterste noch nicht gehört. Da sprach der Herr von neuem:

„Doch meine Auferstehung eröffnet auch euch den Weg Heils. Dieser Weg ist das Gericht eures eigenen Gewissens. Es wird eure Vergangenheit schonungslos enthüllen; es wird die Schatten derer, die ihr umgebracht habt, heraufbeschwören und sie als Wächter euch zu Häupten stellen. Zähneklappern wird euer Haus erfüllen, die Frau nicht mehr den Mann, das Kind nicht mehr den Vater erkennen. Doch wenn eure Herzen verdorren vor Schwermut und Gram, wenn euer Gewissen überläuft wie ein Kelch, der die Bitterkeit nicht mehr zu fassen vermag, dann werden sich die Schatten mit euch aussöhnen und euch auf den Weg des Heils führen. Dann wird es weder Diebe geben noch Mörder, weder Erpresser noch Heuchler noch ungerechte Machthaber – alle werden sich erfreuen am gemeinsamen Mahle in meinem Haus. Gehet hin und wisset, daß meine Worte wahr sind!“

[...]