Wie der taube Engel dem Kind einen Weg fand

aus: Hans Baumann: Das Kind und die Tiere. Bertelsmann, 1956.


Auf der Flucht vor Herodes kam das Kind von einem Land in das andere.
Das Umherziehen wurde ihm so zur Ge­wohnheit, daß es nicht eher nach Nazareth heimkehren wollte, ehe es nicht die ganze Erde gesehen. Kinder haben mitunter so weitgehende Wünsche. Und weil Maria und noch viel weniger Joseph, der gleich zu allem ja und amen sagte, auch die geringste Bitte nicht abschlagen konnten, wandten sie lediglich ein, daß die Erde sehr groß sei.

"Eben deshalb", sprach das Kind, "muß man zeitig anfangen. Ihr habt doch selber gehört, was mir die Weisen vom Morgenlande erzählten. Die Erde hat viele Gesichter. Darf es geschehen, daß eines mir fremd bleibt? Erst wenn ich ihren wildesten Atem verspürt habe und ihren fast erloschenen unter dem Eis, weiß ich um sie. An der Distel und an der Agave will ich sie kennen. Von den unzähligen Tieren ist mir bisher nicht viel vor die Augen gekommen. Muß es nicht sein wie auf einem wandernden Berg, wenn unter einem ein Elefant sich bewegt? Auch auf dem Strauß möchte ich reiten, wenn er dahinrennt mit nur zwei Beinen, und ihn holt der Löwe nicht ein. Und einem Känguruh vorne sitzen im Bauchsack – eh' ich von ihm nicht gehüpft bin, kehr' ich nicht um! Außerdem, sagten die Könige, gibt es auf Erden mancherlei Menschen, unkundige und sehr gelehrte, gelbe und schwarze, jeder hat andere Worte; aber sie sollen fast gleich sein in dem, was sie tun."

Da sah Maria, daß es dem Kind damit Ernst sei. Sie hob die Augen zum Vater im Himmel, auf daß er jemanden sende, der ihm vorausgehe, um einen Weg ihm zu finden. Denn das Bewohnte erschien ihr voller Gefahr, der weder sie noch der Mann im geringsten gewachsen.

Gottvater ging mit sich selber zu Rat.

Mächtig vor allem, bedachte er, königlich stark müssen die sein, die seine Wege bereiten. – Und er wählte die Unbesiegbaren unter seinen Geschöpfen, schickte den Löwen, den Adler, den Stier, und nach einigem Zögern beauftragte er außerdem einen Engel. Mit dem hatte es eine eigne Bewandtnis.

Den Allmächtigen hatte der Engel erzürnt, als er den Tür­schließerdienst an den Pforten des Himmels nachlässig ver­sah: er wollte einen Hirten, der auf der Suche nach einem verlaufenen Schaf abgestürzt war, ohne weiters einlassen. Als ob nicht mit Tempel bauenden Königen, Richtern, Propheten und andern Frommen der Vorhof gefüllt wäre! Gottvater schlug den ungehorsamen Engel mit Taubheit, daß er hinfort der Sphärengesänge entrate. Weit über tausend Jahre hatte der Engel nun schon gebüßt. Gottvater schien es genug. Aber die Taubheit wollte er vom Engel erst nehmen, wenn er als Wegsucher seinem Sohne genüge. Und er sandte die vier; die Starken beruhigt, nicht ohne Bedenken den büßenden Engel.

Als Maria der Mächtigen ansichtig wurde, war sie nicht wenig erschrocken ob so vieler Stärke. Aber der Engel blickte sie an, und das minderte ihre Befürchtung.

Das Kind sagte: "Wenn es der Vater also bestimmt hat, so sollt ihr vorausgehn. In sieben Tagen kommt wieder hierher und sagt mir an, welchen Weg ihr als den besten erfunden. Sucht einen, auf dem die Erde, die ganze, mir zugänglich wird."

Als nun der Löwe gleich fort wollte, der Stier und der Adler, sagte das Kind: "Es ist schon zu dunkel geworden, bleibt für den Abend noch hier." Da ruhten die Tiere an seiner Seite. Der Engel saß ihm zu Häupten, wollte nicht schlafen und schlief am Ende doch ein.

Und da geschah es, daß sie im Traume den Erdenwandel des Kindes voraussahen; jeder so viel, als er geduldig war nachzufolgen.

Der Stier beispielsweise fuhr aus dem Traume schon auf, als Johannes von der Wurfschaufel sprach, mit welcher der Menschensohn den Weizen absondere und alle Spreu übergebe den Flammen. "Ich werde die Spreu", sagte der Stier, "vor meinen Nüstern her blasen." Ob es auch finster war, machte er sich auf den Weg, stampfte sich Funken, das war sein einziges Licht. Und er fegte den Weg! Was er für Spreu hielt, trieb er auf einen Feuerstoß zu, der inmitten einer Arena wie ein Erzengelschwert stand. Manches kam unterwegs schon unter die Hufe.
Mit mir kann man zufrieden sein, dachte der Stier, als er am Ende der Woche zum Kinde sich wandte. Gründlicher kann ihm die Pfade keiner bereiten.

Bis in die Wüste war der Adler gefolgt. Kaum aber hatte der Menschensohn dem Versucher auf sein erstes Ansinnen Antwort gegeben: "Nicht vom Brot allein lebt der Mensch, doch von jeglichem Worte" – schwang sich der Adler in die Dunkelheit auf. Er richtete sich nach den Sternen und sagte: "Horste will ich ihm bauen! Über die Köpfe vieler Lauschender hin ist der leichteste Weg."
Und der Adler errichtete überall Horste, flog dann zurück und war sicher: Ich trag' ihn am schnellsten über die Erde hin, jeder wird mich bewundern.

Grollend war der Löwe zur Seite geblieben. Ihm war un­verständlich, warum auf der Tempelzinne der Menschen­sohn nicht die Reiche genommen; nahe zum Greifen waren sie gelegt, wie ein Teppich.
"Fasten ist gut", sprach er, "aber nicht gleich vierzig Tage."
Doch dann kam auch dem Löwen die Stunde.

Als Petrus zweimal das volle Netz in den Kahn zog und mit glänzenden Augen vernahm, daß die Pforten der Hölle den Felsen, also ihn selber, nicht überwältigen würden und er nicht Frieden verheiße, sondern das Schwert, wachte der Löwe auf und fuhr mit gewaltigen Sätzen über die Welt hin. Und was ihm der höllischen Pforten nur im geringsten verdächtig war, prankte er nieder. Könige nahm er in Dienst. Er ließ sie der Heiden Länder mit Krieg überziehen und stritt dann mit ihnen, kamen sie stehenden Fußes an­statt auf den Knien. In der Stadt, in welcher die Kaiser ein schöneres Haus als die Götter besaßen, wollte er dem Kind seine Wohnung für alle Zeiten herrichten.

Und der Engel? Er war seiner Sache nicht sicher. Verwundert hatte er bemerkt, daß von ihm am ersten Tag schon die Taubheit gewichen, nachdem er kaum drei Schritte getan.
Ihm war ein Müder begegnet, dem trug er das Bündel und einer Frau den Eimer vom Brunnen ins Haus. Nun hörte er wieder.

Als er zum Kinde nach Ablauf der Tage hintrat, sprach eben der Stier. Löwe und Adler standen beiseite, erbittert – offenbar waren sie mit dem Bericht schon zu Ende.
Das Kind schien nicht froh. Als sich Maria abwandte bei den Worten des Stiers, da bedeutete ihm das Kind, daß er einhalten solle mit Reden. Murrte der Stier: "Habe ich nicht in deinem Namen die Spreu vom Weizen geson­dert?"
"Aber du hast den Weizen verbrannt statt der Spreu."

Sprach der Löwe: "Ich habe in deinem Namen viele zum Knien gebracht."
"Unterm Knie hast du ihnen den Fuß abgeschlagen."
Sprach der Adler: "Und ich habe deinem Namen Flügel gegeben. Von hunderttausend Kanzeln wird er verkündet."
Das Kind hob die Hände: "Deiner Worte wurden so viele, daß sie die Sonne verdunkeln. Euer Wille war gut, ich weiß es. Indessen ist er so glühend, daß er mich verbrennt. Geht zum Vater zurück."

Da sagten die drei: "Wenigstens wollen wir noch erfahren, ob dir der Engel einen besseren Weg weiß. Der konnte ja nicht einmal hören, was du gesagt hast. Außerdem ging er viel später."

Der Engel gestand: "Ich war darauf verwiesen, was mir vor Augen geschah. Es war fast zu viel. Wenn er die Hände hob, wich von den Blinden die Nacht, wurden Gichtbrüchige heil und die Toten lebendig. Von einer Handvoll Broten und einigen Fischen wurden fünftausend gespeist; zwölf Körbe blieben übrig. Einmal sah ich ihn zornig: als er aus dem Tempel alle hinaustrieb, die Tauben und andres verkauften. Ach, und dies: Nicht jene Frau, die so eifrig zwischen dem Herd und dem Tisch hin und her lief – die andre, die ruhig saß, hatte nachher das Licht auf der Stirn. Als einmal Ereiferte fragend ihn ansahen, nahm er ein Kind und stellte es in ihre Mitte. Und der Jünger, der aufgebracht dreinschlug, steckte auf seinen Wink hin das Schwert in die Scheide. Aber den Fremden, der ihm das Kreuz eine Weile trug, blickte er an, wie man einen Bruder ins Auge faßt. Da bin ich wach geworden und war fast erschrocken; denn ihr wart alle schon fort, der Tag war schon nah. Eilig ging ich und wußte nicht recht wohin. Und da traf ich den müden Mann mit dem Bündel. Weit bin ich nicht gekommen, es waren zu viele, die schwer zu tragen hatten. So bin ich des Weges auch nicht gewiß."

Der Adler wandte sich ab, so auch der Stier. Der Löwe hatte den Engel schon nach dem dritten Wort keines Blicks mehr gewürdigt. Aber im Antlitz des Kindes war wieder ein Lächeln. Ohne der Tiere zu achten, ging es auf den Engel zu.