Die goldene Spur

von Traute Arnold, aus: Maria Rathmann: Wir wandern zur Krippe. Evangelische Verlagsanstalt, 1962.


Dorothea Felandt schmückt für ihre Kinder den Christbaum. Aber sie ist nicht, wie in früheren Jahren, erfüllt von Freude. Sie ist innerlich unsäglich müde. Oft läßt sie die Hände sinken, als seien die leichten Glaskugeln, die sie aus den Pappschachteln hervorholt, zu schwer für sie. Ihr Gesicht ist bekümmert. Selbst heute ist ihr Mann nicht nach Hause gekommen. Mittags schon war sein Dienst beendet, jetzt ist später Nachmittag. Auch am Christabend wird er sie mit den Kindern allein lassen. Was soll sie ihnen sagen, wenn sie nach dem Vater fragen werden? Eine Hoffnung stiehlt sich in ihr Herz. Vielleicht kommt er doch! Er wird kleine Geschenke für die Kinder besorgt haben, bald werden seine Schritte auf der Treppe zu hören sein, und mit fröhlichem Gesicht wird er ihr die Einkäufe zeigen. Unwillkürlich horcht sie hinaus, dann streicht sie sich über die Stirn. Sie träumt im Wachen, was ihr Herz sich heimlich wünscht; sie weiß, die Wirklichkeit wird anders sein: er kommt nicht.

Dorothea will nicht grübeln, sie rafft sich auf, steckt die Lichter an den Baum. Als sie jedoch die bescheidenen Gaben für die Kinder auspackt, sinnt sie schon wieder vor sich hin. Wie müht sie sich, durch Heimarbeit das nötige Wirtschaftsgeld zu verdienen! Viele Stunden täglich näht sie Knöpfe an Strampelhöschen und Kinderpullover und häkelt kleine Ösen dazu. Sind die Hände noch so flink, der Verdienst bleibt gering. Doch ist die Mühsal um das tägliche Auskommen nicht die einzige Ursache, daß sie mutlos und ohne Hoffnung ist. Wie hatte sie sich gefreut, als ihr Mann aus dem Kriege heimkehrte. Damals glaubte sie, eine neue, glückliche Zeit bräche an. Die Trennung, das verschiedenartige Erleben so vieler Jahre, hatte die Eheleute einander entfremdet. Ihr Mann fand sich in einem geordneten Leben schwer zurecht, er war düster und wortkarg geworden und fing an zu trinken. Die Vorhaltungen, die sie ihm in der ersten Zeit gemacht hatte, verschlossen ihn noch mehr gegen sie; denn er spürte aus ihnen die Abneigung, die sie erfüllte, wenn er betrunken nach Hause kam. Er verhielt sich seitdem zu ihr und den Kindern feindselig.

Die Nachbarn machen es sich leicht, sie raten, sie solle sich scheiden lassen. Weshalb tut sie es nicht? Sie muß es sich eingestehen, sie liebt ihren Mann immer noch. Vermag sie ihm nicht aus seiner Not zu helfen, weil sie ihm nicht die Liebe zeigt, die sie für ihn im Herzen trägt?


Lautes Poltern im Treppenhaus läßt sie zusammenfahren, sie stürzt hastig an die Tür: Julius Felandt ist doch nach Hause gekommen! Seine Augen sind glasig, schwankend die Schritte, unwirsch schiebt er seine Frau zur Seite und geht in das Zimmer. Ein böses Zucken gleitet über sein Gesicht, als er den Christbaum sieht. Krachend wirft er die Stühle um, packt den Baum, schleudert ihn mit Wucht zu Boden. Das vielfache Klingen der zerbrechenden Glaskugeln und Glocken steigert seine Wut. In sinnloser Raserei tritt er auf dem Baum herum, zertrümmert Jochens Pferdestall, zerschellt die kleine Puppe auf dem Fußboden und schleudert die blaue Wiege mit den roten Herzen in die Ecke. Das Sagenbuch allein entgeht der Zerstörung, die Mutter hält es angstvoll an die Brust gepreßt. Bei seinem blindwütigen Treiben stolpert der Mann über den Baum. Der Sturz ernüchtert ihn, er steht auf, verläßt wortlos die Wohnung und geht mit dröhnenden Schritten die Treppe wieder hinunter.

Verstört blickt Dorothea Felandt ihm durch die offene Tür nach, kaum reicht ihre Kraft, sie zu schließen. Sicher haben die Mitbewohner des Hauses den Lärm gehört und spähen ihrem betrunkenen Manne neugierig nach. Sie drängt die beschämenden Gedanken zurück. Viel dringender ist es, zu überlegen, was sie tun soll, um ihren Kindern das Fest zu retten, sind doch die kleinen Freuden für sie dahin.

Es klingelt! Günther wird es sein, der mit seinen Schulfreunden rodeln gegangen ist. Die Mutter nimmt alle Kraft zusammen, damit der Junge ihr nicht die verzweifelte Ratlosigkeit anmerke. Sie öffnet die Tür.

Aufgeregt redet Günter auf sie ein: „Mutter, wir müssen gleich zur Kirche gehen, Richters gehen auch schon, sie sagen, es wird voll heute. Wenn wir später gehen, bekommen wir nur hinten einen Platz und können nichts sehen. Mutter, wir gehen doch auch sofort?“
„Günter, ich bin mit den Vorbereitungen nicht fertig geworden, ich habe es einfach nicht geschafft. Ich werde Frau Richter bitten, dich in die Kirche mitzunehmen. Wenn du wiederkommst, erzählst du mir alles. Ich mache inzwischen zu Hause alles fein, und dann feiern wir Weihnachten!“
Warm und herzlich spricht sie, das hilft Günter über die Enttäuschung hinweg, nicht mit Mutter und Geschwistern die Christvesper zu besuchen. Unten bei Richters geht schon die Tür, die Mutter beugt sich auf halber Treppe über das Geländer und bittet die Nachbarin, sich ihres Jungen anzunehmen.
„Aber gern, Frau Felandt, ich weiß, es ist nicht einfach für Sie.“ Die teilnahmsvollen Worte der Nachbarin schmerzen Dorothea ein wenig, doch sie ist erleichtert, daß Günter fort ist.
 

Zwei Stunden Zeit hat sie gewonnen. Sie tritt in die verwüstete Weihnachtsstube, richtet den Baum auf, biegt seine Zweige zurecht, schneidet abgebrochene Äste aus. Die bunten Scherben des Glasschmucks fegt sie eilig zusammen, zerkleinert sie mit der Nudelrolle auf einem Holzbrett, schneidet Sterne aus Pappe, bestreicht sie mit Leim und streut die Scherben darauf. Glitzernde Sterne entstehen unter ihren geschickten Händen. Watte, in kleine Flocken verteilt, vollendet den Schmuck des Christbaums. Seltsam fremd sieht der Baum aus, doch Dorothea ist über ihn beglückt. Günters Buch ist heil, die Wiege für Hannele hat nur an einer Seite eine helle Schramme, die mit Tinte dunkel gefärbt werden kann. Sie stopft die kleinen Betten hinein, das Puppenkind dazu wird Hannele später erhalten. Für Jochen ist nichts da. Fieberhaft sucht die Mutter in ihrer Briefkassette nach bunten Postkarten, löst aus dem Photoalbum leere Blätter heraus, heftet sie mit buntem Band zusammen, schneidet die weißen Ränder der Postkarten ab und klebt die Bilder auf. Das Geschenk für Jochen ist fertig.

Die Krippe, die unter dem Baum gestanden hatte, ist stark beschädigt. Das Christkind ist zertreten - am Heiligen Abend totgetreten in ihrem Hause. Dem Joseph muß der Mantel nachgepinselt werden, Maria und zwei Hirten sind unversehrt, die Schafe sämtlich zerstört. Die Mutter kramt ein Schächtelchen hervor, stopft Holzwolle hinein und stellt es zwischen Maria und Josef. In der Spielzeugkiste der Kleinen sucht sie den Bauernhof, nimmt Kühe und Schafe heraus und stellt sie zu den Hirten. Das Lämpchen, das den Stern über der Krippe erhellt, ist wie durch ein Wunder heil geblieben und brennt.

Dorotheas Gesicht glüht vor Eifer, bei ihrem eiligen Tun ist alle Müdigkeit verflogen. Sie lächelt. Es ist doch noch eine Weihnachtsstube geworden! Nur die winzigen Glassplitter, die sich in den Fußboden eingetreten und in den feinen Härchen des Teppichs festgesetzt haben, sind nicht wegzubringen.

Jochen und Hannele sind aufgewacht und jauchzen der Mutter entgegen, als sie zu ihnen kommt, sie anzuziehen. Schon klingelt Günter an der Tür und gesellt sich erwartungsvoll zu den Geschwistern. Die Mutter zündet die Kerzen an und läutet mit Silberlöffel und Teeglas. Das klingt ähnlich wie die Glocke, die in Scherben ging. Die Kinder haben sich an den Händen gefaßt und ziehen singend in die Weihnachtsstube ein. Der stille Kerzenschimmer läßt sie andächtig staunen, sie freuen sich an dem warmen Glanz. Ihre Herzen sind in Liebe und Freude aufgetan.

Nach einiger Zeit jedoch wundert sich Günter darüber, daß der Christbaum anders aussieht als in den Jahren zuvor. Er bemerkt die verstreuten glitzernden Scherben am Boden und fragt nach ihrer Herkunft. Jetzt entdecken Jochen und Hannele sie ebenfalls. Die Mutter nimmt die beiden Jüngsten in den Arm und erklärt ihnen: „Wißt ihr, als ihr noch schlieft und Günter schon zur Kirche gegangen war und es hier in der Stube ganz still war, ist das Christkind zu uns gekommen. Es ist durch unsere Stube gegangen und überall, wohin sein Fuß trat, blieb eine goldene Spur zurück.“

„Ach, Mutter, das Christkind war bei uns? Warum hast du uns nicht schnell geweckt?“ Ehe die Mutter antworten kann, wendet sich Jochen den golden glitzernden Scherben zu und rutscht auf allen Vieren der Spur nach. „Mutter, bis zum Schrank ist das Christkind gegangen und rund um den Tisch auch!“ stellt er begeistert fest. Günter sieht die Mutter prüfend an und lächelt ihr verständnisvoll zu. Sie lenkt ab: „Kommt, Kinder, wir singen weiter!“, und hell stimmt sie an: „Du lieber, heilger, frommer Christ, der für uns Kinder kommen ist, damit wir sollen weiß und rein und rechte Kinder Gottes sein.“ Fröhlich singen die Kinder mit. Der Argwohn, der in Günters Gesicht zu lesen war, verliert sich, er ist glückliches Kind wie die anderen. Bei Felandts ist Weihnachten geworden, das erkennen selbst Richters im unteren Stockwerk an dem hellen Gesang über ihnen, und Frau Richter sagt: „Woher die Frau nur die Kraft nimmt, ein solches Leben zu ertragen? Vor wenigen Stunden kam der Mann total betrunken heim, schlug der Frau alles in Scherben, und nun singen sie, als sei es bei ihnen wie bei anderen Leuten.“

Die Mutter bringt Jochen und Hannele zu Bett. Glücklichsein macht müde! Noch während des Abendgebetes fallen den Kindern die Augen zu, ein Lächeln huscht über ihre Gesichter, die Köpfchen sinken seitlich in die Kissen. Daß ihre Kinder in Frieden Weihnachten feiern konnten, macht Dorothea tief dankbar, sie atmet erlöst auf.


Günter sitzt noch im Wohnzimmer, er ist über sein Sagenbuch gebeugt und liest mit hochroten Wangen. Doch kaum ist die Mutter zu ihm zurückgekehrt, klappt er das Buch zu. „Mutter, warum ist Vater nicht bei uns? Herr Richter arbeitet viele Wochen auswärts, aber Weihnachten kommt er heim. Weshalb ist Vater immer betrunken und kümmert sich überhaupt nicht mehr um uns?“ „Günter, ich weiß es nicht! Vater muß sehr unglücklich sein, daß er soviel trinkt. Es ist traurig, daß wir ihm alle nicht helfen können.“ Die Mutter weiß, in dieser Stunde muß sie mit ihrem Zwölfjährigen wie mit einem Erwachsenen reden.

„Wenn Vater was hat, soll er dir's doch sagen! Was hat er denn vom Trinken?“ begehrt der Junge auf. „Günter, wir wollen nicht über Vater sprechen, er ist nicht da und kann nichts dazu sagen. Wir beide wollen Vater recht liebhaben, vielleicht hilft ihm das doch einmal.“ „Liebhaben? Ich kann Vater nicht mehr liebhaben. Niemals mehr ist es richtig schön bei uns, bloß weil Vater so ist.“ „Niemals, Günter? Auch heute nicht?“ fragt die Mutter traurig. „Heute war es schön, aber ich habe immer Angst gehabt, Vater würde betrunken nach Hause kommen und alles verderben, nur manchmal habe ich das ein bißchen vergessen. Vater soll überhaupt nicht mehr wiederkommen, dann wäre es auch bei uns wieder schön.“

Die Mutter ist über Günters Gedanken erschrocken. „Junge! Es ist doch dein Vater! So etwas darfst du nicht denken! Was würde aus Vater, wenn er nicht zu uns wiederkommen dürfte? Wir müßten Vater viel öfter zeigen, daß wir ihn liebhaben, wenn auch alles gegen Vater spricht, was er jetzt tut und wie er ist.“ Günter schüttelt den Kopf. „Hat Vater uns denn lieb? Wenn er uns liebhätte, wäre er heute gekommen.“ „Richtige Liebe, mein Junge, fragt nicht danach, ob der andere die gleiche Liebe für uns zeigt; sie will nichts für sich selbst, sie will das Gute für den anderen. Nur solche Liebe kann uns vom Bösen und Argen befreien und erlösen. So liebt uns Gott. Wir Menschen vergessen das gern, weil wir immer nur an uns denken. Auch ich habe das manches Mal vergessen.“

Günter schweigt, er öffnet sein Buch und scheint darin zu lesen; die Mutter jedoch sieht, wie ihr Junge mit den Tränen kämpft, würgt und schluckt, rot wird, weil ihm die Beherrschung viel Mühe macht. „Komm, Günter, gehen auch wir zu Bett! Und wenn du Vater nicht mehr richtig liebhaben kannst, dann will ich dich und Vater noch mehr lieben als bisher, vielleicht liebe ich uns alle noch einmal zusammen.“ Mutters Stimme zittert ein wenig und Günter bemerkt, daß ihr die Tränen ebensonahe sind wie ihm selbst. Die Fragen nach dem Vater hatten ihn so heftig bedrängt, daß er glaubte, sie nicht länger mehr zurückhalten zu können. Jetzt schämt er sich, da er den heimlichen Schmerz seiner Mutter gerade am Christabend aufgewühlt hat.

Am nächsten Morgen herrscht bei Felandts in der Weihnachtsstube fröhliches Leben. Jochen baut aus Nüssen eine lange Eisenbahn und summt glücklich vor sich hin, Hannele macht sich stillvergnügt über ihren bunten Teller her, während Günter in seinem Buch liest. Gelöst sitzt er da, erzählt von Zeit zu Zeit lebhaft, was er gelesen hat und vertieft sich aufs neue in die Sagen.


Mitten in ihren Frieden hinein hören sie es an der Wohnungstür schließen. Mutter und Günter zucken zusammen, und ihr Erschrecken überträgt sich auf die Kleinen, die unruhig werden.

Schritte sind zu hören, der Vater tritt ein. Sein Gesicht ist fahl, die Augen blicken trübe. Mürrisch will er sich an Frau und Kindern vorbeidrücken und zum Schlafraum gehen. Vor dem Christbaum jedoch bleibt er verwundert stehen. Sonderbar sieht der Baum aus, völlig anders als in den Jahren, da er ihn noch zusammen mit seiner Frau geschmückt hatte. Was sind das nur für merkwürdige Sterne, die in den Zweigen hängen?

Sein Blick fällt auf die glitzernden Splitter in den Dielenritzen, er stutzt, dunkel kommt ihm die Erinnerung wieder. Er war es doch gewesen, der gestern in blinde Wut über den Baum geraten war, ihn umgeworfen hatte! Weshalb eigentlich? Wo Kinder sind, muß auch ein Christbaum sein! Der geschmückte Baum in seiner stillen Schönheit hatte ihn in einen Zustand rasender Empörung gebracht. Seine innere Zerrissenheit war ihm bewußt geworden, die ihn ruhelos von Schenke zu Schenke trieb, in betäubenden Rausch hinein. Hatte er nicht seiner eigenen Familie den Christbaum und den Weihnachtsfrieden geneidet? Seine Augen suchen den Gabentisch und finden ihn nicht. Er sieht die bescheidenen Geschenke in den Händen der Kinder. So armselig war es früher nie gewesen!

Jochen nähert sich scheu dem Vater. Noch ist er gehemmt, zu oft ist der Vater rücksichtslos und unberechenbar gewesen, aber jetzt sitzt er ruhig bei ihnen, und Jochen ist erfüllt von dem großen Ereignis, daß das Christkind bei ihnen war. „Weißt du, gestern war das Christkind bei uns und ist durch unsere Stube gegangen und überall da, wo es glänzt, da ist es gewesen. Du kannst die Spur verfolgen, Vater! Mutter hat es gesehen, das Christkind, als wir schliefen und du fort warst. Nicht, Mutter, du hast es richtig gesehen?“ Die Mutter nickt lächelnd.

Julius Felandt setzt sich schwer auf einen Stuhl, er ist wie gebannt, er muß im Zimmer bleiben, obwohl eine heiße Scham in ihm aufsteigt. Das hat also seine Frau den Kindern erzählt, nachdem er die liebevoll hergerichtete Weihnachtsstube zerstört hatte. Hannele bringt zutraulich die Wiege herbei und erklärt: „Richtige Federbetten sind drin, und eine Puppe kommt noch in das Wiegenbett, die hat das Christkind gleich wieder mitgenommen, weil da ein ganz armes Kind war, das gar nichts hatte.“ Den Vater brennen die Worte seines jüngsten Kindes wie Feuer. Gab es wohl ein ärmeres Kind als sein Mädel? Das aber dünkte sich reich!

Seine Frau ist aufgestanden, hat eine Tasse geholt, schenkt Kaffee ein und schiebt ihm den Teller mit dem Christstollen zu. Julius Felandt blickt verstohlen zu ihr hinüber. Eigentlich sieht sie immer noch gut aus. Wie warm blicken ihre Augen, nur um den Mund hat sich ein bitterer Zug eingegraben. Das ist wohl seine Schuld, ebenso das graue Haar, das sie erst kurze Zeit hat. Er sieht es heute zum erstenmal an ihr.

Jochen schiebt sich stolz mit seinem Bilderbuch heran: „Guck, Vater, mein Buch! Es sind nur Bilder, zu lesen ist nichts drin. Mutter sagt, nächstes Jahr, wenn ich zur Schule gehe, bekomme ich eins, das ich auch lesen kann.“ „Das glaube ich auch!“ sagt Julius Felandt rauh und befangen. Es ist seit langem das erste Wort, das er mit seinen Kindern spricht. „Günter, was ist das für ein dickes Buch, in dem du liest?“ Fast verlegen richtet der Vater die Frage an sein ältestes Kind. Günter will trotzig aufbegehren: Was geht dich das an, kümmerst dich ja sonst nicht um uns! Aber er denkt an Mutters zitternde Stimme, als sie gestern abend zu ihm sagte, daß sie alle zusammenlieben wolle. Sein Mund verschließt sich, schweigend reicht er dem Vater das Buch. Julius Felandt blättert zerstreut darin, blickt mehrmals heimlich in das schmale Knabengesicht mit dem klugen Ausdruck, dem verhaltenen Stolz und den lebhaften Augen. Er erkennt die Abwehr gegen ihn, den Vater, die in diesem Gesicht zu lesen ist. Darf er sich darüber wundern? Was hat er in den letzten Jahren für seine Kinder getan, was hat er dafür getan, daß sein Altester ein prächtiger Junge geworden ist? Während er am Sinn des Lebens verzweifelte und sich fallenließ, ist seine Frau den Kindern Mutter gewesen, hat trotz aller Not die Verantwortung für sie getragen. Ihr Leben hat einen Sinn - das fühlt er.

Eine Weile sitzt Julius Felandt schweigend im Kreis seiner Familie. Er spürt, wie seine Frau unruhig wird, weil glückselige Hoffnung und verzweifelte Angst miteinander streiten, jetzt muß er mit ihr sprechen. Es wird ihm schwerfallen; denn Schuld einzugestehen, ist nicht leicht. Wird sie ihn verstehen, wird sie ihm verzeihen können? Ob ein Vertrauen wieder heil werden kann, das so erschüttert worden ist? - Er gibt sich einen Ruck. Ermunternd wendet er sich den Kindern zu: „Los, Kinder, geht an die frische Luft! Günter, du rodelst mit deinen Geschwistern, und dann macht eine tüchtige Schneeballschlacht, ich komme nachher auch und mache mit!“ „Ja?“ Günters Augen blitzen unwillkürlich vor Stolz und Freude auf. Da könnte auch er einmal den Schulfreunden etwas von seinem Vater erzählen. Die kleine Schar zieht von dannen.

Julius Felandt geht zu seiner Frau hinüber. Er sucht nach Worten. „Willst du es noch einmal mit mir versuchen, Dorothea?“ Er sieht ihr einen Augenblick ins Gesicht, dann senkt er wieder seinen Blick. „Ich - ich habe geglaubt, mich könnte niemand mehr liebhaben - du nicht und nicht die Kinder. Heute habe ich erfahren, daß noch nicht alles verloren ist, daß du mich noch liebhast, obgleich ich es nicht verdiene.“ Dorothea schweigt, Bilder erlittener Not und Schmach steigen auf. Sie kämpft sie nieder und erkennt in ihnen auch eigene Schuld, lässige Liebe. Sie reicht ihrem Mann die Hand und antwortet mit einem festen Ja.