Die Nacht des 24. Dezember

von Dino Buzzatti, aus: Gisela Fjelrad (Hg.): Unter dem Tannenbaum. Die schönsten Weihnachtsgeschichten. Bertelsmann, o.J.


Düster ist der alte Bischofsplatz, der Salpeter tropft aus seinen Mauern, und in den Winternächten darin zu verweilen ist eine Qual. Und die Kathedrale daneben ist gewaltig groß, ein Leben reicht nicht aus, um sie ganz zu durchwandern, und es gibt darin ein solches Gewirr von Kapellen und Sakristeien, daß einige nach jahrhundertelanger Verlassenheit noch fast unerforscht sind. Was wird - so fragt man sich - der abgezehrte Erzbischof am Weihnachtsabend ganz allein tun, wenn die Stadt das Fest begeht? Wie wird er der Schwermut Herr werden? Alle haben einen Trost; das Kind hat die Eisenbahn und den Kasperle, das Schwesterchen hat die Puppe, die Mutter hat die Kinder um sich, der Kranke hat eine neue Hoffnung, der alte Junggeselle hatte den Gefährten seiner Zerstreuungen, der Häftling die Stimme eines andern. aus der Nachbarzelle. Was aber wird der Erzbischof tun?

Don Valentino, der diensteifrige Sekretär Seiner Exzellenz, lächelte, wenn er die Leute so reden hörte. Der Erzbischof hat Gott am Weihnachtsabend.
Wenn er mutterseelenallein inmitten der eisigen, leeren Kathedrale kniet, könnte er auf den ersten Blick fast Mitleid erwecken. Aber wenn die Leute wüßten! Mutterseelenallein ist er nicht, und er friert nicht einmal und fühlt sich nicht verlassen. Am Weihnachtsabend schwebt Gott im Tempel, für den Erzbischof, und die Kirchenschiffe quellen buchstäblich von Gott über, und die Türen können sich nur mühsam schließen.
So ist der Dom an jenem Abend: überströmend von Gott. Und obwohl Don Valentino wußte, daß es nicht seines Amtes war, hielt er sich doch gar zu gerne damit auf, einen Platz für den Gebetstuhl des Kirchenfürsten zu suchen. Das war freilich etwas anderes als Weihnachtsbäume, Truthühner und Schaumwein. Das war ein Weihnachtsabend. Aber mitten in diesen Gedanken hörte er an eine Tür klopfen.

Wer klopft am Weihnachtsabend an die Domtür? fragte sich Don Valentino. „Haben die Leute noch nicht genug gebetet? Was für eine Sucht hat sie ergriffen?“ Mit diesen Worten ging er öffnen, und mit einem Windstoß trat ein armer, zerlumpter Mann herein. „Wieviel von Gott ist hier!“ rief er lächelnd aus und sah sich um. „Wieviel Schönheit! Man spürt es sogar von draußen. Monsignore, könnten Sie mir nicht ein wenig davon abgeben? Denken Sie, es ist der Heilige Abend.“

„Das gehört Seiner Exzellenz, dem Erzbischof“, antwortete der Priester. „Er braucht es in wenigen Stunden. Seine Exzellenz lebt schon wie ein Heiliger, du wirst doch nicht verlangen, daß er jetzt auch auf Gott verzichtet! Und außerdem bin ich niemals Monsignore gewesen.“
„Und auch nicht ein kleines bißchen könnten Sie mir geben, Hochwürden? Es ist soviel davon da! Seine Exzellenz würde es gar nicht einmal merken!“
„Nein, habe ich gesagt ... du kannst gehen ... der Dom ist für die Allgemeinheit geschlossen“, und er geleitete den Armen mit einem Fünf-Lire-Schein hinaus.

Aber als der Unglückliche aus der Kirche hinausging, verschwand im gleichen Augenblick auch Gott. Bestürzt schaute sich Don Valentino um und forschte in den dunklen Gewölben: selbst da oben war Gott nicht mehr. Dieser prächtige Apparat von Säulen, Statuen, Baldachinen, Altären, Katafalken, Leuchtern und Drapierungen, sonst immer so geheimnisvoll und mächtig, war unversehens düster und ungastlich geworden. Und in ein paar Stunden sollte der Erzbischof kommen. In höchster Erregung öffnete Don Valentino eine der äußeren Pforten und blickte auf den Platz. Nichts. Auch draußen keine Spur von Gott, wiewohl es Weihnachten war. Aus den tausend erleuchteten Fenstern kam das Echo von Gelächter, zerbrochenen Gläsern, Musik und sogar von Flüchen. Keine Glocken, keine Lieder.

Dort Valentino ging in die Nacht hinaus, schritt durch die unheiligen Straßen, die von dem Lärm hemmungsloser Gelage widerhallten. Aber er wußte die rechte Anschrift. Als er in das Haus trat, setzte sich die befreundete Familie gerade zu Tisch.
Alle sahen einander wohlwollend an, und um sie herum war ein wenig von Gott.
„Frohe Weihnachten, Hochwürden“, sagte der Vater. „Wollen Sie nicht unser Gast sein?“
„Ich habe Eile, ihr Freunde“, antwortete er. „Durch eine Unachtsamkeit meinerseits hat Gott den Dom verlassen, und Seine Exzellenz kommt gleich zum Gebet. Könnt ihr mir nicht euern Herrgott geben? Ihr seid ja in Gesellschaft und braucht ihn nicht so unbedingt.“
„Mein lieber Dort Valentino“, sagte der Familienvater, „Sie vergessen, möchte ich sagen, daß heute Weihnachten ist. Gerade heute sollten meine Kinder ohne Gott auskommen? Ich wundere mich, Don Valentino.“
Und im gleichen Augenblick, in dem der Mann so sprach, schlüpfte Gott aus dem Hause, das freundliche Lächeln erlosch, und der Truthahnbraten war wie Sand zwischen den Zähnen.

Und wieder hinaus in die Nacht und durch die verlassenen Straßen. Don Valentino lief und lief und erblickte ihn schließlich von neuem. Er war bis an die Tore der Stadt gekommen, und vor ihm breitete sich in der Dunkelheit, leicht im Schneegewande schimmernd, das weite Land. Über den Wiesen und den Zeilen der Maulbeerbäume schwebte Gott, als wartete er. Don Valentino sank in die Knie.
„Aber was machen Sie, Hochwürden?“ fragte ihn ein Bauer. „Wollen Sie sich in dieser Kälte eine Krankheit holen?“
„Schau da unten, mein Sohn! Siehst du nicht?“
Der Bauer blickte ohne Erstaunen dahin.
„Das ist unser“, sagte er. „Jede Weihnacht kommt er, um unsere Felder zu segnen.“
„Höre“, sagte der Priester, „könntest du mir nicht ein wenig davon geben? Wir sind in der Stadt geblieben, sogar die Kirchen sind leer. Gib mir ein wenig davon ab, damit wenigstens der Erzbischof ein anständiges Weihnachten feiern kann.“
„Fällt mir nicht im Traume ein, ihr lieben Hochwürden! Wer weiß, was für ekelhafte Sünde ihr in der Stadt begangen habt. Das ist eure Schuld. Seht allein zu.“
„Gewiß, es ist gesündigt worden. Und wer sündigt nicht? Aber du kannst viele Seelen retten, mein Sohn, wenn du mir nur ja sagst.“
„Ich habe genug mit der Rettung meiner eigenen zu tun!“ sagte der Bauer mit höhnischem Lachen, und im gleichen Augenblick hob sich Gott von seinen Feldern und verschwand im Dunkel.

Und Don Valentino ging weiter und suchte. Gott schien seltener zu werden, und wer ein bißchen davon besaß, wollte nichts hergeben (aber im gleichen Augenblick, da er mit „Nein“ antwortete, verschwand Gott und entfernte sich immer weiter).
Endlich stand Don Valentino am Rande einer grenzenlosen Heide, und in der Ferne am Horizont leuchtete Gott sanft wie eine längliche Wolke. Der Priester warf sich in den Schnee auf die Knie.
„Warte auf mich, o Herr“, bat er, „durch meine Schuld ist der Erzbischof heute allein geblieben.“
Seine Füße waren zu Eis erstarrt, er lief im Schnee weiter und sank bis ans Knie ein, und alle Augenblicke fiel er der Länge nach hin. Wie lange konnte er es noch aushalten?

Endlich vernahm er einen großen, leidenschaftlichen Chor von Engelsstimmen, ein Lichtstrahl brach durch den Nebel. Er öffnete ein hölzernes Türchen, es war eine riesige Kirche, und in ihrer Mitte betete ein Priester zwischen einigen Lichtern. Und die Kirche war voll des Paradieses.
„Bruder“, seufzte Dort Valentino, am Ende seiner Kräfte und mit Eisnadeln bedeckt, „habe Mitleid mit mir. Mein Erzbischof ist durch meine Schuld allein geblieben und braucht Gott. Gib mir ein bißchen von ihm, ich bitte dich.“
Langsam wandte sich der Betende um. Und Don Valentino wurde, als er ihn erkannte, fast noch bleicher, als er ohnedies war.
„Ein gesegnetes Weihnachten dir, Don Valentino“, rief der Erzbischof aus und kam ihm entgegen, ganz von Gott umgeben. „Aber Junge, wo bist du nur hingelaufen? Was hast du um des Himmels willen in dieser bärenkalten Nacht draußen gesucht?“