Vom Engel, der nicht mitsingen wollte

von Werner Reiser, aus: Sonja Hartl (Hg.): Die schönsten Engelsgeschichten. Arena, 1995.


Als die Menge der himmlischen Heerscharen über den Feldern von Bethlehem jubelte: „Ehre sei Gott in den Höhen und Friede auf Erden unter den Menschen“, hörte ein kleiner Engel plötzlich zu singen auf. Obwohl er im unendlichen Chor nur eine kleine Stimme war, machte sich sein Schweigen doch bemerkbar. Engel singen in ge­schlossenen Reihen, da fällt jede Lücke sogleich auf. Die Sänger neben ihm stutzten und setzten ebenfalls aus. Das Schweigen pflanzte sich rasch fort und hätte beinahe den ganzen Chor ins Wan­ken gebracht, wenn nicht einige unbeirrbare Großengel mit kräftigem Anschwellen der Stim­men den Zusammenbruch des Gesanges verhin­dert hätten.

Einer von ihnen ging dem gefährlichen Schwei­gen nach. Mit bewährtem Kopfnicken ordnete er das weitere Singen in der Umgebung und wandte sich dem kleinen Engel zu.

„Warum willst du nicht singen!“ fragte er ihn streng.

Der antwortete: „Ich wollte ja singen. Ich habe meinen Part gesungen bis zum 'Ehre sei Gott in den Höhen‘. Aber als dann das mit dem 'Friede auf Erden unter den Menschen‘ kam, konnte ich nicht mehr weiter mitsingen. Auf einmal sah ich die vielen römischen Soldaten in diesem Land und in allen Ländern. Immer und überall verbrei­ten sie Krieg und Schrecken, bringen Junge und Alte um und nennen das römischen Frieden. Und auch wo nicht Soldaten sind, herrschen Streit und Gewalt, fliegen Fäuste und böse Worte zwischen den Menschen und regiert die Bitterkeit gegen Andersdenkende. Sogar dieses Paar mit dem neu­geborenen Kind mußte wegen der Militärsteuer nach Bethlehem ziehen, und wer weiß, was die Menschen mit diesem Kind machen werden!“

„Weißt denn du es?“ unterbrach ihn der Groß­engel.
„Nein, ich weiß es nicht und kann es nicht voraus­sehen“, erwiderte der Kleine. „Aber das, was ich sehe, genügt mir. Es ist nicht wahr, daß auf Erden Friede unter den Menschen ist, und ich singe nicht gegen meine Überzeugung!“ Und er zeigte ein trotziges Gesicht. Einige seiner jüngeren Nach­barn riefen laut Beifall.
„Schweigt! - vielmehr: singt!“ rief der große En­gel ihnen zu und nahm den jungen Rebellen zur Seite.
Dort sprach er ihm zu: „Du willst also wissen, was Friede ist? Du lässest zu, daß ein friedloser Ge­danke durch dein Gemüt zieht, und steckst ande­re mit deiner Unruhe an? Du brichst die Harmo­nie unseres Gotteslobes und störst die Einheit der himmlischen Welt, weil dir der Unfriede der menschlichen Welt zu schaffen macht? Du ver­stehst nicht, was in dieser Nacht in Bethlehem geschehen ist, und willst die Not der ganzen Welt verstehen?“

Der kleine Engel verteidigte sich: „Ich behaupte nicht, alles zu verstehen. Aber ich merke doch den Unterschied zwischen dem, was wir singen, und dem, was auf Erden ist. Der Unterschied ist für mein Empfinden zu groß, und ich halte diese Spannung nicht länger aus.“

Der große Engel schaute ihn lange schweigend an. Er sah wie abwesend aus. Es war, als ob er auf eine höhere Weisung lauschen würde. Dann nick­te er und begann zu reden:

„Gut. Du leidest am Zwiespalt zwischen Himmel. und Erde, zwischen der Höhe und der Tiefe. So wisse denn, daß in dieser Nacht ebendieser Zwie­spalt überbrückt wurde. Dieses Kind, das gebo­ren wurde und um dessen Zukunft du dir Sorgen machst, soll unseren Frieden in die Welt bringen. Gott gibt in dieser Nacht seinen Frieden allen und will auch den Streit der Menschen gegen ihn beenden. Deshalb singen wir, auch wenn die Men­schen dieses Geheimnis mit all seinen Auswir­kungen noch nicht hören und verstehen. Wir übertönen mit unserem Gesang nicht den Zwie­spalt, wie du meinst. Wir singen das neue Lied.“ Der kleine Engel rief: „Wenn es so ist, singe ich gern weiter.“

Der Große schüttelte den Kopf und sprach: „Du wirst nicht mitsingen. Du wirst einen andern Dienst übernehmen. Du wirst nicht mit uns in die Höhe zurückkehren. Du wirst von heute an den Frieden Gottes und dieses Kindes zu den Men­schen tragen. Tag und Nacht wirst du unterwegs sein. Du sollst an ihre Häuser pochen und ihnen die Sehnsucht nach ihm in die Herzen legen. Du mußt bei ihren trotzigen und langwierigen Ver­handlungen dabeisein und mitten ins Gewirr der Meinungen und Drohungen deinen Gedanken fallen lassen. Du mußt ihre heuchlerischen Worte aufdecken und die anderen gegen die falschen Töne mißtrauisch machen, damit die wahre Mei­nung zum Vorschein kommt und sie erschrecken. Sie werden dir die Türe weisen, aber du wirst auf der Schwelle sitzen bleiben und hartnäckig war­ten. Du mußt die Unschuldigen unter deine Flü­gel nehmen und ihr Geschrei an uns weiterleiten. Du wirst nichts zu singen haben, du wirst viel weinen und klagen müssen.“

Der kleine Engel war unter diesen Worten zuerst noch kleiner, dann aber größer und größer gewor­den, ohne daß er es selbst merkte. Er wollte sich gegen diese schwere Aufgabe auflehnen, aber der andere Engel sagte: „Du hast es so gewollt. Du liebst die Wahrheit mehr als das Gotteslob. Dieses Merkmal deines Wesens wird nun zu deinem Auftrag. Und nun geh. Unser Gesang wird dich begleiten, damit du nie vergissest, daß der Friede in dieser Nacht zur Welt gekommen ist.“

Während er noch redete, brach er von einer Palme einen Zweig und hauchte darauf. Und er sprach: „Nimm diesen Zweig mit dir. Er bewahrt den Geruch des Himmels und wird dich in den menschlichen Dünsten stärken.“ Dann ging er an seinen Platz im himmlischen Chor zurück und sang weiter.

Der Engel des Friedens aber setzte seinen Fuß auf die Felder von Bethlehem. Er wanderte mit den Hirten zu dem Kind in der Krippe und öffnete ihnen die Herzen, daß sie verstanden, was sie sahen. Dann ging er in die weite Welt und begann zu wirken. Angefochten und immer neu verwun­det, tut er seither seinen Dienst und sorgt dafür, daß die Sehnsucht nach dem Frieden nie mehr verschwindet, sondern wächst, Menschen beun­ruhigt und dazu antreibt, Frieden zu suchen und zu schaffen. Wer sich ihm öffnet und ihm hilft, hört plötzlich wie von ferne einen Gesang, der ihn ermutigt, das Werk des Friedens unter den Men­schen weiterzuführen.