Vom Fisch unter dem Eise

von Rudolf Otto Wiemer, aus: Maria Rathmann: Wir wandern zur Krippe. Evangelische Verlagsanstalt, 1962.


Silke, der Fisch, wußte schon längst, daß in jener Nacht auch der stummen Kreatur erlaubt sein würde, den Mund aufzutun; er freute sich sehr und beschloß, eine große Rede zu halten. Wer wollte ihn deshalb verdammen? Bedenkt doch, was es heißt: Tag und Nacht stumm sein! Nicht das kleinste Wort über die Lippen bringen, und sei es nur ein „Oh“ oder „Ach“, ein Ruf des Zorns, ein Schrei des Entzückens, ein Hauch der Liebe. Ja freilich, Schweigen ist eine strenge und beschwerliche Übung, das weiß jeder, der es einmal erprobt hat, und wenn der Fisch Silke auch von jeher in dieser Kunst Meister war, so gab es für ihn doch keine schönere Verheißung als eben die: einmal, nur ein einziges Mal nach Herzenslust reden zu dürfen!

Je näher die Nacht also heranrückte, um so mehr fiel dem Fisch Silke ein, worüber es zu sprechen lohne, beispielsweise über die Klarheit des Wassers an hellen Sommertagen, über das schwellende Grün der Schilfgräser, über die Wildheit des Sturmes. Aber mußte man nicht auch der Fischer gedenken, die im Herbst die Flut mit ihren tödlichen Netzen durchzogen? Oder war es besser, statt dessen dem drolligen spitzbärtigen Angler die Ehre zu geben, der am Ufer saß und leise sang oder pfiff, wenn er nicht gerade die Pfeife rauchte? Auch vom Tanz der gläsernen geflügelten Libellen mußte man sprechen, vom zärtlichen Weiß der Seerosenblüte, vom Schauer des Mondlichts auf den zitternden Wellen, vom Gift der gefächerten Schierlingswurzel, vom schwarzen Modderschlamm in der Tiefe oder vom fittichblitzenden Flug der Schwalbe, wenn sie aus dem Äther herabschoß in den Mückenschwarm, der die Luft über dem Wasser kräuselte wie Rauch - oh, die Nacht, diese einzige Nacht würde niemals ausreichen, um alles, was ein Fisch nur auf dem Herzen haben konnte, zu sagen! Denn bisher war noch kein Sterbenswort an den armen Selbstmörder gewendet, der auf dem Grunde des Teiches lag; wie konnte man darüber schweigen, daß er den Tod gesucht hatte aus verschmähter Liebe? Da lag er, die Arme ausgestreckt, im grünlichen Algengewächs, und er schien noch immer zu lächeln, obwohl die Schlammbeitzker und Spulwürmer ihr Möglichstes taten, dieses rührende und unverständliche Lächeln für ewig zu tilgen. Vielleicht, so dachte der Fisch weiter, sollte man auch derart Herzbewegendes und Verletzliches gar nicht erwähnen, weil das Wort von allzu grober Natur ist, nicht geschaffen für das Unaussprechliche. Dafür konnte man endlich dem Geschmeiß seine Verachtung bezeigen, den langbeinigen Teichläufern, den Springschwänzen, den quecksilbrigen Taumelkäfern, oder gar den Sumpfschnecken, den Larven und Raupen, die weder Flossen noch Kiemen haben. Auch den Gelbbrandkäfer sollte man nicht vergessen, noch weniger den Hecht, den grausamsten und räuberischsten der Feinde - ja, dies mußte man tun: den Hecht anklagen, ihn vor Gericht ziehen, ihn verurteilen und bestrafen! Der Hecht verkörperte sozusagen die Ungerechtigkeit in der Welt, er sollte zugleich für alles andere büßen: daß die Sonne das Wasser verdunsten und den Teich austrocknen darf, daß die Netze so unzerreißlich sind, daß die großen Fische die kleinen Fische fressen.

Zuletzt aber besann Silke sich dennoch anders. Er hatte einmal in seinem Leben eine Heldentat vollbracht, nichts Großes und Weltbewegendes, nein, doch hatte er immerhin ein Kind vom Tode gerettet; wenigstens durfte es so ausgelegt werden, wenn man die näheren Umstände kannte. Das Kind hatte Blumen am Teich gepflückt, gelben Hahnenfuß oder roten Weiderich, da stand es plötzlich vor der dunkel gleißenden Flut; es beugte sich vor, sein Spiegelbild zu betrachten, weit vor, noch weiter, und das Ufer war heimtückisch steil. Wäre Silke in diesem Augenblick nicht schreckhaft aus dem Wasser geschnellt, gewiß, das Kind läge jetzt ertrunken auf dem Grunde, grün übersponnen wie jener Selbstmörder, der es jedoch nicht anders gewollt. Die rettende Tat, so hoch Silke selbst sie einschätzte, war allerdings nicht bemerkt worden. Deshalb nahm der Fisch sich vor, allein von dieser Sache zu reden, damit das Edle in der Welt nicht vergessen sei und Silkes Namen unter die Leute käme, ja, Ruhm und Ehre sollten ihm endlich widerfahren.

Als aber die Nacht hereinbrach, war der Himmel dunkel und kalt. Die Erde wurde steinhart, das Wasser im Teiche gefror, zuerst an den Rändern, dann in der Mitte; zuletzt schoß das Eis wie eine dünne, aber unzerbrechliche Haut über Silke zusammen. Da hing der Fisch nun bewegungslos unter dem Eise. Er starrte durch das graue, glanzlose Glas und hielt Ausschau nach dem Stern, denn ein solcher war geweissagt; ohne den Stern würde das Wunderbare sich niemals ereignen.

Aber der Stern kam nicht. Nur die Wolken wanderten rastlos über den Himmel, die Wipfel der Bäume schüttelten sich; manchmal hörte Silke den Sturm heulen, das gab einen fernen, dumpf raunenden Ton, der den Fisch nicht schreckte. Schrecklich war nur das Eis, denn wie konnte man reden mit einer gläsernen Haut über dem Munde? Ach, wenn Silke an alles sich erinnerte, was er zu sagen vorgehabt, wurde seine Enttäuschung so groß, daß er am liebsten geseufzt oder jemandem sein Leid geklagt hätte; aber nicht mal einen Seufzer erlaubte ihm die fischige Natur. Stumm und verzweifelt wartete er in seinem Gefängnis. Er wäre jetzt schon froh gewesen, hätte man ihm statt der langen Rede eine kurze erlaubt, ein paar Worte über den Frühling vielleicht, wenn das Eis schmilzt und die Frösche im sonnigen Brackwasser laichen. Den Hecht anzuklagen, hatte er ganz vergessen. Auch seine Rettungstat schien ihm kaum der Rede wert; man mußte bei so karg zugemessener Zeit von wichtigeren Dingen sprechen, vielleicht vom Stern, und ob man selber daran schuld war, daß der Stern nicht kam. Ja, vom Stern wollte er sprechen, vom Stern ganz allein; plötzlich wußte Silke, der Fisch, daß es nichts Wichtigeres auf der Welt gab als den Stern.

In diesem Augenblick hörte er Schritte. Es kam jemand über das Eis; ein dunkles Gesicht, wie Silke noch nie eines gesehen hatte, beugte sich über die gefrorene Öffnung.

„Ist kein Wasser da?“ fragte eine tiefe, fremdländische Stimmt, und Silke wunderte sich, weil er die Stimme verstand.

(...)

Wer bist du? hätte Silke gern gefragt, aber er konnte ja nicht sprechen, und sicherlich wußte das der Fremde. Er antwortete nämlich, ohne gefragt zu sein. Er sagte: „Ich bin der dritte Weise aus dem Morgenland, Melchior mit Namen. Außer mir gibt es noch zwei andere Weise. Wenn du nicht ein Fisch wärest, hättest du bestimmt davon gehört. Dann wüßtest du auch, daß wir auf der Wanderung sind, den neugeborenen. König zu grüßen und an seinem Throne zu knien. Er ist mächtiger als alle Herren der Welt, mächtiger sogar als der Hecht.“

Dies alles sagte der Fremde lächelnd, so daß man die weißen, kräftigen Zähne sah. Dann fiel ein Schatten in sein Gesicht, und weil es von Natur nicht dunkler werden konnte, erbleichte es ein wenig. Was bekümmert dich?, wollte der Fisch fragen, denn er empfand Mitleid mit dem Fremden.

Der Weise senkte den Kopf und antwortete: „Wir hatten einen Stern, der uns vom Morgenland her den Weg führte. Als wir aber in diesen Wald kamen, fingen wir alle drei an zu streiten, wer den Stern zuerst gesehen hatte, Balthasar, Kaspar oder ich. Wir kamen nicht überein; fast wären wir uns zornig in die Kronen gefahren, da merkten wir, daß der Stern sich verbarg. Soviel wir auch die Hälse reckten, wir sahen ihn nicht mehr. Nur schämen konnten wir uns noch, wir törichten Weisen. Wir brannten ein Feuer an, setzten uns in den Schnee, und ich ging, eine Handvoll Wasser zu suchen. Aber wie ich sehe, ist auch dieser Tümpel zugefroren.“

„Ja“, sagte der Fisch. Diesmal redete Silke wirklich. Das Wort aus dem Eise war deutlich zu hören.

Der Schwarze unterbrach das Seufzen sogleich und bückte sich so tief herab, daß seine knollige Nase fast den Schnee berührte. Da sah er den Stern, der in der gläsernen Haut des Wassers sich spiegelte. Und als der Weise aus Morgenland den Kopf hob, entdeckte er den Stern ebenfalls am Himmel, genau über dem Wasserloch, zwischen den Fichten.

Melchior sprang auf, reckte die Hände, die nicht ganz so schwarz waren wie sein Gesicht, und rief: „Halleluja!“ Dies allerdings war ein Wort, das der Fisch nicht verstand.

Danach rannte der Weise Hals über Kopf zu den Gefährten, und es war ihm gleichgültig, ob der Turban ihm auf die Ohren rutschte, oder ob das prächtige, goldgestickte Gewand ihm wie ein Handtuch um die nackten Beine wirbelte.

Silke, der Fisch, blieb im Eise zurück, und er war sehr glücklich, weil er den Stern entdeckte und weil er obendrein hatte reden dürfen. „Ja“, hatte Silke gesagt. Das war nicht viel, aber genug für jemanden, dem nur ein einziges Wort vergönnt ist.