Ein Geschenk für den Vogel

von Janosch, aus: Marianne Mehling: Vierundzwanzig Tage vor Weihnachten. Knaur, 1979.


Nicht weit von Bobrek am Rande des großen Waldes steht ein altes, weißes Haus. Vor dem Haus in dem kleinen Garten wachsen Sonnenblumen, denn Sonnenblumen sind wichtig. Zum Beispiel an den Winterabenden! Die Kälte lauert vor den Türen, und die Zeit wird lang. Da sitzt man gemütlich hinter dem Ofen und wartet. Man nimmt einen oder zwei Sonnenblumenkerne zwischen die Zähne, schon vergeht die Zeit schneller und - das ist wichtig - man kann besser denken.

Der Mann, der in dem Hause wohnt - das ist der Onkel Poppoff. Er ist bloß ein einfacher Mann, aber Onkel Poppoff weiß von allem, was es bedeutet. Er versteht die Hasensprache, er kann lesen, was die Maikäfer auf die Baumblätter schreiben, er versteht, was die Raben mit ihren Flügeln an den Himmel kratzen, und kann - was für einen alten Mann nicht einfach ist - die Rotkehlchensprache pfeifen. Kommt durch Zufall einer an dem kleinen, weißen Haus vorbei, kann es sein, daß er jemanden pfeifen hört. Etwa so: „Tirilili tirilili tirililitirila, prülititi prülititi prülititi prülita.“ - Das ist die Rotkehlchensprache, und der sie pfeift, das ist der Onkel Poppoff.

Bald kam der Winter über das Land, und der Schnee deckte alles zu. Es war genau zu Weihnachten, da ging Onkel Poppoff auf den Vogelmarkt und kaufte einen Vogel. Einen Hänfling.
An diesem Tag war Onkel Poppoff allein. Und weil gerade Markt war im Dorf, zog er seine Handschuhe an, setzte seine Mütze auf und machte sich auf den Weg. Über die Felder, durch den Schnee, in das Dorf und auf den Markt. In jedem Jahr stand an der gleichen Stelle auf dem Markt der Vogelhändler.
Onkel Poppoff stand lange vor den Käfigen und schaute hinein. Er schaute den Vögeln ins Gesicht, denn an den Augen konnte er erkennen, welchen Vogel er kaufen wollte.

„Der da! Was ist mit dem da?“ fragte er den Vogelhändler. Da saß in einem kleinen Käfig auf dem Boden ein kümmerlicher, grauer Vogel. Er schaute vor sich hin und bewegte sich nicht. Wie tot.
„Ist bloß ein Hänfling“, sagte der Vogelhändler, „gewöhnlicher Vogel, singt nicht, piepst nicht, rührt sich nicht vom Fleck. Kostet nicht viel. Einsfuffzig mit Käfig - aber, und das sage ich ausdrücklich: ohne Garantie.“
„Käfig hab ich selber“, sagte Onkel Poppoff, „was kostet er ohne?“
„Neunzig“, sagte der Mann, und Onkel Poppoff besaß auch bloß neunzig, die er gespart hatte.
Er sagte: „Nehm ich“, und der Mann steckte den Hänfling in den kleinen Käfig, den der Onkel Poppoff in den Händen hielt.
„Ohne Garantie“, rief der Mann ihm nach, „das habe ich gesagt!“

Onkel Poppoff steckte den Käfig unter die Jacke, damit der Vogel nicht fror, und ging nach Hause. Er blieb von Zeit zu Zeit stehen, blies warme Luft in den Käfig, nahm ein paar Sonnenblumenkerne aus der Hosentasche, biß sie auf und legte sie dem Vogel hinein.

Zu Hause machte er ein Feuer an, stellte den Vogel auf den Tisch, gab ihm Futter und Wasser, und als der Abend kam, sagen sie beide vor dem Feuer und lauschten, ob die Glockentöne schon über das Feld kamen.
Bald hatte sich der Vogel aufgewärmt, da hüpfte er herum und sang ein bißchen.
Die Nacht wurde immer tiefer. Es wurde still in der Stube, das Feuer fiel zusammen.
Dann nahm der Onkel Poppoff den Käfig, trug ihn nach draußen, machte die Käfigtür auf und schenkte dem Vogel seinen Wald wieder.

In dieser Nacht träumte Onkel Poppoff von einem Glockenton, der in den Himmel geflogen war und ein Stern wurde.