Die Legende von der Krippe

von Karl Hüllweck, aus: Maria Rathmann: Wir wandern zur Krippe. Evangelische Verlagsanstalt, 1962.


Der Stall in Bethlehem lag wieder dunkel. Wie an jedem Abend. Wie in jeder Nacht. Die schwere Luft von Stroh und ausdünstenden Tierleibern dämpfte die alltäglichen Laute - das Blöken der Schafe, das matte Klirren der Ketten und das Stampfen vieler Füße.

Die alte Pferdekrippe, in der das Kind gelegen hatte, stand abseits. Wie ausgesondert aus dem Ring des Vertrauten. Ihr hölzerner Leib war noch immer durchsummt von dem Gesang der Engel, von himmlischen Saitenspiel und dem Jubilieren der Sterne, das wie silberner Regen auf die Erde gefallen war. Und noch immer sann sie den Geheimnissen jener Nacht nach: Wie die zarte Frauenhand das Kind in sie hineingelegt hatte. Wie die Hirten gekommen waren, um das Kind anzubeten. Wie Stoffel, der Althirt, den Dudelsack geblasen und der Hütejunge seine Schalmei, wobei ihm die rotglühenden Backen vor Eifer schier zu platzen drohten. Und sie wußte nicht, was schöner gewesen war - die schlichte Freude der armen Hirten in ihren zerschlissenen Röcken oder die goldschimmernde Ankunft der Könige, die auf weißen Kamelen angeritten kamen, selber auch weißbärtig und weißhaarig, um den neugeborenen König der Juden mit köstlichen Gaben zu beschenken.

Ach, war ihr nicht zumute gewesen, als schwebe sie unter dem Baldachin des Himmels, schöner, prächtiger als alle Prinzenwiegen, und Hirten und Könige würden kleiner und kleiner, und ihre Gesichter glichen zuletzt nur noch leuchtenden Scheiben in der Nacht, die sich andächtig zu ihnen aufhoben?

So voller Gesichte träumte die alte Krippe. Sie fand sich nicht mehr in ihrem Alltag zurecht und war stolz und etwas hochmütig geworden. Deshalb hüllte sie sich nun immer in Schweigen, selbst in jener traulichen Stunde der Dämmerung, in der die Tiere, die geruhsam ihr Heu zupften, sonst gern ein wenig mit ihr geplaudert hatten. Maultier, Ochs und Esel konnten sich nicht genug darüber wundern, warum die Freundin so stumm und abweisend war. Zumal das Maultier, das sich stets von aller Welt gekränkt fühlte, scharrte sehr erbost mit den Hufen, und das Eselchen, der Schalk, tat das seinige, um die beiden gegeneinander aufzubringen, indem es mit seinem ewigen „I-i-ia“ wie mit einer spitzen Nadel stichelte. Allein „Väterchen“, der Ochs, ließ sich nicht aus der verdienten Ruhe bringen.

„Ihr sollt euch nicht zanken“, brummte er, „was habt ihr schon davon? Es stört nur eure Verdauung!“ Er hielt nichts von Dingen, die über seinen Horizont gingen. „Ein gutes Wiederkäuen ist das halbe Leben...“ Und nachdem er dies gesagt hatte, hob er den mächtigen Kopf, als dächte er tief nach, aber er wartete nur auf den nächsten Bissen, den er wiederkäuen könnte.

Die Krippe erwiderte auf solche Redereien nichts. Sie blieb stumm. Ja, es wurde immer schlimmer mit ihr. Das Maultier kam aus dem Ärger nicht heraus und hatte keinen Appetit mehr. Am meisten jedoch litt das Eselchen darunter, denn es war von Natur gutherzig. Es ließ die Ohren hängen und war sehr bekümmert. Kurz und gut, auf die Dauer wollte es so nicht gehen. Und obwohl der Herbergswirt nichts verstand von der Sprache der Dinge und Tiere, beschloß er doch, die alte Krippe mit einer neuen zu vertauschen. Sie war nun eben alt genug, um in der Ecke zu stehen, verstaubt und mit Spinnweben behangen. Ihr selber machte es nicht viel aus, sie war sogar recht froh darüber. Denn so mochte sie ihren Gedanken ungestört nachhängen.

Einmal aber kam der Schwager des Wirtes von Jerusalem herüber, der in dieser großen Stadt gleichfalls eine Herberge besaß. Und da er die Krippe für seine Pferde vergessen hatte, benutzte er die alte, die herrenlos herumstand. Am Abend lud er sie auf seinen Wagen und nahm sie in die Stadt mit. Auch hier ward sie bald achtlos in einen Winkel gestellt, bis sich ein Prätorianer der kaiserlichen Garde des Pilatus eines Tages die Krippe ausbat und sie in die nahe Kaserne brachte. Nachdem sie eine Zeitlang dem Reitpferd des Statthalters gedient hatte, wanderte sie endlich in ein unterirdisches Verließ, wo man sie bei guter Gelegenheit zu Brennholz zu schlagen gedachte. Unter mancherlei anderem Gerümpel aber wurde sie vergessen. So blieb sie dort viele Jahre stehen. Die Staubschicht, die sie bedeckte, wurde mit den Jahren immer dicker.


Nun war es üblich, daß man in dieses Verließ die Gefangenen brachte, bevor sie ihr Todesurteil empfingen. Die alte Krippe hatte sich daran gewöhnt, daß Menschen unter den rohen Folterungen der Soldaten schrien und jammerten, daß die Nächte, noch dunkler als damals im Stall, erfüllt waren mit Seufzen und Tränen. Ja, sie machte sich nicht einmal mehr etwas daraus. Sie meinte, es geschähe diesen Galgenvögeln eben recht. Im übrigen war sie meist in Erinnerungen versunken an jene Heilige Nacht, und je älter sie wurde, um so mehr wuchs ihre Sehnsucht, den König in seiner Glorie wiederzusehen, den sie in ihrem „Schoß“, wie sie etwas überheblich bei sich selber sagte, getragen hatte.

Eines frühen Morgens vernahm sie aus der Ferne hastige Kommandoworte, das dröhnende Stampfen vieler Soldatenstiefel und ein Volksgemurmel, das auf‑ und abschwoll wie Wogengetöse an steinigen Ufern. Nicht lange, so wurde die Tür aufgerissen, und eine Eskorte von Soldaten schleppte einen Mann herein, dessen nackter Leib aus vielen Wunden blutete, die von schrecklichen Geißelhieben herrührten. Unter den betrunkenen Henkern trieb es am schlimmsten ein junger Offizier, der seinen roten Centuriomantel dem Gefangenen über die mageren Schultern warf, indem er sich ausschütten wollte vor Gelächter. Er zwang ihm auch einen Stab zwischen die gebundenen Hände, und weil ihm dies noch immer nicht genügte, irrten seine kleinen, flinken, blutdürstigen Wieselaugen durch das Verließ, ob noch etwas aufzuspüren wäre, was seine Lust mehrte. Sie blieben an einem Haufen Dorngestrüpp hängen, das auf der Erde herumlag. Spielerisch griff er nach den Zweigen mit den spitzen, fingerlangen Dornen, bog sie zwischen Lachen und Fluchen zu einer armseligen Krone zusammen und drückte sie eigenhändig jenem Unseligen in die Stirn.

Aus dessen Mund war die ganze Zeit nicht ein einziger Wehlaut, nicht ein einziger Schrei der Empörung gekommen. Die alte Krippe gewahrte es mit Erstaunen. Und etwas wie Mitleid ergriff sie, als sie das totenbleiche Gesicht mit den großen sanften Augen sah, die ohne Haß, aber voller Trauer auf den Centurio gerichtet waren. Einen solchen Gefangenen hatte sie in all den Jahren, die sie hier war, noch nicht erlebt. Aber wie erschrak sie, als die Soldaten, taumelnd vor Trunkenheit, in die Knie sanken und ihn anbeteten wie einen Gott. Im Chor brüllten sie durcheinander:

„Gegrüßet seist du, der Juden König!“

In. diesem Augenblick erkannte sie ihn! Die gleiche sanfte Trauer war auch in des Kindes Augen gewesen.

„Er ist es...“, sagte sie immer wieder zu sich, und ein Beben befiel sie, da sie ihn erkannte und sah, wie übel sie ihm mitspielten. „Ich habe mich doch immer gesehnt, ihn in seiner Herrlichkeit zu erleben ... wie in jener Nacht“, klagte sie außer sich. Wo waren die einfältigen Hirten, die goldschimmernden Könige, wo die Engel, die ihm zugejubelt hatten? Nicht einmal ein Stern warf sein Licht in diese unterirdische Kammer. O mein Gott, mein Gott -, jammerte die alte Krippe, und nun, da sie selber wach geworden war, hörte sie auch die Steine der dicken, feuchten Mauern um sich her seufzen.

Unterdessen war ein neues Kommando an die Soldaten ergangen. Sie stürzten hinaus und ließen den Gefangenen allein. Er tat ein paar Schritte, schwankte und fiel zur Erde. Dann richtete er sich mühsam wieder auf und lehnte seinen Kopf mit der furchtbaren Krone stöhnend an den Rand der Krippe.

Dann kehrten die Soldaten wieder zurück, um ihren Gefangenen zur Kreuzigung abzuholen. Ein säbelbeiniger Korporal, ein alter Schnauzbart, murrte laut über den Statthalter, der befohlen hätte, das Urteil sonderlich auf eine Tafel zu setzen. Pah, König der Juden - und was sonst noch? Sollte man doch gleich schreiben: Cäsar, Herr und Heiland der Welt! schalt er. Und da sein grimmiger Blick auf die Krippe fiel, die doch zu nichts mehr nütze war, befahl er schnell, ein Brett herauszuschlagen, es grob zu hobeln und die verlangte Inschrift darauf anzubringen.


Dies also geschah. Und sie wußten nicht, daß es das Herz der Krippe war, das sie mitherausschlugen und oben an den Pfahl hefteten, den Jesus durch die Straßen der Stadt schleppte, als sich der Zug nach Golgatha in Bewegung setzte, an einer Mauer finster schweigender Männer und laut klagender Weiber vorüber.

Die alte Krippe war froh, daß sie bis zuletzt bei ihm bleiben durfte, obwohl sie nun all das Schreckliche miterleben mußte. Sie spürte die Hammerschläge, die ihm die Nägel in die zuckenden Hände trieben, das Beben und Zittern seines armen ohnmächtigen Leibes. Selbst das Schlagen seines Herzens fühlte sie, das langsamer und immer langsamer wurde. Sie vernahm auch den Hohn der triumphierenden Priester und den rohen Spott der Henkersknechte. Und wieder begann sie zu grübeln, warum er nur dies alles ohne Widerspruch litte und nicht die Frevler zerschmettere. Denn sie selber verzehrte sich in Zorn und Kummer.

Bald -, tröstete sie sich, bald wird es geschehen!

Zu ihrem Verwundern aber sah sie, daß auch jetzt kein einziges Wort des Hasses von seinen Lippen kam und daß er sogar seinen Peinigern verzieh.

Und wiewohl sie sich zunächst heftig dagegen auflehnte - weil ja auch noch etwas von dem früheren Hochmut in ihr steckte -, dämmerte doch allmählich in dem gramvollen Herzen eine Ahnung, warum es so sein mußte. Sie spürte, daß es die gleiche Liebe war, die den Herrn in der Heiligen Nacht in einem Stall zur Welt kommen ließ und die sich nicht zu vornehm gedünkt hatte, in einer gewöhnlichen Pferdekrippe zu liegen, als wäre sie eine Königswiege von lauter Gold und Diamanten. Und das Herz entbrannte ihr in Liebe, so stark, daß es gleich einer Flamme lohte und die ungelenken Buchstaben der Inschrift zu glühen anfingen. Aber keiner von den vielen müßigen Gaffern bemerkte das Wunder, weil in der rabenschwarzen Finsternis, die plötzlich auf das Land gefallen war, so seltsame Dinge allüberall geschahen, daß die Leute mit angstvoll geduckten Köpfen wie unter einem drohenden Gewitter in die Stadt flüchteten.

Spät am Abend kamen die Knechte des Ratsherrn Joseph von Arimathia, daß sie den Leichnam des Herrn abnähmen. Einer von ihnen, der oben auf der schwankenden Leiter stand und mit hochgerecktem Arm eine Fackel hielt, schrie auf einmal gellend auf. Denn die Tafel über ihm brannte jetzt lichterloh und stürzte über sie hinweg prasselnd zur Erde. Mit schreckensstarren Augen sahen ihr die Männer nach, und sie schalten erregt den ungeschickten Fackelträger, dem sie die Schuld daran beimaßen. Hielten sie es doch für ein böses Vorzeichen, das sie noch lange scheu untereinander beredeten.

In Wahrheit aber war es das Herz der alten Krippe, das sich ganz von innen her in seiner Glut verzehrt hatte. Und indes sie auf der Erde in glühende Asche zerfiel, büßend auch für allen Hochmut, vernahm sie in verzücktem Sterben den Gesang der Engel und das Jubilieren der Sterne am Himmel wie in der Nacht der seligen Geburt.