Von Ochs und Esel

von Ruth Schaumann, aus: Jutta Radel: Mein erstes Vorlesebuch: Weihnacht. Ravensburger Buchverlag, 1991.


Jedes Jahr in den heiligen zwölf Nächten können die Tiere reden. Die Menschen aber verstehn, was sie zueinander sagen. Und in einer solchen Nacht einmal hat mir ein alter Ochs diese Geschichte erzählt, und der müde Esel, der neben ihm stand, neigte das Haupt mit den langen, seidengrauen Ohren dazu und sagte: „Ja, ja, so ist es.“

Wie die ersten Menschen Gott betrübt und beleidigt hatten, daß der Engel sie forttreiben mußte aus dem hellen Paradies, zogen all die armen Tiere hinterher. Die hatte ja Gott um der Menschen willen gemacht in seinen lieblichen Garten hinein, so mußten sie bei den Menschen bleiben und mit ihnen ziehn, wohin die zogen; das war in viel Betrübnis und sehr viel Not.

Da klagten die Menschen, da klagten die Vögel, da klagten alle Tiere im Wald und die auf dem Felde, und die Fische im bitteren Meer klagten auch, mit Flossen und schuppigen Schwänzen klagten sie, weil sie keine Stimme haben.

Und alles schaute recht sehnsüchtig auf nach dem verlorenen Himmel, ob denn keine Hilfe kommen wolle, wie ein Tau auf verdorrende Kräuter; aber der Himmel blieb zu.

Wie aber die ersten Kinder kamen, die ersten jungen Rehlein, die ersten kleinen Vögel im Nest lagen, die ersten winzigen Lämmer unter den alten Schafen ruhten und kleine Esel auf hohen Beinen zwischen den müden Tieren standen, die noch das Paradies gekannt, hat man manchmal an stillen Abenden eines Engels Stimme singen gehört, fern, fern im Abendrot. Des Engels Stimme sang:

„Gott will nicht ewig tragen
den so gerechten Zorn.
Es wird ein Röslein schlagen
aus bitterlichern Dorn.
Gott wird sein Kind entsenden,
das trägt und löst die Schuld
und wird die Nacht beenden.
O liebe Erde, hab Geduld!“

Wenn dann die Stimme schwieg, war es schon, als sei nicht der Tau, aber Duft vom Tau gekommen. Mensch und Tier blickten sich liebreicher an und ta­ten sich eine kleine Weile nichts mehr zuleid. Aber nur eine kleine, kleine Weile, dann war wieder alles wie zuvor, wehe und dunkel.

Alle tausend Jahre sang der Engel einmal. Und als zehntausend Jahre vergangen waren, da seufzte die ganze Welt: „Wann kommt der Sohn des großen Gottes, wann, o wann?“ Aber er kam immer noch nicht. Und es vergingen tausend Jahre und abermals tausend, und wie der Engel wiederum sang, da zitterte seine Stimme. Und die Menschen fragten sich: „Was zittert des Engels Stimme so sehr, kommt wohl der Sohn Gottes, kommt er nun bald?“

Und wie die Menschen, so sprachen auch die recht traurigen Tiere, die müden, miteinander, und die große Giraffe sagte: „Wenn er kommt, auf den wir alle so warten, werde ich ihn zuerst sehn, ich, die Giraffe, denn ich habe einen recht langen Hals.“

„Nein“, schrie der Adler, „ich sehe ihn zuerst, denn ich fliege ihm entgegen, so hoch, wie Engel fliegen, komme ich auch.“
„Nein, ich“, sagte der Elefant. „Ich bin stark, ich zertrete alle Wälder wie Gras und mache ihrrt eitle recht große Straße, daher er kommt...“
„Nein“, sprach der Löwe, „ich werde rufen mit meiner stärksten Stimme, daß er herbeikommen muß um zu schauen, wer so furchtbar laut ruft - ich sehe ihn zuerst und werde es euch dann sagen.“
„O nein“, sagte die Fledermaus, „er wird zur Nacht kommen, darin niemand sonst wacht als ich und die Eule mit ihren Mondaugen, wir werden ihn sehn, derweilen ihr schlaft.“

Sie waren alle so stolz und schrien durcheinander, und das Pferd meinte: „Er ist ein König, er wird auf mir daherreiten, auf meinem Rücken wird er thronen.“
„Nein, auf mir“, sagte das Dromedar, „ich will ihn viel besser tragen als du...“
„Nein, auf mir“, kam der Elefant, „er ist groß wie Gott, er, der Sohn Gottes, er wird allein Raum haben auf meinem Rücken.“ Und er warf seinen Rüssel in die Luft und hielt ihn ganz still und steif, als halte er den Himmel darauf wie einen Ball. O du törichter Elefant!

Die kleinen, schwachen Tiere aber standen dabei. Sie sagten nichts; was sollten sie auch sagen? Die kleinen Schafe froren so sehr, es war Winter, sie hatten ihre Wolle hergeben müssen. Die kleinen Mäuse zirpten so kläglich, sie hatten Hunger. Den Vögeln hatte der Sturm ihr Nest verweht.

Mitten unter ihnen stand ein blindes Eselein, und ein großer alter Ochse betrachtete seine Hufe, die voll trockenem Schmutz waren, und rieb seinen Rücken an einem toten Baum, er war wund von der Peitsche des Bauern. Und der Ochse sprach zu dem Esel, seinem armen Freund: „Du und ich werden den großen, guten Gott niemals sehn und auch nicht hören, denn du bist blind, und ich bin taub, und unsere Füße tragen uns nicht mehr weit.“

Ganz still gingen alle zwei zurück in ihren armseligen Stall, vor die leere Krippe hin. Und da standen sie nun. Mit. ihnen kam nur ein räudiges Lämmlein, eine hungrige Maus und endlich eine häßliche Spinne, die setzte sich in ihr kleines Netz unterm Balken. Und dann kam die große, tiefe, lange Nacht.

Kein Stern war am Himmel, kein Wind bewegte die Bäume, nur ein Vogel schrie traurig im Schlaf.

Und auf einmal war da ein Stern am schwarzen Himmel, ein riesiger, starker, klarer, ein glänzender Stern, und des geliebten Engels Stimme dabei, die sang:

„Er ist nun auf der Erden,
des großen Gottes Sohn.
Geht hin mit allen Herden
und wollet selig werden
und stehn um seinen Thron.“

Da, horcht, begann der mächtige Löwe sein tiefstes Gebrüll, laut und lauter, stark und stärker, daß seine gewaltige Brust fast zersprang: „Sohn Gottes, komme herbei, daß ich dich sehe. Sohn Gottes, komme herzu!“ Aber wie sehr er auch rief, er hörte sein eigenes Gebrüll nicht mehr, des großen Löwen starke Stimme war so leise geworden wie ein Hauch, der große Löwe war stumm.

Der Elefant aber raste jetzt durch die Stämme, er zertrat sie wie Gras, aber seltsam, hinter ihm standen sie allesamt wieder auf. Und wie der Elefant in die Wüste gerannt kam, fand er sich dort vor einem dunklen Mann, der trug eine Krone. Da beugte sich der Elefant, so groß und schwer er war, und sagte: „Sohn Gottes, großer König, sitz auf, ich habe dich zuerst gesehn, ich, der Elefant.“ Da saß der König auf, aber er lachte leise: „Ich bin nicht der König der Welt, den will ich ja auch suchen, trabe dahin, alter, törichter Elefant, bis wir ihn finden.“ Also ritt der Mohrenkönig Balthasar auf dem Elefanten dahin, immer dem neuen Stern entgegen.

Auch das Dromedar hatte einen König getroffen, und es sagte: „Siehst du, ich habe dich zuerst gesehn,“ Doch das war nur der König Kaspar, den es gefunden.

Auch das stolze Pferd fand einen König und nahm ihn auf seinen Rücken. Es warf die Hufe und den Schwanz, den langen, wie einen Schleier und sagte: „Ich trage den König der Welt, ich, das Pferd.“ Da antwortete der sehr alte Mann auf seinem Rücken traurig: „Gutes Tier, ich heiße Melchior, ich begehre selbst nach dem König, den du suchst, bringe mich hin, bringe mich hin.“

Die Giraffe reckte sich durch das Geäst, sie sah nur den Stern, sonst sah sie nichts, der helle Stern blendete sie.

Der Adler hatte aufsteigen wollen, aber seine Flügel waren schwer wie Blei, ein kleiner Spatz gelangte höher als er.

Die Fledermaus und die Eule flatterten wohl neugierig umher, sie trafen nur Hirten, die schritten rüstig dahin. Sie fragten: „Wohin, ihr Hirten, was hütet ihr nicht heute nacht?“

„Nach dem König der Welt, der heute gekommen ist.“
„Wer hat ihn zuerst gesehn?“ fragte die Eule.
„Ich weiß es nicht“, antwortete der älteste Hirt, „ich gehe ihn grüßen.“

Ja, wer, wer hat ihn zuerst gesehn? Das waren der alte, sehr alte Ochs und das Eselein, das blinde. Das blinde? Ja, dies! Sie standen alle zwei an der Krippe, der leeren. Sie murrten auch nicht, als noch ein armer Mann mit einem sehr schönen Weibe dazu kam, frierend und hungernd wie sie, mit einem winzigen Laternchen, das hängten sie an der Krippenwand auf. Sie schliefen ein vor Ermattung, vor Trauer, vor Hunger und wurden wach an einem sehr hellen, süßen Licht, das vor ihnen war in der Krippe. Der Ochse sah es, der Esel spürte es nur.

Der Ochse sagte zum Esel: „Es ist ein kleines, ein sehr kleines Kind.“

„Ach, sähe ich das kleine, sehr kleine Kind, ich wollte den König der Welt nicht lieber sehn.“

Da lächelte das Kindlein in der Spreu, und das Eselein konnte die schweren Lider erheben und sah das Kindlein vor sich, das sehr kleine Kind.

Es lächelte und es weinte - und der Ochs sagte: „Könnte ich sein Stimmlein vernehmen, wie süß muß es sein; ich wollte den König aller Völker nicht lieber hören, mit aller Musik, darinnen er naht.“ Oh, da hörte der Ochs das sehr kleine Kindlein weinen, ganz zärtlich weinen, aus lauter Lieb', die es zu dem armen Tier empfand, aber es lächelte dennoch dabei.

Auch das räudige Lamm sah nun das Kind, die kleine Maus sah das Kind, und die häßliche Spinne sah das Kind im Stroh des Stalles, und seine Mutter kniete bei ihm. Dann sind die Hirten gekommen, dann die Könige, auf Roß, Elefant und Dromedar; sie knieten und riefen: „O Kind, o König, o Gott`

Ochs und Esel aber hatten es zuerst gesehn, denn den Allerärmsten und den Geduldigsten neigt sich die ewige Liebe zuerst und zutiefst. „Ja, ja, so ist es“, sagte der Esel zu mir, und der Ochs sprach leise: „Und wir werden es wiedersehn in den nächsten Nächten, denn es ist die Zeit, da es kommt.“