Der Weg

Gerold Arreger: Der Weg. Buchbesprechung von: Mieke Mosmuller: Mutter eines Königs. Occident, 2004 (453 S., 22,50€). In: Gegenwart Nr. 4/2012, S. 18. 


„Der junge Mann betrachtete das sorgfältig gefaltete weisse Gewand. Es war weisser als Schnee, es fehlte jedoch der natürliche Glanz. In dem erschütterten Herzen des jungen Mannes wurde dieses Schneeweisse in einem Glanz der Erinnerung lebendig. Es wurde lebendiges Blumenweiss, Blütenweiss, verfärbte sich rosa und wurde in einem einzigen farbenden Wirbel wie die sommerliche Farbenpracht. In diesem Wirbel seines aufgewühlten Herzens wusste er: Hier stand er an der Bahre des Mädchens, das für ihn vorbestimmt gewesen war. Sie hatte als Erinnerung gelebt, aber sie war gestorben, bevor sie in seinem Leben Wirklichkeit hatte werden können.

All seine Tränen flossen aus der Quelle, in der einst das Glück gewohnt hatte. Sie kamen zusammen und wurden ein mächtiger Strom, der das Glück aus seinem Herzen auf seinem Weg mitriss. Er weinte, bis die Quelle versiegte und sein ganzes Vertrauen aus seiner Jugendzeit aus ihm geströmt war. Nie mehr wollte er fühlen... Was war dies für ein Leben, für ein Schicksal, das ihm alles nahm, noch bevor er es überhaupt gehabt hatte? Woher kam die feste Sicherheit, dass dies sein Mädchen war, die Frau, die er hätte finden sollen, die er hätte berühren dürfen, mit seinem Herzen lieben dürfen? Warum war er gerade in diesem Augenblick hier angekommen, um sie noch aufgebahrt sehen zu können? Alles, was Leben in ihm war, starb bei dem Anblick dieser grossen gewaltigen Stille, dieses unwiderruflichen Schweigens. Mit ihr wurde sein Glück begraben, sein Leben, seine Hoffnung... Nie, nie wieder wollte er fühlen...“ (S. 22f.)

Aber das Leben geht weiter. Und es entrollt sich in mächtig-schöner Weise. Der junge Mann, hochbegabt, liebenswürdig, ernst, aus einer alten Kaufmannfamilie stammend, wird Arzt-Professor. Er sucht, vom Tode zu lernen. „Er merkte immer deutlicher, wie die Wissenschaft dieses Sterben als Thema mied, davor zurückschreckte, darum herumredete, darüber hinwegging. Er kam keinen Schritt vorwärts.“ (S. 30) Innerlich hat er, nach dem Tod seines Mädchens, mit dem Leben abgeschlossen. Als Arzt kämpft er gegen den Tod, in sich kämpft er gegen ihn, in der Wissenschaft. Doch dann kommt ein besonderer Patient, er erkennt ihn als Freund, als Geistesfreund, und er muss mit all seinen Kräften um dessen Leben ringen. Beinahe hätte der Tod ihm auch ihn entrissen. Es stellt sich heraus, dass dieser ein östlicher Meister ist. Und die zwei lernen voneinander, östlicher Weg, westlicher Weg. Bei diesem Meister-Freund in den Bergen begegnet er einer jungen Frau. Eine herb-köstliche Liebesgeschichte entspinnt sich. Die drei gehen innere Wege, tauschen sich aus, üben. Zweifel werden überwunden, Missverständnisse geklärt. Geistigkeit und Sinnlichkeit kommen zu ihrem Recht.

Aber wie kann der Arzt, der innerlich Erwachende, es in der Schulmedizin, in dem Spital, weiter aushalten? Seine unbestreitbare fachliche und menschliche Autorität wird da anerkannt, aber die innere Dimension des Menschen strikt verneint. Und wie kann die Liebesbeziehung eines geistig Fortgeschritteren mit einer „Schülerin“ echt, würdig gelebt werden? Können östlicher und abendländischer innerer Weg zusammenfinden? Nicht in „toleranter Gleichberechtigung“ nebeneinander stehend, sondern in Freiheit verschmelzend?

In Mieke Mosmullers Roman(en) spielen sich die grossen Lebensfragen ab, ohne die kleinen, alltäglichen zu übergehen. Ihr Schreiben ist dicht, intensiv, Wahrheits-getränkt, überraschend, sprühend vor Lebendigkeit. Ihre Figuren bewegt die Frage: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten, aus der Lebensnot heraus? Wie lebt man diese Erkenntnisse? Wie vermittelt man sie?

Es ist ein Roman, wo mit den Lehren des Meisters des Abendlandes – so nennt die Autorin Rudolf Steiner – ernstgemacht wird. Wo dieser nicht verleugnet wird. Und der Leser ist ... beschämt. Ach, so müsste man leben. Und der Leser ist hellauf begeistert: Ja, so könnte es sein!! Es ist wahr. Es ist lebendig. – Ich kenne niemanden sonst, der so zu schreiben vermag. (Anzumerken ist, dass die Übersetzung aus dem Holländischen ungenügend ist – in den neueren Büchern der Autorin ist es besser geworden –, ein strapaziertes Sprachgefäss, was jammerschade ist – doch  der Gehalt und Schwung der Geschichte überstrahlt die Mängel bei weitem.)

Gerold Aregger

Mieke Mosmuller:

Mutter eines Königs. Roman
Occident Verlag, Baarle Nassau 2004
(448 S., Fr. 33.20 / 22.50 € )

Aus: Gegenwart, Burgunderstr. 132, CH-3018 Bern