Rudolf Steiner über Gemeinschaftsbildung

Gemeinschaftsbildung im ganzen sozialen Organismus.

 

Die „soziale Frage“ [...] wird für jeden Augenblick der weltgeschichtlichen Entwickelung neu gelöst werden müssen. Denn das Menschenleben ist mit der neuesten Zeit in einen Zustand eingetreten, der aus dem sozial Eingerichteten immer wieder das Antisoziale hervorgehen läßt. Dieses muß stets neu bewältigt werden. Wie ein Organismus einige Zeit nach der Sättigung immer wieder in den Zustand des Hungers eintritt, so der soziale Organismus aus einer Ordnung der Verhältnisse in die Unordnung. Eine Universalarznei zur Ordnung der sozialen Verhältnisse gibt es so wenig wie ein Nahrungsmittel, das für alle Zeiten sättigt. Aber die Menschen können in solche Gemeinschaften eintreten, daß durch ihr lebendiges Zusammenwirken dem Dasein immer wieder die Richtung zum Sozialen gegeben wird. Eine solche Gemeinschaft ist das sich selbst verwaltende geistige Glied des sozialen Organismus.
GA 23, Die Kernpunkte der sozialen Frage, S. 14f.

Wie sich für das Geistesleben aus den Erfahrungen der Gegenwart die freie Selbstverwaltung als soziale Forderung ergibt, so für das Wirtschaftsleben die assoziative Arbeit. [...]
Das Wirtschaftsleben strebt darnach, sich aus seinen eigenen Kräften heraus unabhängig von Staatseinrichtungen, aber auch von staatlicher Denkweise zu gestalten. Es wird dies nur können, wenn sich, nach rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten, Assoziationen bilden, die aus Kreisen von Konsumenten, von Handeltreibenden und Produzenten sich zusammenschließen. [...]
Innerhalb einer Assoziation kann aus Fachkenntnis und Sachlichkeit eine weitgehende Harmonie der Interessen herrschen. [...] In den Assoziationen werden nicht „Lohnarbeiter“ sitzen, die durch ihre Macht von einem Arbeit-Unternehmer möglichst hohen Lohn fordern, sondern es werden Handarbeiter mit den geistigen Leitern der Produktion und mit den konsumierenden Interessenten des Produzierten zusammenwirken, um durch Preisregulierungen Leistungen entsprechend den Gegenleistungen zu gestalten. [...] In Abmachungen von Mensch zu Mensch, von Assoziation zu Assoziation vollzieht sich alles neben der Arbeit. Dazu ist nur notwendig, daß der Zusammenschluß den Einsichten der Arbeitenden und den Interessen der Konsumierenden entspricht. [...]
Greifen nicht andere als wirtschaftliche Kräfte ein, dann wird der Besitzende dem Besitzlosen die Leistung notwendig mit der Gegenleistung ausgleichen müssen. [...]
Wie in dem freien Geistesleben nur die Kräfte wirksam sind, die in ihm selbst liegen, so im assoziativ gestalteten Wirtschaftssystem nur die wirtschaftlichen Werte, die sich durch die Assoziationen herausbilden. Was in dem Wirtschaftsleben der einzelne zu tun hat, das ergibt sich ihm aus dem Zusammenleben mit denen, mit denen er wirtschaftlich assoziiert ist. Dadurch wird er genau so viel Einfluß auf die allgemeine Wirtschaft haben, als seiner Leistung entspricht.
GA 23, Die Kernpunkte der sozialen Frage, S. 15ff.

Nun, das soziale Hauptgesetz, welches durch den Okkultismus aufgewiesen wird, ist das folgende: „Das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist um so größer, je weniger der einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen für sich beansprucht, das heißt, je mehr er von diesen Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgibt, und je mehr seine eigenen Bedürfnisse nicht aus seinen Leistungen, sondern aus den Leistungen der anderen befriedigt werden.“ Alle Einrichtungen innerhalb einer Gesamtheit von Menschen, welche diesem Gesetz widersprechen, müssen bei längerer Dauer irgendwo Elend und Not erzeugen. - Dieses Hauptgesetz gilt für das soziale Leben mit einer solchen Ausschließlichkeit und Notwendigkeit, wie nur irgendein Naturgesetz in bezug auf irgendein gewisses Gebiet von Naturwirkungen gilt. Man darf aber nicht denken, daß es genüge, wenn man dieses Gesetz als ein allgemeines moralisches gelten läßt oder es etwa in die Gesinnung umsetzen wollte, daß ein jeder im Dienste seiner Mitmenschen arbeite. Nein, in der Wirklichkeit lebt das Gesetz nur so, wie es leben soll, wenn es einer Gesamtheit von Menschen gelingt, solche Einrichtungen zu schaffen, daß niemals jemand die Früchte seiner eigenen Arbeit für sich selber in Anspruch nehmen kann, sondern doch diese möglichst ohne Rest der Gesamtheit zugute kommen. Er selbst muß dafür wiederum durch die Arbeit seiner Mitmenschen erhalten werden. Worauf es also ankommt, das ist, daß für die Mitmenschen arbeiten und ein gewisses Einkommen erzielen zwei voneinander ganz getrennte Dinge seien.
Diejenigen, welche sich einbilden, „praktische Menschen“ zu sein, werden - darüber gibt sich der Okkultist keiner Täuschung hin - über diesen „haarsträubenden Idealismus“ nur ein Lächeln haben. Und dennoch ist das obige Gesetz praktischer als nur irgendein anderes, das jemals von „Praktikern“ ausgedacht oder in die Wirklichkeit eingeführt worden ist. [...] Jede Gesamtheit zerfiele nämlich sofort, wenn nicht die Arbeit der einzelnen dem Ganzen zufließen würde. Aber der menschliche Egoismus hat auch von jeher dieses Gesetz durchkreuzt. Er hat für den einzelnen möglichst viel aus seiner Arbeit herauszuschlagen gesucht. Und nur dasjenige, was auf diese Art aus dem Egoismus hervorgegangen ist, hat von jeher Not, Armut und Elend zur Folge gehabt. [...]
Es ist klar, daß dieses Gesetz nichts Geringeres besagt als dieses: Die Menschenwohlfahrt ist um so größer, je geringer der Egoismus ist. Man ist also bei der Umsetzung in die Wirklichkeit darauf angewiesen, daß man es mit Menschen zu tun habe, die den Weg aus dem Egoismus herausfinden. Das ist aber praktisch ganz unmöglich, wenn das Maß von Wohl und Wehe des einzelnen sich nach seiner Arbeit bestimmt. Wer für sich arbeitet, muß allmählich dem Egoismus verfallen. Nur wer ganz für die anderen arbeitet, kann nach und nach ein unegoistischer Arbeiter werden.
Dazu ist aber eine Voraussetzung notwendig. Wenn ein Mensch für einen anderen arbeitet, dann muß er in diesem anderen den Grund zu seiner Arbeit finden; und wenn jemand für die Gesamtheit arbeiten soll, dann muß er den Wert, die Wesenheit und Bedeutung dieser Gesamtheit empfinden und fühlen. Das kann er nur dann, wenn die Gesamtheit noch etwas ganz anderes ist als eine mehr oder weniger unbestimmte Summe von einzelnen Menschen. Sie muß von einem wirklichen Geiste erfüllt sein, an dem ein jeder Anteil nimmt. Sie muß so sein, daß ein jeder sich sagt: sie ist richtig, und ich will, daß sie so ist. Die Gesamtheit muß eine geistige Mission haben; und jeder einzelne muß beitragen wollen, daß diese Mission erfüllt werde. All die unbestimmten, abstrakten Fortschrittsideen, von denen man gewöhnlich redet, können eine solche Mission nicht darstellen. Wenn nur sie herrschen, so wird ein einzelner da, oder eine Gruppe dort arbeiten, ohne daß diese übersehen, wozu sonst ihre Arbeit etwas nütze ist, als daß sie und die Ihrigen, oder etwa noch die Interessen, an denen gerade sie hängen dabei ihre Rechnung finden. - Bis in den einzelsten herunter muß dieser Geist der Gesamtheit lebendig sein. [...]
Aber gerade deshalb kann es sich nie und nimmer darum handeln, daß [...] so auf die Menschen „im theoretischen Sinne“ einzuwirken sei, daß ihnen eine bloße Ansicht darüber vermittelt werde, wie sich die ökonomischen Verhältnisse am besten einrichten lassen. Eine nüchterne ökonomische Theorie kann niemals ein Antrieb gegen die egoistischen Mächte sein. Eine Zeitlang vermag eine solche ökonomische Theorie den Massen einen gewissen Schwung zu verleihen, der dem Scheine nach einem Idealismus ähnlich ist. Auf die Dauer aber kann eine solche Theorie niemandem nützen. Wer einer Menschenmasse eine solche Theorie einimpft, ohne ihr etwas anderes wirklich Geistiges zu geben, der versündigt sich an dem wahren Sinn der menschlichen Entwickelung.
Das, was allein helfen kann, ist eine geistige Weltanschauung, welche durch sich selbst, durch das, was sie zu bieten vermag, sich in die Gedanken, in die Gefühle, in den Willen, kurz in die ganze Seele des Menschen einlebt. Der Glaube, den Owen gehabt hat an die Güte der Menschennatur, ist nur teilweise richtig, zum anderen Teile ist er aber eine der ärgsten Illusionen. Er ist insofern richtig, als in jedem Menschen ein „höheres Selbst“ schlummert, das erweckt werden kann. Aber es kann aus seinem Schlummer nur erlöst werden durch eine Weltauffassung, welche die oben genannten Eigenschaften hat. Bringt man Menschen in Einrichtungen, wie sie von Owen erdacht waren, dann wird die Gemeinschaft im schönsten Sinne gedeihen. Führt man aber Menschen zusammen, die eine solche Weltauffassung nicht haben, dann wird das Gute der Einrichtungen sich ganz notwendig nach einer kürzeren oder längeren Zeit zum Schlechten verkehren müssen. Bei Menschen ohne eine auf den Geist sich richtende Weltauffassung müssen nämlich notwendig gerade diejenigen Einrichtungen, welche den materiellen Wohlstand befördern, auch eine Steigerung des Egoismus bewirken, und damit nach und nach Not, Elend und Armut erzeugen. [...]
Kein Parlament, keine Demokratie, keine Massenagitation, nichts von alledem kann für den tiefer Blickenden eine Bedeutung haben, wenn es das oben ausgesprochene Gesetz verletzt. [...]
Zu einem allgemeinen Heil kann nur eine solche Weltauffassung führen, die alle Seelen ergreifen und das innere Leben in ihnen entzünden kann. [...] Und diese Bedingungen können nicht anders herbeigeführt werden, als wenn Mensch nach Mensch erobert wird. Nur wenn die Menschen wollen, schreitet die Welt vorwärts. Daß sie aber wollen, dazu ist bei jedem die innere Seelenarbeit notwendig. Und diese kann nur Schritt für Schritt geleistet werden.
GA 34, Geisteswissenschaft und soziale Frage, S. 213ff.

Der Mensch muß heute schon feiner organisiert sein, wenn es ihm in der Seele weh tun soll, daß er außer seinem eigenen Dasein andere Menschen in der Welt anschauen, betrachten, sehen muß, denen es schlechter geht als ihm. Gewiß, feiner organisierte Naturen empfinden auch heute schon Leid über das Leid, das über viele Menschen in der Welt ausgegossen ist - aber es müssen eben feiner organisierte Naturen sein. In der sechsten Kulturperiode wird bei denjenigen Menschen, die ganz auf der Höhe dieser Kultur stehen werden, nicht nur jenes Gefühl vorhanden sein, das wir heute als Schmerz empfinden über Elend, Leid und Armut, die verbreitet sind in der Welt, sondern der Mensch wird dann auf der Höhe der Kultur der sechsten nachatlantischen Kulturperiode jedes fremde Leid als sein eigenes Leid empfinden.
15.6.1915, GA 159, S. 302f.

Was aus dem Innersten des Menschen herausstrahlt, was sich verwirklichen will, ist, daß, wenn ein Mensch dem andern gegenübertritt, gewissermaßen aus dem andern Menschen ein Bild herausquillt, ein Bild jener besonderen Art des Gleichgewichtszustandes, den individuell jeder Mensch ausdrückt. Dazu gehört allerdings jenes erhöhte Interesse, welches ich Ihnen als die Grundlage des sozialen Lebens öfter geschildert habe, jenes erhöhte Interesse, das der Mensch am andern Menschen nehmen soll. Wir haben heute noch kein intensives Interesse am andern Menschen, daher kritisieren wir ihn, daher beurteilen wir ihn, daher machen wir uns Urteile nach Sympathien und Antipathien, nicht nach dem objektiven Bilde, das uns aus dem anderen Menschen entgegenspringt.
7.12.1918, GA 186, S. 125. [siehe auch den ganzen Zyklus!]

Es sind ja Abgründe in unserem Zeitalter schon aufgerissen zwischen Mensch und Mensch! In einer Weise, wie es die Menschen gar nicht ahnen, gehen sie heute aneinander vorbei, ohne sich im geringsten zu verstehen. [...] Wie blind heute die Menschen aneinander vorbeigehen, das sieht man dann, wenn diese Menschen in den mannigfaltigsten Gesellschaften und Sozietäten sich vereinigen. Die sind heute oftmals für die Menschen durchaus nicht eine Gelegenheit, Menschenkenntnis sich zu erwerben. Die Menschen können heute jahrelang mit anderen Menschen zusammensein und sie nicht genauer kennen als sie sie kannten, als sie mit ihnen bekannt geworden sind. [...]
Und das ist das ungeheuer Wichtige, daß in uns der Trieb erwacht, nicht bloß den Menschen, wenn wir ihm gegenüberstehen, nach Sympathien und Antipathien zu empfinden, nicht bloß in uns den Trieb erwachen zu lassen, irgend etwas am Menschen zu lieben oder zu hassen, sondern ein liebe- und haßfreies Bild, wie der Mensch ist, in uns zu erwecken.
12.12.1918, GA 186, S. 170ff. [siehe auch den ganzen Zyklus!]

Das ist eigentlich das Punctum saliens der sozialen Frage, daß Arbeitskraft bezahlt werden kann. Es ist auch das, was auf dem Grunde unserer ganzen sozialen Gemeinschaft läßt den Charakter des Egoismus; denn Egoismus muß herrschen in der sozialen Ordnung, wenn der Mensch für das, was er für sich braucht, sich seine Arbeit bezahlen lassen muß. Er muß erwerben für sich. Was als nächste Etappe nach der Überwindung der Sklaverei überwunden werden muß, das ist, daß keines Menschen Arbeit Ware sein kann! Das ist das wirkliche Punctum saliens der sozialen Frage, die das neue Christentum lösen wird. Und [...] jene Dreigliederung der sozialen Ordnung, von der ich Ihnen gesprochen habe, die löst die Ware von der Arbeitskraft ab, so daß die Menschen in der Zukunft nur Ware, nur äußeres Erzeugnis, nur vom Menschen Abgesondertes kaufen und verkaufen werden, daß aber der Mensch [...] aus Bruderliebe für den anderen Menschen arbeiten wird.
Es mag ein weiter Weg sein, um das zu erreichen, doch nichts wird die soziale Frage lösen als einzig und allein dieses. Und wer heute nicht daran glaubt, daß es nur so kommen müsse in der Weltenordnung, der gleicht dem, der zur Zeit des entstehenden Christentums gesagt hätte: Sklaven muß es immer geben. So, wie ein solcher dazumal unrecht gehabt hätte, so hat heute derjenige unrecht, der da sagt: Arbeit muß immer bezahlt werden. [...] Heute können sich die gescheitesten Menschen nicht denken, daß man eine soziale Struktur haben kann, in der die Arbeit noch ganz andere Geltung hat, als wenn sie „bezahlt“ wird. Natürlich wird auch dann aus Arbeit ein Produkt hervorgehen, aber das Produkt wird das einzig und allein zu Kaufende und zu Verkaufende sein. Das wird sozial die Menschen erlösen.
21.12.1918, GA 186, S. 312.

Denn dieses soziale Leben ist ebenso kompliziert wie das Leben irgendeines organischen Wesens. Und nicht das kann die Aufgabe sein, in irgendeine Formel zu bringen, wie die Dinge zu geschehen haben, sondern dem sozialen Organismus diejenige Gliederung zu geben, durch die er von selbst arbeitet und die Dinge so in Ordnung bringt, wie der menschliche Organismus seine Funktionen in Ordnung bringt. Darum kann es sich nur handeln.
Also Sie sehen, es muß die Sache von einer ganz andern Seite aufgefaßt werden. Sie muß von der Seite aufgefaßt werden, in das wirkliche Wesen des sozialen Organismus wirklich einzudringen. Das ist es, was wichtiger ist als alles Reden von Gemeinschaft und Gemeinschaftsbildung.
31.1.1919, GA 188, S. 217f.

Man lernt heute die Menschen fast gar nicht durch das kennen, was sie reden. Durch das, was aus ihrem Unterbewußtsein heraufdämmert, durch die Art und Weise, wie die Menschen reden, lernt man sie viel mehr kennen als durch den Inhalt dessen, was sie reden. Denn der Inhalt dessen, was sie reden, ist zumeist nur der fortgepflanzte Inhalt einer absterbenden oder schon abgestorbenen Zeit. Das, was in dem Unterseelischen der Menschen sitzt, das ist dasjenige, was neu ist.
Und so sehen wir denn, daß die proletarische Bevölkerung überall hinstreut kategorische Begriffe, Worte, die ihr eingetrichtert sind aus dem Marxismus oder aus sonstigen Quellen. Und in Wahrheit ist unter den Impulsen – was ist nicht alles unter den Impulsen! –, vor allen Dingen der Impuls, die menschliche Arbeitskraft nicht mehr Ware sein zu lassen. Fragt man heute den modernen Proletarier: Was willst du eigentlich? – antwortet er: Ich will Verstaatlichung oder Vergesellschaftung der Produktionsmittel, ich will Sozialisierung und so weiter. – Würde er unter den verschiedenen Punkten, die man ja alle in ihrer wahren Gestalt kennenlernen kann, besonders Gewicht legen auf den Punkt: Ich will, daß meine Arbeitskraft fernerhin nicht Ware sei, sondern etwas ganz anderes –, dann würde er die Wahrheit sagen.
So ist in diesem modernen Denken das Allerallerälteste untermischt mit demjenigen, was unbewußt als die neueste, als die modernste Forderung in den Menschenseelen enthalten ist.
31.1.1919, GA 188, S. 219.

Ein Staat kann nicht christlich sein [...]. Aber eine christliche soziale Gemeinschaft wird möglich sein, wenn man sie nur nicht absolut staatlich haben will, wenn man ein freies Geistesleben begründen wird. Das wird Christus-durchdrungen sein können. Dann wird dieses freie Geistesleben den Christus-Impuls auch ausstrahlen können in dasjenige, was nimmermehr christlich sein kann, in das eigentliche Staatsleben. Dann wird sich auch ein wirtschaftliches Leben der Assoziationen geltend machen können, das als solches selbstverständlich nicht christlich sein kann; aber die Menschen, die darinstehen, die werden christlich sein. Sie werden vom Christus-Impuls durchdrungen sein, nur muß man die Menschen hineinkommen lassen ins freie Geistesleben. So wird das ganze soziale Leben christlich sein können.
14.11.1920, GA 197, S. 187.

Es ist ein in einem gewissen Sinne berechtigter Vorwurf, den die Außenwelt den Anthroposophen macht, daß ja in der anthroposophischen Bewegung viel gesprochen wird vom geistigen Vorwärtskommen, daß man aber wenig sehe von diesem geistigen Vorwärtskommen der einzelnen Anthroposophen. Dieses Vorwärtskommen wäre durchaus möglich. [...] Aber dazu ist nötig, daß diejenigen Dinge, von denen gestern gesprochen worden ist, wirklich real werden, ernsthaft genommen werden: daß der physische Leib in richtiger Weise konstituiert wird durch die Wahrhaftigkeit, der ätherische Leib durch den Schönheitssinn, der astralische Leib durch den Sinn für Güte. [...]
Anthroposophen müßten sich angewöhnen, streng auszusondern von dem reinen Tatsachenverlauf alle ihre Vorurteile und nur zu schildern den reinen Tatsachenverlauf. [...]
Wenn es durch irgendein Wunder geschehen könnte, daß viele Menschen dazu gezwungen würden, nur so ihre Worte zu prägen, wie es genau den Tatsachen entspricht, dann würde ein weitverbreitetes Verstummen entstehen. Denn das meiste, was heute geredet wird, entspricht eben nicht den konstatierten Tatsachen, sondern wird aus allerlei Meinungen, aus allerlei Leidenschaften heraus gesprochen.
Nun aber ist die Sache so, daß alles, was wir zu den äußeren Sinnesbedingungen hinzutun, und was nicht dem reinen bloßen Tatsachenverlauf entspricht – wenn wir es in Vorstellungen wiedergeben –, in uns die Fähigkeit der höheren Erkenntnis auslöscht. [...]
Und zu einem wirklichen Schönheitsgefühl, das ich gestern in seiner Lebendigkeit zu schildern versuchte, kommt man nicht anders, als wenn man den Anfang damit macht, den Dingen doch etwas anzusehen, also dem Vogel anzusehen, warum er einen Schnabel hat, dem Fisch anzusehen, warum er dieses eigentümliche Stanitzerl nach vorne hat, in dem sich ein zarter Kiefer verbirgt und so weiter. Wirklich lernen, mit den Dingen zu leben, das gibt erst den Schönheitssinn.
Und eine geistige Wahrheit ist ohne ein gewisses Maß von Güte, von Sinn für Güte, überhaupt nicht zu erreichen. Denn der Mensch muß die Fähigkeit haben, für den andern Menschen Interesse, Hingebung zu haben: das, was ich gestern so charakterisiert habe, daß eigentlich die Moral erst damit beginnt, wenn man in seinem astralischen Leibe die Sorgenfalten des andern selber als eine astralische Sorgenfalte ausbildet. Da beginnt die Moral, sonst wird die Moral nur Nachahmung von konventionellen Vorschriften oder Gewöhnungen sein. Was ich in meiner „Philosophie der Freiheit“ als moralische Tat geschildert habe, das hängt zusammen mit diesem Miterleben im eigenen astralischen Leibe der Sorgenfalte oder der Falten, welche durch das Lächeln des andern entstehen und so weiter. Ohne daß im menschlichen Zusammenleben dieses Untertauchen der Seele des einen in dem Wesen des andern stattfindet, kann nicht der Sinn für das wirklich reale Leben von Geistigkeit sich ausbilden.
Daher wäre es eine besonders gute Grundlage für das Ausbilden von Geistigkeit, wenn es eine Anthroposophische Gesellschaft gäbe, die eine Realität ist, wo jeder dem andern so gegenübertritt, daß er in ihm den mit ihm gemeinsam der Anthroposophie ergebenen Menschen wirklich erlebt; wenn nicht hineingetragen würden in die Anthroposophische Gesellschaft die heutigen allzumenschlichen Gefühle und Empfindungen. [...]
Heute betrachtet man das historische Moment noch nicht als ein Wesentliches. Aber es ist den Menschen der neueren Zeit aufgegeben, ein Gefühl dafür zu haben, in der Geschichte zu leben und zu wissen, daß jetzt mit dem christlichen Prinzip der allgemeinen Menschlichkeit ernst gemacht werden muß, denn sonst verliert die Erde ihr Ziel und ihre innere Bedeutung. [...] Dann erst wird man auch zu richtigen sozialen Zuständen auf der Erde kommen, wenn man zu den Wesen der geistigen Welt jene starke Dankbarkeit und jene starke Liebe entwickelt, die vorhanden sein können, wenn man diese Wesenheiten als etwas Konkretes wirklich kennenlernt. Dann wird auch das Fühlen von Mensch zu Mensch ein ganz anderes werden, als es sich herausgebildet hat [...] zu den neueren Zuständen, wo der Mensch jeden andern Menschen eigentlich mehr oder weniger als etwas Fremdes empfindet und nur sich selber vor allen Dingen wichtig nimmt [...]. [...]
Atmen Sie die Luft, die Sie selber in sich erzeugen! Das können Sie nicht. Aber Sie können auch den Menschen in Wirklichkeit nicht leben, den Sie selber in sich erzeugen. Sie müssen im sozialen Leben leben durch das, was die andern Menschen sind, was Sie mit den andern Menschen miterleben. Das ist wahres Menschentum, das ist wahres menschliches Leben. [...] [Wenn man die eigene Atemluft wiederum einatmen würde,] würde man, weil das Physische unbarmherziger ist als das Geistige, sehr bald ersterben. Aber wenn man fortwährend nur an demselben herumatmet, was man als Mensch selber erlebt, dann erstirbt man auch, nur weiß man nicht, daß man seelisch oder wenigstens geistig gestorben ist.
[...] Ich habe es in einem der letzten Vorträge charakterisiert, daß dieses anthroposophische Leben ein Erwecken sein soll, ein Erwachen. Es muß aber zu gleicher Zeit ein fortwährendes Vermeiden des Seelentodes sein, ein fortwährender Appell an die Lebendigkeit des seelischen Lebens. Auf diese Art würde die Anthroposophische Gesellschaft von selbst durch die innere Kraft des geistig-seelischen Lebens eine Realität sein.
20.1.1923, GA 220, S. 127ff.

Bewußter werden heißt nicht intellektualistischer werden. Bewußter werden heißt, man kann nicht mehr beim bloß instinktiven Erleben stehenbleiben. Aber gerade auf anthroposophischem Boden muß versucht werden, dasjenige, was in bewußte Klarheit heraufgehoben wird, dennoch in vollem elementarischem Leben, ich möchte sagen in einem Leben, das gleichgeartet ist für menschliches Empfinden dem naiven Wahrnehmen und Empfinden, darzustellen. Das muß gelingen.
27.2.1923, GA 257, S. 110.

Genau so, wie man in der rechten Weise für das alltägliche Erdenleben aufwacht durch die äußere Natur, gibt es ein höherstufiges Aufwachen, wenn wir in der richtigen Weise an dem Seelisch-Geistigen unseres Mitmenschen aufwachen, wenn wir ebenso in uns fühlen lernen das Geistig-Seelische des Mitmenschen, wie wir fühlen in unserem Seelenleben beim gewöhnlichen Aufwachen das Licht und den Ton. [...] Nun, wir mögen noch so schöne Ideen aufnehmen aus der Anthroposophie, aus dieser Kunde von einer geistigen Welt, wir mögen theoretisch durchdringen alles dasjenige, was von uns vom Äther-, Astralleib und so weiter gesagt werden kann, wir verstehen dadurch noch nicht die geistige Welt. Wir beginnen das erste Verständnis für die geistige Welt erst zu entwickeln, wenn wir am Seelisch-Geistigen des andern Menschen erwachen. Dann beginnt erst das wirkliche Verständnis für die Anthroposophie. [...]
Die Kraft zu diesem Erwachen, sie kann dadurch erzeugt werden, daß in einer Menschengemeinschaft spiritueller Idealismus gepflanzt wird. Man redet ja heute viel von Idealismus. Aber Idealismus ist heute innerhalb unserer Gegenwartskultur und Zivilisation etwas ziemlich Fadenscheiniges. Denn der wirkliche Idealismus ist nur vorhanden, wenn der Mensch sich bewußt werden kann, daß er [...] etwas, das er im Irdischen erschaut, im Irdischen erkennen und verstehen gelernt hat, in das Übersinnlich-Geistige hinaufhebt, indem er es ins Ideal erhebt. [...] wenn wir so empfinden lernen, daß wir uns sagen: Dasjenige, was du hier in der Welt der Sinne wahrgenommen hast, wird plötzlich lebendig, wenn du es zum Ideal erhebst. Es wird lebendig, wenn du es in der richtigen Weise durchdringst mit Gemüt und Willensimpuls. Wenn du dein ganzes Inneres vom Willen durchstrahlst, Begeisterung auf es wendest [...]. [...] wenn wir tatsächlich imstande sind, durch die lebendige Kraft, die wir hineinlegen in die Gestaltung der Ideen vom Geistigen, etwas von einem Erweckenden zu erleben, etwas von dem, was nicht bloß das sinnlich Erlebte so idealisiert, daß das Ideal ein abstrakter Gedanke ist, sondern so, daß das Ideal ein höheres Leben gewinnt [...].
Das können wir auf gefühlsmäßige Weise erreichen, wenn wir uns angelegen sein lassen, überall dort, wo wir Anthroposophisches pflegen, diese Pflege von durchgeistigter Empfindung zu durchdringen, wenn wir verstehen, schon die Türe, schon die Pforte zu dem Raum – und mag er sonst ein noch so profaner sein, er wird geheiligt durch gemeinsame anthroposophische Lektüre – als etwas zu empfinden, was wir mit Ehrerbietung übertreten. [...] Und das müssen wir nicht nur zu innerster abstrakter Überzeugung bringen können, sondern zu innerem Erleben, so daß in einem Raume, wo wir Anthroposophie treiben, wir nicht nur dasitzen als so und so viele Menschen, die aufnehmen das Gehörte, oder aufnehmen das Gelesene und es in ihre Gedanken verwandeln, sondern daß durch den ganzen Prozeß des Aufnehmens anthroposophischer Ideen ein wirkliches real-geistiges Wesen anwesend wird in dem Raume, in dem wir Anthroposophie treiben. [...] und unsere Rede, unser Empfinden, unser Denken, unsere Willensimpulse müssen wir einrichten können im spirituellen Sinne, das heißt nicht in irgendeinem abstrakten Sinne, sondern in dem Sinne, daß wir uns so fühlen, als schaute herunter auf uns und hörte uns an ein Wesen, das über uns schwebt, das real-geistig da ist. Geistige Gegenwart, übersinnliche Gegenwart müssen wir empfinden, die dadurch da ist, daß wir Anthroposophie treiben. Dann fängt die einzelne anthroposophische Wirksamkeit an, ein Realisieren des Übersinnlichen selbst zu werden. [...]
Wir müssen einfach Anthroposophie wahr machen, wahr machen dadurch, daß wir ein Bewußtsein hervorzurufen verstehen in unseren anthroposophischen Gemeinschaften, daß, indem die Menschen sich finden zu gemeinsamer anthroposophischer Arbeit, der Mensch am Geistig-Seelischen des andern Menschen erst erwacht. Die Menschen erwachen aneinander, und indem sie sich immer wieder und wiederum finden, erwachen sie, indem jeder in der Zwischenzeit ein anderes durchgemacht hat und etwas weitergekommen ist, in einem gewandelten Zustand aneinander. Das Erwachen ist ein Erwachen in Sprossen und Sprießen. [...]
Erst dann stehen wir wirklich im Ergreifen, im Erfassen des Spirituellen drinnen, wenn wir nicht nur die Idee dieses Spirituellen abstrakt haben und etwa sie theoretisch wiedergeben können, auch für uns selbst theoretisch wiedergeben können, sondern wenn wir glauben können, aber glauben auf Grundlage eines beweisenden Glaubens, daß Geister im geistigen Erfassen geistige Gemeinschaft mit uns haben. Sie können nicht durch äußere Einrichtungen die anthroposophische Gemeinschaftsbildung hervorrufen. Sie müssen sie hervorrufen aus den tiefsten Quellen des menschlichen Bewußtseins selbst. [...]
Ist dieses wahre Verständnis für die Anthroposophie da, dann ist dieses Verständnis der Weg nicht bloß zu Ideen vom Geiste, sondern zu Gemeinschaft mit dem Geiste. Dann aber ist das Bewußtsein dieser Gemeinschaft mit der geistigen Welt auch gemeinschaftsbildend.
27.2.1923, GA 257, S. 116ff.

Gewiß, man hat zu allen Zeiten von Idealismus gesprochen, aber heute ist der Idealismus, wenn von ihm gesprochen wird, auch bei den Gutmeinenden zumeist nichts anderes als Phrase, richtige Phrase. Denn es fehlt heute, in jenem Zeitalter, wo in der ausgebreiteten Zivilisation besonders stark die intellektualistischen Kräfte und Elemente aufgetaucht sind, es fehlt das Weltverständnis des ganzen Menschen. [...]
Bitte beachten Sie nur einmal folgendes: versetzen Sie sich zurück in Zeiten, in denen religiöse Strömungen innerhalb der Menschheit sich ausgebreitet haben. Sie werden sehen, daß in abgelebten, in früheren Zeiten der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit der oder jener Verkündigung aus der geistigen Welt von vielen Menschen mit ungeheurem Enthusiasmus begegnet worden ist. [...]  Man kann sich gar nicht vorstellen, wenn man die heutigen Menschen betrachtet, daß sie von so etwas gefangen werden könnten, wie oftmals in früheren Zeiten die Verkündigung religiöser Wahrheiten war. [...] Es ist nicht die innere Wärme der Seelen vorhanden für das Aufnehmen von Geistigem. Das hat im letzten Drittel des 19.Jahrhunderts sogar in rapider Weise abgenommen. Aus der Unbefriedigtheit finden sich heute allerdings noch Menschen, die dem oder jenem zuhören, auch zu einem gewissen Bekenntnis von dem oder jenem kommen; aber jene positive Wärme, die früher da war in den Menschenseelen, und die einzig und allein möglich gemacht hat, daß man um Geistiges sein ganzes Wesen, sein ganzes menschliches Wesen eingesetzt hat, das ist gewichen einer gewissen Kühle, ja Kälte. [...]
Mit dem Erwachen der Bewußtseinsseele, mit dem Entfalten der Bewußtseinsseele ist [...] ein neues Element hereingetreten ins Menschenleben. Da muß es nämlich noch ein zweites Erwachen geben, und dieses zweite Erwachen wird immer mehr und mehr als ein Bedürfnis der Menschheit auftreten: Das ist das Erwachen an Seele und Geist der andern Menschen. Im gewöhnlichen wachen Tagesleben erwacht man ja nur an der Natur des andern Menschen; aber an Seele und Geist des andern Menschen will der Mensch erwachen, der selbständig, der persönlich durch das Bewußtseinszeitalter geworden ist. Er will an Seele und Geist des andern Menschen erwachen, er will dem andern Menschen entgegentreten so, daß der andere Mensch in seiner eigenen Seele einen solchen Ruck hervorbringt, wie es gegenüber dem Traumleben das äußere Licht, das äußere Geräusch und so weiter hervorbringt.
Dieses Bedürfnis ist einmal ein ganz elementares seit dem Beginne des 20. Jahrhunderts und wird immer stärker werden. [...] Der Mensch muß mehr werden, als er dem Menschen immer war. Er muß ihm zu einem weckenden Wesen werden. Die Menschen müssen sich näherkommen, als sie sich bisher gestanden haben: zu einem weckenden Wesen muß jeder Mensch, der einem andern entgegentritt, werden. Dazu haben eben die modernen Menschen, die ins Leben jetzt hereingetreten sind, viel zu viel Karma aufgespeichert, als daß sie nicht ihr Schicksal verbunden fühlen würden, ein jeder mit dem, der ihm im Leben als anderer Mensch entgegentritt. [...]
Daß man erwacht an der Seele des andern in dem Momente, wo man zusammen ist, das gibt eine Atmosphäre ab, die nicht etwa in die übersinnliche Welt hineinführt so, wie es in „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ beschrieben ist, die aber das Verständnis der Ideen fördert, welche durch anthroposophische Geisteswissenschaft von der übersinnlichen Welt gegeben werden.
Finden sich Menschen, die mit Idealismus in einer Menschengruppe zusammenleben, die sich, sei es durch Vorlesen, sei es durch etwas anderes, dasjenige gegenseitig mitteilen, was Inhalt der Anthroposophie ist, dann ist ein anderes Verständnis da. Durch das gemeinsame Erleben des Übersinnlichen wird eben gerade am intensivsten Menschenseele an Menschenseele erweckt, die Seele erwacht in ein höheres Verständnis hinein, und wenn diese Gesinnung da ist, bildet sich etwas heraus, das bewirkt, daß auf Menschen, die vereinigt sind im gegenseitigen Sich-Mitteilen und im Miteinander-Erleben anthroposophischer Ideen, ein gemeinsames, wirkliches Wesen sich herniedersenkt. Wie in der Sprache der Sprachgenius lebt, in dessen Fittichen gleichsam die Menschen leben, so leben sie unter den Fittichen eines höheren Wesens, wenn sie mit der richtigen idealistischen Gesinnung miteinander erleben die anthroposophischen Ideen. [...]
Wenn wir einen anthroposophischen Zweig haben, so haben wir dasjenige, was in der physischen Welt in der anthroposophischen Gruppe erlebt wird, durch die Kraft des wirklichen Idealismus, der spirituell wird, hinaufversetzt in die geistige Welt. [...] Und wenn in der richtigen Gesinnung erlebt wird der anthroposophische Inhalt von einer Menschengruppe, wobei Menschenseele an Menschenseele erwacht, wird tatsächlich diese Menschenseele erhoben zur Geistgemeinschaft. Nur handelt es sich darum, daß dieses Bewußtsein wirklich vorhanden ist. Wenn dieses Bewußtsein vorhanden ist und solche Gruppen in der Anthroposophischen Gesellschaft auftreten, dann ist in diesem, wenn ich so sagen darf, umgekehrten Kultus, in dem andern Pol des Kultus, etwas Gemeinschaftsbildendes im eminentesten Sinne vorhanden. [...]
Aber wenn Anthroposophie dem Menschen etwas sein soll, was wirklich in die übersinnliche Welt führt, dann darf sie nicht Theorie, nicht Abstraktion sein. Dann darf man nicht bloß von geistigen Wesen reden, sondern man muß die nächsten, die unmittelbarsten Gelegenheiten aufsuchen, um mit geistigen Wesen zusammenzusein. Die Arbeit einer anthroposophischen Gruppe besteht nicht bloß darin, daß eine Anzahl von Menschen über anthroposophische Ideen reden, sondern daß sie sich als Menschen so vereinigt fühlen, daß Menschenseele an Menschenseele erwacht und die Menschen hinaufversetzt werden in die geistige Welt, so daß sie wirklich unter geistigen Wesen sind, wenn auch vielleicht ohne Schauen. Auch wenn das in der Anschauung nicht da ist, im Erleben kann es da sein.
3.3.1923, GA 257, S. 174ff.

Brüderlichkeit und wahrer Sozialismus werden sich nur ausleben können, wenn auf der Grundlage einer wirklichen sozialen Menschenerziehung solche Menschen da sein können, welche an die Stelle der antisozialen Triebe die sozialen Triebe setzen, denn die äußeren Einrichtungen werden keinen Sozialismus machen. Gerade auf dem Gebiete des Wirtschaftslebens wird sich sehr bald zeigen, daß alle äußeren Einrichtungen keinen Sozialismus hervorbringen können, wenn nicht die Menschen, die in diesem Wirtschaftsleben drinnen stehen, dasjenige nach Vernunft und Brüderlichkeit zu ordnen verstehen, was bisher nach den abstrakten Prinzipien der Kapital- und Lohngewinnung, des Angebotes und der Nachfrage auf diesem Boden besorgt worden ist. [...] Körperschaften von sozial zusammenwirkenden Menschen werden es sein, welche dasjenige hervorbringen, was ich in meinem Buche „Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft“ als Ablösung des Kapitals gezeichnet habe.
Wenn wir sehen, wie das Kapital gewirkt hat, dann müssen wir uns vor allen Dingen darüber klar sein, daß dieses Kapital den Menschen loslöste von dem wirklichen sachlichen Interesse an der Produktion. Statt daß man sich hingab an das, was man hervorbringt, es so hervorbringt, daß man ihm die Gesinnung mitgibt: So, wie ich dich mache, dienst du den anderen Menschen, meinen Mitmenschen, die ich brüderlich betrachte –, anstatt dies den menschlichen Erzeugnissen mitzugeben, sieht man heute auf das, was man als den Verkaufspreis des Erzeugnisses ins Hauptbuch schreiben kann. In dieser Loslösung des Menschen vom Interesse am Menschenwert liegt der eigentliche Schaden des Kapital- und Lohnverhältnisses. [...]
Man kann in höchst einfacher Art den Schaden des radikalen Kapitalsystems ausdrücken. Gerechterweise wird im Grunde genommen jedes Kapital dadurch zustande gebracht, daß irgendeine geistige Arbeit etwas produziert, was den Mitmenschen dient, als Güterproduktion dient. Aber an die Stelle dieses Zusammenhanges der geistigen Kräfte des Menschen mit dem Kapital ist etwas anderes getreten, ist getreten der persönliche private Besitz an Grund und Boden, der persönliche private Besitz an den Produktionsmitteln. Niemals kann in einem wirklichen Rechtsstaat ein Recht bestehen auf Grund und Boden als Privatbesitz. Die Verteilung des Grundes und Bodens muß in der Demokratie erfolgen, und die Kapitalverwertung – so wie ich es in meinem Buche „Die Kernpunkte der sozialen Frage“ dargestellt habe – kann nur im richtigen Sinne geschehen, wenn das fertige Produktionsmittel nicht mehr verkäuflich ist, sondern freies Gut ist. Dann wird das, was heute dem Kapital gegeben ist, wieder zurückgegeben an die geistige Arbeit.
Das ist es, was wir anstreben müssen, was wir aber nur anstreben können, wenn wir verstehen werden, die Menschen auch so zu erziehen, daß sie mit freiem Geiste sich selber ihren Mitmenschen gegenüberzustellen wissen, daß sie sich, gleiches Recht, keine Vorrechte verlangend, in die Menschengemeinschaft hineinstellen, und daß sie für das Wirtschaftsleben, das sich nur richten soll nach Produktion und Konsumtion, Organisationen schaffen, die sich in freie Assoziationen, Körperschaften, Genossenschaften gliedern, die auf dem Prinzip wahrhafter Brüderlichkeit mit dem Verständnis für die Bedürfnisse des Konsums der Menschen aufgebaut sind. [...]
Nun kann man sagen: Du behauptest, die Dinge, die du aussprichst, seien praktisch, während es doch idealistische sind! Ja, wer heute nicht einsieht, daß das Idealistische praktisch werden muß, und daß wir gerade deshalb zu den heutigen Zuständen gekommen sind, weil wir immer nur geglaubt haben, das Praktische bestehe in der Routine des Zusammenseins mit den äußeren Einrichtungen, wer nicht einsieht, daß dieser Glaube trügerisch war und die Ideen heute das Praktische sind, der kann nicht wirklich teilnehmen an dem, was für den Neuaufbau unserer Menschheitsentwickelung notwendig ist. Wir leben in einer Zeit, wo der Idealismus – wenn man das so nennen will, was hier aus der Lebenspraxis vorgebracht wird – das Allerpraktischste ist.
18.6.1919, GA 330, S. 288ff.