02.09.2004

Die „Working poor“ als Stein des (Denk-)Anstoßes

Wenn Arbeiten nicht zum Leben reicht

Über das Buch von Barbara Ehrenreich: Arbeit Poor. Unterwegs in der Dienstleistungsgesellschaft. Rowohlt, 2003. 

Leicht gekürzt veröffentlicht im „Goetheanum“ vom 24.09.2004 (Nr. 39). >> Alternative Langfassung, die noch mehr auf den Inhalt des Buches eingeht.

„Hartz IV“, „Ein-Euro-Jobs“, „Zumutbarkeit“ – moderne Wörter, die es alle zum „Unwort des Jahres“ schaffen könnten. Fakt ist, daß sie eine neue Ära auf dem Arbeitsmarkt kennzeichnen, eine, die die Abwärtsspirale der Menschlichkeit auch in deutschen Landen nur fördern wird. Holger Niederhausen geht dem Thema „Niedriglöhne“ nach und macht deutlich, daß es woanders schon viel schlimmer steht. Aber das kann ja noch kommen.


„Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“: So lautet eine geschichtsträchtige Parole.[1] In der „modernen Gesellschaft“ wird bezahlte Arbeit jedoch zunehmend Mangelware – und Ware ist sie leider noch. Damit stellt sich aber auch die Preis-Frage. Kann jeder, der arbeitet, auch essen? Hier sei also nicht dem Problem nachgegangen, was mit jenen geschieht, die trotz unterschiedlicher Mühen keine Arbeit finden, sondern dem Problem der „Niedriglöhne“. Allerdings hängen beide Fragen zusammen. Das Faktum der stetigen Rationalisierungen und „Standortverlagerungen“ mißachtend, assoziieren Politiker und „Wirtschaftsexperten“ das Problem „Arbeitslosigkeit“ immer wieder mit „Faulheit“. Es heißt, man könne ihm mit der Devise „Fördern und Fordern“ wirkungsvoll begegnen. Richtig ist: Wenn man von der „Sozialhilfe“ nicht leben kann, ist man gezwungen, jede „angebotene“ Arbeit anzunehmen – zumal man dazu verpflichtet ist. Wer aber könnte dann noch verhindern, daß sich der „Niedriglohnsektor“ unaufhaltsam ausbreitet?[2]

Da wären zum Beispiel die Gewerkschaften und die Tarifverträge. Erstaunlicherweise sind in Deutschland etwa die IG Metall und die IG Bergbau, Chemie, Energie, getrieben von kurzfristigem Eigennutzdenken, gegen einen Mindestlohn![3] Da wären zum anderen europäische Vereinbarungen wie die Sozialcharta von 1961 oder die Charta der sozialen Grundrechte von 1989, die die Mitgliedsstaaten auffordern, auf „angemessene“ bzw. „gerechte“ Löhne zu achten. Doch wann wäre eine Charta einmal verbindlich gewesen? Als Armutsschwelle gilt in der EU ein Wert von 50% des nationalen Durchschnittslohnes. Schon 1996 verdienten 10% der deutschen Arbeitnehmer weniger – schon damals hatte Deutschland gemeinsam mit Italien den größten Billiglohnbereich in der EU. Bis heute hat es keinen nationalen Mindestlohn.[4]

Dabei sind in Deutschland im Westen noch 70%, im Osten nur 55% der Arbeitnehmer durch Tarifverträge „geschützt“. Selbst dieser Schutz ist teilweise eher das Gegenteil. Schon 2001 arbeiteten rund 2,8 Millionen oder 7,5% aller Arbeitnehmer zu einem tariflichen Bruttostundenlohn von unter sechs Euro. Das waren nur zum kleinen Teil ungelernte, minderjährige Arbeitnehmer im ersten Berufsjahr. In der Landwirtschaft verdienen „Erntehelfer“ mit schwerer Arbeit 5-6 Euro. Aber auch ein Friseur in Berlin verdient nur 5,50 Euro. Besonders betroffen ist natürlich Ostdeutschland. In Brandenburg kommt ein Gartenbau-Facharbeiter auf 5,30 Euro, ein Bäckerei-Verkäufer auf 5,00 Euro, ein Wachmann auf 4,80 Euro.[5] Das sind Bruttolöhne von maximal 1000 Euro – und dies meist nur bei vielen Überstunden.

Für ein Jahresgehalt von Konzernchefs führender DAX-Unternehmen (über 2 Mio Euro) müßten diese Menschen 170 Jahre arbeiten! Was sie an einem Tag „verdienen“ (40-50 Euro), erhalten jene in knapp drei Minuten. Interessant und relevant wäre die Frage, was der eine oder der andere wirklich zum Nutzen für die Gesellschaft getan hat.

Für den Einzelnen entscheidend ist, ob er von dem ihm zur Verfügung stehenden Geld „essen“ kann – und das heißt für viele auch: eine Familie ernähren.[6] Das ist bei 800 Euro netto und weniger ganz illusorisch. Schon das eigene Leben ist nur unter größten Einschränkungen, beginnend bei der ganz „normalen“ Mobilität, möglich.

Die USA – auch hier extrem

Dabei sind trotz der beobachtbaren „Amerikanisierung“ der Arbeitswelt hierzulande noch nicht einmal die Verhältnisse erreicht, die jenseits des Atlantiks alltägliche Realität bilden. In einem 2001 erschienenen, sehr bewegenden Buch („Arbeit Poor“) beschreibt die Journalistin Barbara Ehrenreich ihren eigenen Versuch, im Niedriglohnsektor einfach nur zu überleben. Sie versuchte es bei sechs, sieben Dollar Stundenlohn als Serviererin, Putzkraft und Verkäuferin – und scheiterte jedesmal. Das beginnt mit dem am jeweiligen Arbeitsort knappen und extrem teuren Wohnraum. Ihre Kolleginnen leben in überteuerten Motels oder gar Wohnwagen – oft mit Partner. Manche können sich nicht einmal eine mitgebrachte Mittagsmahlzeit oder auch nur eine Flasche Mineralwasser leisten.[7] Zudem muß, da der Tageslohn unverzichtbar ist, nicht selten selbst bei Verletzung oder Krankheit gearbeitet werden.

Dazu kommen erniedrigende Arbeitsbedingungen: Einstellungstests, die die Gesinnung prüfen sollen.[8] Verbote für „Putzkräfte“, während der Einsatzzeit in Privatwohnungen zu essen oder zu trinken, ja sogar die Anweisung, „in guter alter Manier“ auf Händen und Knien zu wischen. Bei der weltweit größten Einzelhandelskette „Wal-Mart“ zeigen Videos auf „Einführungsveranstaltungen“ neuen Arbeitskräften zunächst, wie Diebstahl zu Gefängnis führt oder daß man als „Partner“ in einer großen „Familie“ eine Gewerkschaft nicht braucht. Die Lohnfrage dagegen (bei Wal-Mart 1.120 Dollar brutto) kommt hier oder auch anderswo gar nicht zur Sprache. Nach dem Bewerbungsverfahren erfolgt die Ausgabe der Arbeitskleidung, gegebenenfalls noch eine Ermahnung, nicht zu „klatschen“ oder zu klauen – und man ist „eingestellt“.

Gerade die Niedriglohnarbeit ist meist sehr anstrengend. Es ist ein Rätsel, wie viele Amerikaner es schaffen, einen Zweitjob auszuüben – sie sind dazu gezwungen. Eine solche Belastung führt sicher nicht selten zum Verlust des normalen Ich-Bewußtseins.[9] Barbara Ehrenreich zieht, kurz bevor sie ihren Versuch endgültig abbrechen muß, folgende Bilanz: „Wenn du anfängst, deine Zeit stundenweise zu verkaufen, bekommst du das Entscheidende nicht unbedingt gleich mit: daß nämlich das, was du verkaufst, in Wirklichkeit dein Leben ist.“

Dabei machte sie gerade im Niedriglohnbereich erstaunliche Erfahrungen. Zum einen nahmen ihre Kolleginnen (es waren größtenteils Frauen) ihr Schicksal als gegeben hin – oder sogar noch ihre Arbeitgeber in Schutz. Manche wünschen sich, auch einmal so reich zu sein, wie die Menschen, für die sie arbeiten, und sind dennoch ohne Neid. Manche wünschen sich einfach nur, daß sie ab und zu, wenn sie mit ihrer Kraft am Ende sind, frei nehmen könnten – und am nächsten Tag immer noch Geld zum Einkaufen hätten.

Auf der anderen Seite erlebte Barbara Ehrenreich eine tiefe Menschlichkeit. Über eine Serviererin schreibt sie: „Von ihrem eigenen Trinkgeld kauft sie Kekse und Fleisch­soße für einen arbeitslosen Mechaniker, der sein ganzes Geld zum Zahnarzt getragen hat...“ Sicher sind viele dieser Frauen „einfache Gemüter“. In den Arbeitsbedingungen selbst wirken stärkste Kräfte gegen eine freie Bewußtseinsentwicklung. Umgekehrt wären sie für einen mehr im Denken lebenden - und die Verhältnisse hinterfragenden - Menschen erst recht schier unerträglich. Dennoch werfen die „Schicksalshingabe“ und das in vieler Hinsicht unverfälschte menschliche Empfinden tiefe Fragen nach dem Wesen dieser Individualitäten auf. Begegnen einem hier Vertreter einer manichäischen Strömung?

Die wartende Aufgabe

Nicht nur der Alltag dieser „Tagelöhner“ ist abstumpfend – auch der uns umgebende Alltag ist es. Was bekommen wir von der Wirklichkeit überhaupt mit? Wieviel wissen wir etwa über diesen ganzen Bereich der Niedriglöhne? Wieviel fühlen wir? Und ergreift es irgendwo auch noch unser Wollen? Der 4,80-Euro-Stundenlohn eines Wachmanns ist ja zunächst nur eine Information, die zu totem Wissen wird. Oder erkennen wir, was dahintersteht, fühlen wir die realen Lebensbedingungen und Konsequenzen?

Die große Aufgabe ist es doch, Zeitgenosse zu werden. Das bedeutet: Sich gerade mit jenen Teilen der Wirklichkeit verbinden, die Leiden beinhalten. Und ganz konkret: Mitleiden können. Kein getrenntes „Mitleid“ von außen (mit leisem Selbstgenuß), sondern ein Erleben, als ob – und daß! – es mich selbst auch getroffen hat. Nicht glücklich sein können, wenn ein anderer leidet – so hat Rudolf Steiner es einmal ausgedrückt.[10] Das zunächst fremde Leiden ins eigene Bewußtsein, ins Gefühl, in den Willen hineinnehmen – nicht sentimental, sondern michaelisch: ernst und kraftvoll.

Authentische Schilderungen wie das Buch von Barbara Ehrenreich können eine Hilfe auf diesem Weg sein. Ein Weg, der immer wieder mit Rückschritten verbunden ist. Sie selbst stellte erschrocken fest, „wie rasch und wie endgültig sich das Kaninchenloch[11] nach meiner Rückkehr in die obere Mittelklasse wieder hinter mir geschlossen hat. So daß ich mich selber frage: Wo warst du da? Und was hast du da gemacht?“ Armut ist oft nicht direkt wahrnehmbar. Und selbst da, wo sie einmal sichtbar wird, ist sie noch lange nicht gefühlt. Dies liegt auch daran, daß die erlebte Situation einen mit ihrem Anspruch überwältigt und daher das Erleben sofort unterdrückt wird – eher innere Abwehr hervorrufend. Nur leise ertönt die Stimme des höheren Ich: Warum? Der Weg ist weit bis zu jener Verbindlichkeit und jenem Ernst, den das Leben eigentlich in jedem Augenblick von einem verlangt.

Fußnoten


[1] Paulus schreibt einmal: „Wer nicht arbeiten will, ...“ (2. Thess 3,10). Wörtlich steht der Satz dagegen in Artikel 18 der ersten Sowjetischen Verfassung von 1918. Hier richtete er sich gegen die Rentiers und „Couponschneider“, gegen deren arbeitslose Einkommen auch Steiner eintrat. - Unter ganz anderem Vorzeichen kehrte die Devise dann im Nationalsozialismus wieder. Heute nähern sich die Regelungen, denen von Arbeitslosigkeit betroffene Menschen unterliegen, immer mehr dem damaligen Arbeitszwang (wenn auch unter anderen Umständen).

 

[2] Eine erste Übersicht zur deutschen Situation, mit einigen Links, gibt: www.labournet.de/diskussion/arbeit/realpolitik/kombilohn/genug.html.

 

[3] Dabei spielen verschiedene Aspekte eine Rolle: Ausrichtung auf besser bezahlte Kernbelegschaften, Furcht vor Verlust der Tarifautonomie und vor Mitgliederverlust. Der Chef der mehr mit dem Niedriglohnsektor konfrontierten Gewerkschaft NGG (Nahrung-Genuß-Gaststätten) fordert dagegen sehr wohl einen Mindestlohn von 1.500 Euro.

 

[4] Offizielle gesetzliche Mindestlöhne gibt es in immerhin neun Ländern der EU-15 (so z.B. rund 1.100 Euro in Frankreich und Großbritannien).

 

[5] ein Wachmann bei Bundeswehr-Objekten in Sachsen-Anhalt erhält 3,90 Euro, ein ungelernter Gartenbau-Angestellter in Sachsen 2,75 Euro.

 

[6] „Ein richtiger Preis ist dann vorhanden, wenn jemand für ein Erzeugnis, das er verfertigt hat, so viel als Gegenwert bekommt, daß er seine Bedürfnisse..., worin natürlich eingeschlossen sind die Bedürfnisse derjenigen, die zu ihm gehören, befriedigen kann so lange, bis er wiederum ein gleiches Produkt verfertigt haben wird.“ (GA 340, 29.7.1922).  Auf den Zukunftsaspekt und die implizit darin enthaltene Trennung von Arbeit und Einkommen kann hier nur hingewiesen werden.

 

[7] Diese Armen zahlen am Ende sogar mehr, gerade weil sie sich nichts leisten können: nicht die hohe Anfangsausgabe einer Monatsmiete und Kaution für eine richtige Wohnung, keinen Gefrierschrank, keine Medikamente (so daß eine einfache Schnittwunde zu langer Krankheit und Entlassung führen kann).

 

[8] „Arbeite ich gut mit anderen Angestellten zusammen? Aber gewiß doch, wenn auch nie so gut, daß ich zögern würde, die Geschäftsführung über das kleinste Vergehen zu informieren.“

 

[9] Ehrenreich schreibt: „Ich rede mir ein, überhaupt nicht müde zu sein, aber vielleicht ist da einfach kein „Ich“ mehr übrig, das meine Übermüdung registrieren könnte.“ An anderer Stelle: „Ich nehme die Welt nur noch schnappschußartig wahr, in grellen Bildern ohne jede erzählerische Kontinuität.“ Einmal sieht sie sich zufällig im Spiegel: „eine mittelgroße Gestalt (...) mit einem von grotesker Anspannung verzerrten Gesicht. Das kann ich nicht sein.“

 

[10] Im Vortrag „Was tut der Engel in unserem Astralleib?“ (GA182) weist Steiner auf ein vertieftes Weltinteresse hin, daß uns nicht glücklich sein läßt, solange Menschen neben uns leiden.

 

[11] Anspielung auf „Alice im Wunderland“, mit deren Reise sie ihr Erlebnis vergleicht.