26.07.2007

Die neue Waldorfschule – der Weg ins 21. Jahrhundert

Buchbesprechung: Rüdiger Iwan: Die neue Waldorfschule. Rowohlt, 2007.

Veröffentlicht im „Goetheanum“ vom 30.11.2007 (Nr. 48).

„Die neue Waldorfschule“ – dieses Buch ist ein Dienst für den Waldorf-Impuls. Warum? Weil es die Waldorfschule kritisiert! Und zwar von innen. Und weil dieser Insider, ein engagierter Waldorf-Pädagoge, nicht bei der Kritik stehen bleibt, sondern Zukunft er-öffnet.


Das Buch wird neben Beifall viel Kritik hervorrufen. Das ist gut, weil dann etwas in Bewegung gerät. Der Waldorf-Impuls lebt wie jeder Impuls davon, dass er sich entwickeln kann – seinem eigenen Wesen entgegen! Dafür muss Altes, nur Tradiertes, Unverstandenes aufgebrochen, verwandelt und völlig neu gedacht werden. 

Es ist im besten Sinne erschütternd, wie Rüdiger Iwan aufzeigt, wie die originären „Waldorf-Elemente“ von Anfang an anders gedacht waren; wie das Allgemeine und das Individuelle wieder verbunden werden können – weg von jedem Schema, von jeder Vorstellung, der Lehrer könne es jemals allen individuellen Schülern Recht machen, wenn er ... alles alleine macht!

Zunächst weist Iwan ausführlich nach, wie Steiner schon 1922 geradezu verzweifelt war, wohin sich die gerade drei Jahre zuvor gegründete Waldorfschule (nicht) hinentwickelt hatte: Er muss zusehen, wie die Arbeiterkinder die Schule in Scharen verlassen; wie die Lehrer nach Großväterart „dozieren“, die Ausweitung der Stunden fordern, Hausaufgaben geben wollen – und immer wieder nicht verstehen, was Steiner veranlagen, begreiflich machen will.

Dann schildert Iwan Waldorfschule heute: Monatsfeiern, die den wohlwollensten Mittel- und Oberstufenschüler rebellieren bzw. resignieren lassen; die unaufhaltsame Entwicklung gelangweilter Passivität im Unterricht trotz engagierter Lehrer; Hausaufgaben wie überall; Einknicken vor dem Sachzwang „Abschlussnoten“; Dilettantismus der Konferenzen.

Iwan legt den Finger in die Wunde – aber diese ist Realität. Waldorfschulen haben das 20. Jahrhundert verschlafen, während andere Schulen Ansätze entwickelten, die bereits 1919 angelegt waren, aber ihr Wesen nicht ausbilden durften.

In der Analyse dessen, was unbedingt verändert werden muss, ist Iwans Buch bereits eine Fundgrube. Ein Schatz wird es, wo die Brücke geschlagen wird. Wie muss es denn werden? Ein wesentlicher Gedanke der neuen Waldorfschule lässt sich in einem Wort auf den Punkt bringen: Portfolio. Nur muss man auch dessen Wesen begreifen – und lebendig entwickeln. Man gebe den Schülern Raum, Themengebiete selbst kreativ und tätig zu erforschen, auf individuellen Wegen – und dabei diese individuellen Wege festzuhalten, zu verstehen, daran neue Fragen zu entwickeln... Das Lernen lernen, und zwar wirklich! Iwan schildert beeindruckende Beispiele.

Viele Lehrer sind ihrem eigenen Anspruch erlegen und zu sehr „Lehrer“ geworden. Sie haben gerade dadurch jene passiven Schüler hervorgebracht, die nun vor ihnen sitzen... Indem man aber nicht mehr als alleinverantwortlicher „Lehrer“ (vergeblich) „Interesse“ zu wecken sucht, sondern die Eigenaktivität der Schüler anregt, ist es möglich, aus der unseligen Lehrerrolle herauszukommen und (trotz aller Vorbereitung) die Welt wieder gemeinsam mit den Schülern täglich neu entdecken können. Die lähmende innerliche Distanz kann überbrückt werden. Und darauf kommt letztlich alles an: auf einen herzlichen Umgang und ein wirkliches Mitlebenkönnen mit den Schülern!

Zuletzt entwirft Iwan klare Bilder für echte Übergänge von Schule und Arbeitswelt. Ein Bereich, in dem unter anderem auch die Eltern viel Entscheidenderes beitragen könnten, als nur die drei B´s (Blechen, Backen, Bauen). In dem ganz konkret die Schüler in die Welt hinausgeschickt werden, die Erfahrungen aber hinterher genauso sorgfältig und fruchtbar verarbeitet werden dürfen. Und wo umgekehrt die Welt auch in die Schule geholt wird, indem zum Beispiel auf neuen „Monatsfeiern“ die Schüler selbst ihre Produktionen auswählen, präsentieren, Öffentlichkeit einladen und so zum Beispiel auch mit den Ausbildungsleitern ihrer künftigen Arbeitsbereiche ins Gespräch kommen...

Das alles sind nur einige Aspekte, die eindrücklich vertieft werden und neben anderen stehen wie dem „Bewegten Klassenzimmer“, dem Oberstufenkonzept der Windrather Talschule oder den eigenen Bemühungen Iwans im Rahmen der weiteren Forschung zur Portfolio-Idee.

Am Ende betont Iwan: „Klar, dass eine Aufzählung wie diese unvollständig bleiben muss. Doch ist das ganz im Sinne des Erfinders. Viel ist es auch schon so, zu viel, um in einem Angang erledigt zu werden. Also empfehlen wir, vor allem den Anfang zu suchen, die ersten Schritte tatsächlich zu un­ternehmen und dabei darauf zu achten, welche Spielräume sich aus ihnen ergeben.“

Und darum geht es. Wenn Iwans Buch viele Pädagogen findet, die ein empörtes „Nestbeschmutzer! Schwarzseher!“ und ein resigniertes „Ohne mich! Bin froh, die tägliche Arbeit zu schaffen!“ aus tiefer Begeisterung mühelos links und rechts liegen lassen, dann hat auch für die Waldorfschulen das 21. Jahrhundert begonnen.

Mein Aufsatz führte offenbar zu einigen Reaktionen, die Christoph Wiechert, den Leiter der Pädagogischen Sektion am Goetheanum in Dornach veranlassten, eine Entgegnung zu verfassen („Zeitgemäße Selbstbestimmung“, 14.12.2007), die ich sehr problematisch fand. Siehe hierzu meine >> Gedanken zu Wiecherts Text und meine Entgegnung >> Schlafen die Waldorfschulen? – die jedoch nicht mehr veröffentlicht wurde.