25.04.2009

Die Kernpunkte der Gronbachschen Frage

Ein Aufsatz über den erstaunlichen Zusammenhang zwischen Sebastian Gronbach und der heutigen Anthroposophie einerseits und einem grundlegenden Hinweis aus Rudolf Steiners „Kernpunkten der Sozialen Frage“ andererseits.


Inhalt
Die Kernpunkte der Gronbachschen Erleuchtung
Gronbachs Selbstimmunisierung
Exkurs: Die Gronbachsche Blog-Gemeinde
Anthroposophie als Ideologie
Eine tragische Wahrheit


Die Kernpunkte der Gronbachschen Erleuchtung

Sebastian Gronbach sieht sich als die Avantgarde der Erleuchtung. Und er sieht sich als Avantgarde der Anthroposophie, denn noch immer bezeichnet er Rudolf Steiner als seinen Lehrer...

Mit dem Bewusstsein des Revolutionärs wendet er sich ab von den „mythischen Inhalten“ der Anthroposophie, um sie mit Hilfe von Ken Wilber als Mythos zu entlarven. Lösen kann er sich von der Anthroposophie nicht, denn er ist durch seine Sozialisation (Waldorfschüler und Anthroposoph) offenbar so mit ihr verbunden, dass er sein bisheriges Leben verleugnen müsste... Da er andererseits verkündet, er habe sich schon von allem gelöst, scheint er nach wie vor zu glauben, dass er wirklich den „wahren Geist Rudolf Steiners“ vertritt.

Die Inhalte der Anthroposophie sind für Gronbach wie erwähnt ein Mythos:

In alten Zeiten und in heutigen, einfachen, magisch-mythischen Bewusstseinszuständen werden Menschen bestimmte Geschichten erzählt und Bilder gegeben, um den Weg des Erwachens, den Weg aus dem Ego in das SELBST plastisch zu beschreiben. So gibt man denen, die solch einen Prozess des Erwachens gerade durchmachen, die großartige Bildsprache aus der christlichen Mythologie an die Hand. Die Jesus Christus Story, in der er selber – wie andere Meister auch – die vollständige Transformation von Ego zum authentischen Selbst, zur „Gottseligkeit“ durchgemacht hat, bietet uns ein reiches Angebot an Symbolen und Geschichten zum Verständnis der eigenen Einweihungsbiografie.
18.11.2008, "Mehr als eine Leidensgeschichte".

Das ganze Leben Rudolf Steiners verlief so. Am Ende bot er eine extrem einseitig christliche Sicht an.
29.3.2009, "Weise Worte".


Von alledem hat sich Gronbach freigemacht. Wodurch? Durch seine am PC durch eine Webseite von Ken Wilber gewonnene Erleuchtung. Wilber ist für ihn der größte Meister:

Ein wirklich spirituelles und ganzheitliches Leben – ob man Anthroposoph ist oder nicht – ist ohne die integrale Vision Ken Wilbers nicht möglich. [...] Darum bin ich Wilber dankbar. Er hilft mir Steiner zu transzendieren.
4.4.2009, "Ist ein Buch wichtiger als ein Menschenleben?"


Es ist merkwürdig, dass er sich trotz alledem noch als „Anthroposoph“ bezeichnet. Auch ein weiteres Zitat beweist, dass dies nur noch leere Worte sind:

Ich habe ungemein vom anthroposophischen Schulungsweg profitiert. Bis zu dem Moment, wo dieser anthroposophische Schulungsweg dort mündete, wo es keine Anthroposophie, keine Religion und auch sonst keinen spezifischen spirituellen Weg mehr gibt.
21.3.2009, "Feuer & Flamme".


Gronbach ist nun nach eigenen, fast täglich wiederholten Aussagen vollkommen erleuchtet:

Gerade wer sich nahezu immer in der Einheit mit Gott weiss, der sollte sich von Zeit zu Zeit ganz bewusst aus dieser Einheit reißen [...] Im folgenden Text, habe ich mich bemüht im obigen Sinne, ganz aus der Einheit zu fallen [...]
24.12.2008, "Mea Culpa".

Hat man den Weg zum Vater, zum Nirvana gefunden, dann erkennt man das was manche "den Christus" nennen,  als eine Phase, die immer als Phase konzipiert war und die man überwinden muss...wie eine Brücke.
17.4.2009, "Lektionen über die Liebe".

Das Erwachen zur All-Liebe, ist nicht das was man Erleuchtung im umfassendsten Sinne nennt. Erleuchtung ist der schrittlose Schritt in das einfache, unbegrenzte, zeitlosen und alle Zeiten umfassende Ich-Bin des ewigen Seins.
17.4.2009, "Lektionen über die Liebe".


Diese höchste Erleuchtung sieht und erlebt er im Erwachen zum „reinen Bewusstsein“:

Als ich mich selbst suchte, da fand ich nichts - ausser Bewusstsein. Ich habe mich gesucht und NICHTS gefunden.
2.4.2009, "Bekenntnisse eines Selbstdarstellers".

Wenn Du aufwachst, dann ändert sich auch nichts. Ausser dass Du wach bist. Wenn Du wach bist, siehst Du die Leerheit der Leere und das befreit Dich und befreit siehst Du die Fülle der Leere.
24.4.2009, "Segen".

Erwachen bedeutet zu sehen, dass niemand da ist. Alles bleibt wie es ist: Katzen, Tränen, Orgasmen und Penner - nur ohne Ich-Gefühl.
16.12.2008, "Alles bleibt anders".


Und angesichts dieser höchsten Erleuchtung ist alles relativ, alles (gleich) göttlich:

So gesehen, war Jesus Christus gleichermaßen ein Nachfolger, wie auch ein Schüler des Buddha.
17.4.2009, "Lektionen über die Liebe".

Was ist das Erleben der Erleuchtung? Was ist das Wesen des Erwachens? Wird es bunt? Wird es heilig? Begegnet man vielleicht sogar geistigen Wesen? Einem Engel? Dem Christus? Nichts von allem – stattdessen stirbt alles in einem ab. Es stirbt, wird begraben und dann steht das auf, was immer schon da war, bis ans Ende aller Tage: Das wahre Ich.
12.4.2009, "Mach. Alles. Neu."

Jeder sucht und findet seinen Weg. Jedes Buch findet seinen Leser, jeder Leser sein Buch, jede Methode zum Erwachen ist exakt die richtige Methode und jeder Schritt, den Du tust, ist der richtige Schritt. Es gibt religiöse Wege, es gibt philosophische Wege, östliche, westliche, leidvolle oder glückliche. Mein Vertrauen darauf, dass jeder seinen Weg macht und geht, ist grenzenlos. Es kann gar nicht anders sein - auch den Weg nicht zu finden ist ein Weg.
21.3.2009, "Feuer & Flamme".

Ob ich in Pornografie, Sex und in ekstatischen Orgien diese göttliche Schönheit sehen kann, hängt weniger von dem Objekt meiner Betrachtung ab, sondern mehr vom Bewusstseinsgrad meiner Entwicklung. [...] Das absolute Licht nutzt jede relative Form. Liebeslicht als Freude, als Kritik, als Dogma oder als Freiheit, als Frust und als Lust, als Terrorismus oder als Orgasmus.
8.3.2009, "Die Anthroposophen und der Sex".

Gronbachs Selbstimmunisierung

Gronbachs höchste Erleuchtung geht problemlos einher mit seinem völlig unverwandelten Alltagsbewusstsein, ja liefert ihm den idealen Vorwand, alles auch weiterhin unverwandelt zu lassen, denn im Lichte der höchsten Erleuchtung ist ja alles bereits göttlich (siehe oben). Ich greife nur Gronbachs regelmäßig wiederkehrenden Bemerkungen über die Kultivierung seines Sexualtriebes heraus:

Schau Dir meine Braut auf dem Bild an. Rechts, Fedelma, die blonde Queen. [...] Wer beim Anblick dieser Göttinnen und Göttern nicht erregt ist – der hat das Spiel nicht verstanden.
21.4.2009, "Spiritualität: Schnell, tief und sexy".

Der Geistschüler hat keine Angst vor animalischem Sex, er meidet ihn nicht furchtsam, er überhöht ihn nicht, sondern er hat ihn einfach ‑ das war's.
2008, "Missionen", S. 119.


Er will seine Erleuchtung jedem Menschen zugänglich machen – deswegen macht er sie so schmackhaft wie möglich, selbst für die Generation PC
, ja er fordert geradezu ein Update und Upgrade von Sprache und natürlich auch Inhalt (und er nennt es immer noch Anthroposophie...), wobei vom Inhalt natürlich bis auf das NICHTS nichts übrig bleibt, siehe oben:

Verstehe bitte, dass Dein individuelles Betriebssystem exakt das richtig ist. Verstehe bitte weiter, dass es wirklich darauf ankommt, dieses Du Dein Betriebssystem immer als neustes Upgrade gebrauchst. Du musst wirklich immer das best mögliche Programm benutzen. Für Deinen Körper, für Deine Psyche und für Deine mentale Ebene. Anthroposophie ist eines von vielen Programmen - wähle eine aktuelle Version davon.
15.4.2009, "Freie Fahrt für freie Geister".


Es ist klar, dass man es hier mit einer perfekten Selbstimmunisierung zu tun hat.
So klar es ist, dass Gronbach selbst an seine allerhöchste Erleuchtungsstufe glaubt, so klar ist es, dass er keinerlei andersartigen Hinweise von außen anerkennen wird. Und natürlich gilt für jemanden, der auf einen Schlag die absolute Erleuchtung erlangt hat, auch nicht mehr der Schulungsweg, etwa:

[...] die goldene Regel der wahren Geheimwissenschaften [...]: wenn du einen Schritt vorwärts zu machen versuchst in der Erkenntnis geheimer Wahrheiten, so mache zugleich drei vorwärts in der Vervollkommnung deines Charakters zum Guten.
Rudolf Steiner, „Wie erlangt man...“, S. 67.

Eine gewisse Grundstimmung der Seele muß den Anfang bilden. Der Geheimforscher nennt diese Grundstimmung den Pfad der Verehrung, der Devotion gegenüber der Wahrheit und Erkenntnis. Nur wer diese Grundstimmung hat, kann Geheimschüler werden. [...] Der Eingeweihte hat sich nur dadurch die Kraft errungen, sein Haupt zu den Höhen der Erkenntnis zu erheben, daß er sein Herz in die Tiefen der Ehrfurcht, der Devotion geführt hat. [...] Wer eine solche Vorbereitung nicht mitbringt, dem erwachsen schon auf der ersten Stufe des Erkenntnispfades Schwierigkeiten, wenn er nicht durch Selbsterziehung die devotionelle Stimmung energisch in sich zu erzeugen unternimmt.
Rudolf Steiner, „Wie erlangt man...“, S. 19ff.


Die Vervollkommnung seines Charakters braucht Gronbach ebenso wenig, wie Ehrfurcht oder Devotion – die allerhöchste Erleuchtung entschuldigt auch alles bzw. vor ihr gibt es nichts mehr, was unrein oder unheilig wäre. Und natürlich hat Gronbach damit auch sämtliche Widersachermächte übersprungen, ihnen ein Schnippchen geschlagen... Er steht höher als jedes andere Wesen, sogar höher als der Christus. Während dieser nur eine „Phase“ auf dem Weg zum höchsten Vater, zum Weltengrund ist, so ist Gronbach eins mit ihm – mit Nirvana, mit dem NICHTS.

Für jeden vernünftig denkenden Menschen ist klar, dass Gronbachs PC-Erleuchtung ihm jede Unterscheidungsfähigkeit genommen hat.

Exkurs: Die Gronbachsche Blog-Gemeinde

Die „Erleuchtung“ der fünf, sechs regelmäßigen Blogger, die sozusagen Gronbachs „Gemeinde“ bilden, offenbart sich aus deren eigenen Beiträgen. Das Niveau dieser Beiträge liegt teilweise noch unter den Gronbach-Texten (die Erleuchtung wird in noch einfacheren, immer gleichen, teilweise paradoxen Worten angedeutet), andererseits empfindet man unmittelbar, dass zumindest der selbstgefällige Narzissmus eines Gronbach hier deutlich kleiner ist. „Erleuchtungs-immanent“ liegt natürlich immer vollkommene Selbstlosigkeit vor...

Ich gebe einige Beispiele der Blogbeiträge der letzten zwei Wochen:

Mir persönlich ist die von S.G. vertretene Darlebungsform erheblich angenehmer und lebendiger als diese nimmer endenwollende gelackte, glatte Wissensverkündung dieser "braven" und "richtigen" Anthroposophen. Hier erlebe ich mehr künstlerischen Spirit und das liebe ich!!! Ohne Kunst möchte ich nicht leben!! (Manfred)

Das heißt nicht, dass ich Christus bin, sondern er ist in mir und ich in ihm, was sich als Liebe und Vertrauen äußert zu allem, was um mich und in mir ist. Deswegen bleibe ich als Individualität immer noch «bloß» Teil des Ganzen, solange ich mich hier auf dieser Welt manifestiere. (MonikaMaria)

Diese I am-ness oder Ich-Binheit (Wilber) ist das, was ich meine mit ICH+ich. «ich» bin nie mehr ohne ICH BIN unterwegs = Ich-Binheit durchdringt mein Fühlen, mein Denken und mein Wollen. (MonikaMaria)

Mein Aufwachen habe ich nämlich so erlebt: Es hat mir meinen Verstand WEGGEBLASEN, VERBRANNT, AUSGELÖSCHT und zwar mit den allergrößten Schmerzen, die man sich überhaupt vorstellen kann. (MonikaMaria)

Der innere Beobachter ist das Bewusstsein selbst, wenn ich das richtig verstehe. Aber selbst dieser Beobachter ist schon damit, dass er Beobachter IST im Diesseits, im Relativen, auch ALS Beobachter und damit auch Vergänglich. (Jasna)

"was ist mit denjenigen, die nunmal keinen Sex haben?" Die sollten sich mal schleunigst welchen besorgen! Ist garnicht so schwer, glaub mir ;-). (Jasna)

Und so eine Meditation zwischendurch wenn der Kuchen im Ofen ist, bringt dich wieder auf Null und vielleicht bekommst du Ideen für ein Neues Rezept..oder den Kuchen mal in Form eines sexy Oberkörpers habe ich schon gesehen.. kann man dann sogar anbeissen. (Janet)

...die Stiefel sind scharf, Fedelma, ich will auch solche, die leuchten ja richtig! (Janet)

Und DAS ist exakt der richtige Ansatz. So kommen wir der Evolution näher. Das EGO sieht in diesem Satz nur EGO. Der freie Geist, sieht nur den reinen Wunsch: "Scharf - will ich auch." Ist das nicht schön? (Anonym).

Die Welt und Ich in der Welt sind immer genau und exakt JETZT am Höhepunkt unserer evolutionären Entwicklung. (Jasna)

Mir fällt leider grad nichts Kluges dazu ein. Das macht mich etwas traurig. Ich wär grad viel lieber Klug :-). Oder... Moment, wenn ich das mal so in mir bewege erkenne ich nicht viele Bewusstseine, sondern ich erkenne nur verschiedene BewusstseinsEBENEN! Und jetzt brauch ich mal die Wilbersche Hilfe! HILFE!!! Es gibt wohl die horizontalen Ebenen und die vertikalen Ebenen des Bewusstseins. Ich bräuchte jetzt grad mal eine Expertenergänzung hierzu aber man will ja immer selbst draufkommen... also SELBS-ERKENNTNIS quasi (Anthroposophischer Weg, glaub ich?). Ich versuchs mal in meinen Worten: Also in der Horizonalen sprechen wir von Bewusstseinsstrukturen und in der Vertikalen Linie von BewusstseinsEBENEN! Die Christus-Vor-STELLUNG (Ego) ist meinem Verständnis (Ego) nach somit eine BewusstseinsSTRUKTUR auf einer mystischen BewusstseinsEBNE. (Jasna)

Noch mehr am Verständnis hindert Sie, wenn Sie Ihren Horizont mit den tausendfach ausgelutschten Begriffsfossilien von Steiner verstellen und das dann für blühende Landschaften halten. Steiner ist ein tolles Museum, in dem man viel lernen kann. Aber es ist eben ein Museum. (Christian Grauer)

Anthroposophie als Ideologie

Bis zu Gronbachs „Erleuchtung“ hat ihn die Anthroposophie offenbar nachhaltig beeindruckt. Anders ist es nicht zu erklären[1], dass er seine Botschaften fast immer mit rudimentären Zitaten von Rudolf Steiner zu ergänzen und letztlich auch zu stützen versucht. Auch durch die Wilber-Brille findet er doch immer wieder Stellen, wo Steiner das Gleiche zu sagen scheint – und natürlich ist es auch hier wieder Gronbach, der ihn als einziger wirklich versteht.

Was alle anderen Anthroposophen laut Gronbach versäumen, ist, die Anthroposophie als riesige Märchenbühne und als Kabinett der verschiedensten Mythologien, Bilder, Vorstellungen usw. zu durchschauen. Mit anderen Worten: Gronbach behauptet, Rudolf Steiner hätte, wenn das damals schon möglich gewesen wäre, so einfach gesprochen, wie er – Gronbach – es heute tut!

Es bleibt jedenfalls dabei, dass Gronbach den Anthroposophen inzwischen einen wüsten Mythenglauben und Dogmatismus vorwirft, der offenbar mindestens genauso schlimm wie jener der katholischen Kirche ist. Gronbach spricht auch vom „gepflegten Schrebergartenweltbild“ der braven Anthroposophen, die sozusagen weiterhin an Naturgeister und Engel glauben, während um sie herum die Menschheit in der wahren Erleuchtung voranschreitet.

Man kann diesen Vorwurf auch mit jener Schizophrenie vergleichen, wie sie das Bürgertum offenbarte, als es zur Zeit der Industrialisierung sonntags in die Kirche ging und sich in der Vorstellung des eigenen Christentums sonnte, und werktags dem Materialismus und der Ausbeutung lebte. Auch dieses Bürgertum war blind für die Realität – von der es dann in der Revolution überrollt wurde.

Und hier hat man sozusagen ein reales historisches Vorbild für vieles, was uns heute im „Phänomen Gronbach“ entgegentritt. Der Schlüssel zum Verständnis für die Kräfte, die das Proletariat bewegten, liegt in der Erkenntnis, dass das damalige Geistesleben von diesem Proletariat nur noch als Ideologie – also gleichsam als Mythos – wahrgenommen wurde.

Rudolf Steiner schreibt in seinen „Kernpunkten der Sozialen Frage“:

Was im Übergange zur neuen Zeit aus dem alten Geistesleben geworden ist, empfindet die proletarische Lebensauffassung als Ideologie. Wer die Stimmung in der proletarischen Seele begreifen will, die sich in den sozialen Forderungen der Gegenwart auslebt, der muß imstande sein, zu erfassen, was die Ansicht bewirken kann, daß das geistige Leben Ideologie sei. Man mag erwidern: Was weiß der Durchschnittsproletarier von dieser Ansicht, die in den Köpfen der mehr oder weniger geschulten Führer verwirrend spukt. Der so spricht, redet am Leben vorbei, und er handelt auch am wirklichen Leben vorbei. Ein solcher weiß nicht, was im Proletarierleben der letzten Jahrzehnte vorgegangen ist; er weiß nicht, welche Fäden sich spinnen von der Ansicht, das geistige Leben sei Ideologie, zu den Forderungen und Taten des von ihm nur für „unwissend“ gehaltenen radikalen Sozialisten und auch zu den Handlungen derer, die aus dumpfen Lebensimpulsen heraus „Revolution machen“.
Die Kernpunkte der Sozialen Frage, GA 23, S. 42.


Für Gronbach ist die ganze Anthroposophie, wie sie höhere geistige Wesenheiten schildert, wie sie das Mysterium von Golgatha schildert – von anderem spricht er gar nicht erst –, reine Mythologie. Es handelt sich um Ideologie, die von den verstaubten, versteinerten Autoritäten in Dornach oder auch von braven Gefolgsleuten mit ihrer Schrebergarten-Mentalität vertreten werden.

Und er selbst? Er sieht sich als die allerhöchste Avantgarde an. Die Ideologie wird so lange weitervertreten werden, bis sie vom Lauf der Geschichte, vom Rad der Ereignisse überrollt wird. Heute ist dies die fortschreitende Entwicklung des menschlichen Bewusstseins – hin zur wahren Erleuchtung, wie Gronbach sie verkündet (und wie sie laut ihm auch Steiner gemeint hat). Gronbach kann also ganz ruhig seine Mission verfolgen: Die alten Kräfte haben ausgedient. Die Mythologie hat keine Kraft. Die (Bewusstseins-)Geschichte läuft unwiderruflich auf die Konfrontation mit den wirklichen Kräften zu: Mit den Kräften der realen Erleuchtung.

So wie der Sozialismus einen gesetzmäßigen Verlauf der Geschichtsentwicklung postulierte, so ist es für Gronbach klar, dass immer mehr Menschen erkennen werden, was die wahre Erleuchtung ist. Sie brauchen es nur zu wollen – und sie werden erkennen, dass sie immer schon erleuchtet waren... Während also die „integrale Avantgarde“ um Gronbach längst die Anthroposophie transzendiert (hat), werden nur die rückwärtsgewandten Kräfte auch weiterhin noch von „Michael“, von „Christus“ und anderen Mythen sprechen.

Eine tragische Wahrheit

Die Ähnlichkeit der Gronbachschen Erleuchtungs-Revolution mit der „Arbeiterbewegung“ führt jedoch zu einer weiteren Frage, die sich auch damals schon stellte: Die Frage nach der Ideologie ist noch nicht beantwortet. Das Proletariat nahm den „geistigen Überbau“ des Bürgertums als reine Ideologie wahr. War er dies? Gronbach nimmt die anthroposophischen Erzählungen als reine Mythen war – sind sie dies?

Die Antwort hängt von der Perspektive ab. Das Bürgertum fühlte sich mit „seiner“ Religion und Kultur noch genügend verbunden, um die eigene verlogene und dekadente Welt nicht durchschauen zu müssen... Es war also nicht etwa eine bewusst ins Werk gesetzte Ideologie, wie man sie in Reinform in Diktaturen findet, sondern eher ein bequemer Selbstbetrug. Und auch an dieser Stelle kommen wir zu einer weiteren Ähnlichkeit mit dem Phänomen, das wir hier betrachten wollen: Gronbach und die Anthroposophie. Und hier stehen wir vor einem wirklich tragischen Aspekt.

Denn es muss zugegeben werden, dass Gronbach die Anthroposophie mit demselben Recht wie der Proletarier das damalige Geistesleben für eine Ideologie, für einen Mythos hält! Die Anthroposophen fühlen sich dieser „Anthroposophie“ noch genügend verbunden, um die eigene verlogene und dekadente Welt nicht durchschauen zu müssen. Und doch müsste Rudolf Steiner heute in ebenso scharfen Worten die „Anthroposophie“ kennzeichnen, wie er sie für das damalige Bürgertum fand:

Die herrschenden Klassen erkennen sich nicht als die Urheber derjenigen Lebensgesinnung, die ihnen gegenwärtig im Proletariertum kampfbereit entgegentritt. Und doch sind sie diese Urheber dadurch geworden, daß sie von ihrem Geistesleben diesem Proletariertum nur etwas haben vererben können, was von diesem als Ideologie empfunden werden muß.
Die Kernpunkte, S. 43f.


Was die Anthroposophen von Rudolf Steiner „geerbt“ haben – die Fülle der Geistes-Erkenntnis und einen ganz klaren Schulungsweg –, das wurde fortan verwaltet, konnte nicht in seiner Lebendigkeit erhalten werden. Es wurde ein totes Erbe, und so konnte und kann man immer nur das weiter „vererben“, was von wirklich suchenden Seelen früher oder später als Ideologie empfunden werden muss.

Das Phänomen „Gronbach“ ist eine historische Tatsache, die zeigt, an welchem Punkt die „Anthroposophie“ heute steht – sie ist toter als das äußerliche Geistesleben zu Rudolf Steiners Zeiten.

Was aber das Schlimmste ist, ist, dass die Krankheit dessen, was heute „Anthroposophie“ genannt wird, gar nicht gesehen werden will. Und so gilt auch hier das, was Rudolf Steiner damals über die Krankheit des sozialen Organismus sagte:

Der gegenwärtige krankt an der Ohnmacht des Geisteslebens. Und die Krankheit wird verschlimmert durch die Abneigung, ihr Bestehen anzuerkennen.
Die Kernpunkte, S. 50.


Die „Anthroposophische“ Bewegung krankt an der Ohnmacht des in ihr entfalteten „Geisteslebens“. Und die Krankheit wird verschlimmert durch die Abneigung, ihr Bestehen anzuerkennen.

Und so ist diese „anthroposophische“ Bewegung letztlich (in anderer Weise) ebenso hochmütig und ebenso blind wie Sebastian Gronbach. Beide sind gleichermaßen blind für das, was Anthroposophie als lebendige Geisteswissenschaft sein könnte und ihrem Wesen nach ist. Die Anthroposophen sind blind für ihre eigene Krankheit – und Gronbach ist blind dafür, dass es eine Krankheit ist und dass seine Erleuchtung nicht der Ausweg, sondern ein Irrweg ist.

Gronbach wirft die geist-lose Ideologie, die die „Anthroposophen“ aus der Anthroposophie gemacht haben, in einen Topf mit der Anthroposophie selbst, d.h. er hat ebenso wenig ein Verständnis für ihr Wesen. Weil er (wie seine Sprache und seine Themen offenbaren) ganz auf die Sinneswelt ausgerichtet ist, durchschaut er nicht, dass man zur wahren Anthroposophie nicht dadurch kommt, dass man alles „Bildhafte“ aus ihr herauslöscht, sondern – im Gegenteil – nur dadurch, indem man all das, was Rudolf Steiner geschildert hat, in ganz neuer Weise tief ernst nimmt, anstatt es nur zu verwalten und sich in der GA immer besser auszukennen! Gronbach empfindet die Krankheit der Anthroposophie – aber er hat daraus den völlig falschen Schluss gezogen, bis ins tief Existentielle hinein...

Ja, man muss aufhören, den „Bildern“ hinterherzulaufen und es dabei zu belassen – aber man darf sie nicht als Mythen abtun, sondern muss sich auf den Weg begeben, auf dem man die Wesenhaftigkeit der geistigen Welten in all ihrer Vielfalt (auf die Rudolf Steiner in zahllosen imaginativen Schilderungen hinweist) schließlich selbst erleben und schauen können wird. Dazu aber muss man die Grundlage dieses Weges anerkennen: ein kräftiges, reines, lebendiges Denken – was ebenfalls erst entwickelt werden muss.

Und so sei an das Ende dieses Aufsatzes ein Zitat Rudolf Steiners gestellt, das das „Phänomen Gronbach“ von diesem Aspekt her völlig treffend charakterisiert und zugleich den Weg aus der „Krankheit der Anthroposophen“ weist:[2]

Es fehlt uns eben zu stark die Möglichkeit, uns zu erheben von der Abhängigkeit dessen, was uns von außen erscheint, und uns zu erheben zu dem lebendigen Eigenweben des Denkens. Und das ist im Grunde genommen das nächste, wenn wir es so nennen wollen, mystische Bedürfnis, nicht das dunkle mystische Zeugs, was heute so vielfach getrieben wird, das Sich-selbst-Erleben im göttlichen inneren Sein und dergleichen, wie die Dinge so schön klingen; denn den Gott in seinem Inneren erlebt jedes Wesen. Wenn man nur sagt: Mystik, Theosophie, das ist inneres Erleben seines Zusammenhanges mit der Einheit der Welt, mit dem Gotte in sich: der Maikäfer erlebt ihn auch, aber in seiner Art. Es handelt sich darum, dass wir zunächst beginnen müssen mit dem Erleben eben dieses lebendigen Wesens des Denkens, das sich in konkreten Begriffen auslebt.
Rudolf Steiner, 24.7.1917, Das Verhältnis des Menschen zur Wahrheit, GA 176, S. 196.



Anmerkungen


[1] Gronbach-immanent ist natürlich immer alles aus, in und mit seiner allerhöchsten Erleuchtung zu erklären. Egal, was man gegen ihn vorbringt – man kann jederzeit sehr einfach simple Gronbach-immanente Sätze formen, die die eigenen Gedanken „widerlegen“ würden. „Erleuchtung“ ist der „Trumpf“, der alles sticht... Die Selbstimmunisierung der Gronbach‘schen Erleuchtung entspricht der des Materialismus gegen die Geisteswissenschaft.

 

[2] Dieses Zitat verdanke ich einem Beitrag von „Werner“ in Gronbachs Blog.