13.06.2011

Irene Diet und das Nicht-Verstehen Rudolf Steiners

Entgegnung auf Irene Diet: „Das Geheimnis der Sprache Rudolf Steiners. Vom ungelösten Rätsel des Verstehens.“ Ignis Verlag 2011. | > Kurzfassung.


Inhalt
„Heute ahne ich, dass es diese Brücke gar nicht gibt“
Rudolf Steiner übersetzen? | Mieke Mosmuller missverstehen? | Von Sprache, Denken und Poesie
Von Diets Sehnsucht, alles nicht zu verstehen | Der „Maßstab des Verstehens“ oder wirkliches Verstehen?
Denken als Tastorgan – was stößt wo an? | Generalangriff auf Mieke Mosmuller
Rudolf Steiners Dramatik – „Der Mensch“ | Mieke Mosmullers Voraussetzungen und eine denkbare Brücke
„Was ist das, eine Willensentfaltung?“ | Im lauten Lesen den Worten lauschen?
Und immer wieder: das Nicht-Verstehen | Und immer wieder: falsche Alternativen
Beobachten und Denken | „Rudolf Steiner vollzieht“ – und Diet?
Unter Ausschalten des Verstehens an die Schwelle? | Nur Gefühl und kein Denken – der Beweis | Was ist das Denken?
Anthroposophie – dunkel herrschendes Bedürfnis?
Wie Rudolf Steiner selbst sein wichtigstes Buch meinte
Mieke Mosmuller und Rudolf Steiner

„Heute ahne ich, dass es diese Brücke gar nicht gibt“

Im März erschien ein kleines Büchlein von Irene Diet: „Das Geheimnis der Sprache Rudolf Steiners. Vom ungelösten Rätsel des Verstehens.“

Leser dieser Webseite werden sich erinnern, dass ebendiese Irene Diet in der Weihnachts-Ausgabe der Vierteljahrsschrift „Anthroposophie“ heftige Angriffe auf Mieke Mosmuller geführt hat, die sich in einem weiteren Aufsatz (vom Lochmann-Verlag veröffentlicht) noch steigerten.

Ich habe die Haltlosigkeit ihrer Angriffe im Dezember hier aufgezeigt, und im Osterheft der „Anthroposophie“ wurde eine weitere ausführliche Entgegnung von mir abgedruckt.

In ihrem Büchlein wird nun Diets eigener Standpunkt in Bezug auf Rudolf Steiner deutlicher. Doch auch hier greift sie Mieke Mosmuller wiederum ganz direkt an – in ihren Ausführungen verbinden sich krasses Unverständnis und platte Verleumdungen. Aber betrachten wir das Buch ausführlich.

Diet beginnt mit einer Vorbemerkung:

Einem Außenstehenden müssen die großen und zahlrei­chen Differenzen, die es zwischen denjenigen gibt, die sich doch alle als „Anthroposophen“ bezeichnen, sehr fragwür­dig und unverständlich erscheinen. Und ich selbst, die ich diese Differenzen ganz besonders stark erlebe, habe mich immer wieder gefragt: Wie kommt es, dass ein und das­selbe Werk – das Werk Rudolf Steiners – so verschiedenar­tige Interpretationen und Lebens‑Ansätze in sich trägt? Wo liegt das, was uns voneinander unterscheidet? Und vor allem: Wie finde ich das, was uns verbindet? Wie kann ich eine Brücke zu dem anderen „Anthroposophen“ finden, mit dem ich ganz und gar nicht einverstanden bin? [7]


Diese Frage bewegt sicher viele Menschen, die sich der Anthroposophie verbunden fühlen. Irene Diet fährt fort:

Heute ahne ich, dass es diese Brücke gar nicht gibt. Dass ich mich damit abfinden muss, einen unüberbrückbaren Unterschied zwischen mir und vielen der anderen, die sich mit Rudolf Steiner beschäftigen, anzunehmen und zu akzeptieren. [...] Denn dieser Unterschied betrifft die Art und Weise, wie die Anthroposophie Rudolf Steiners erlebt wird. [7]


Es ist interessant, dass Irene Diet dies sagt. Wir werden sehen, worin der Unterschied besteht. Mieke Mosmuller aber könnte regelrecht denselben Gedanken äußern, der letzte Satz könnte wortwörtlich aus ihrem Buch „Der lebendige Rudolf Steiner“ stammen. Bei Irene Diet jedoch kann man sich äußerst unsicher darüber sein, ob ihre zuvor gestellte Frage „Und vor allem: Wie finde ich das, was uns verbindet?“ wirklich ernst gemeint ist, wenn sie derart haltlose Angriffe auf eine zutiefst ernsthaft strebende und wirkende Anthroposophin führt. Wenn sie Mieke Mosmuller wirklich verstünde, wäre die Brücke unmittelbar da.

Am Ende der Einleitung schreibt Diet dann:

Das Erleben, das den unüberbrückba­ren Unterschied zwischen mir und vielen anderen schafft, bezieht sich auf Rudolf Steiner. Von Anfang an, von der ersten Zeile an, die ich von ihm las, von dem ersten Bild, das ich von ihm sah, war mir klar: Hier ist etwas, das prin­zipiell anders ist als alles, was ich bisher kannte. [8]


Nun – dieses Erleben haben viele wahrhaftige Anthroposophen, und auch hier war es Mieke Mosmuller, die dem Sinn und Wesen des letzteren Satzes ein ganzes Buch gewidmet hat: „Der lebendige Rudolf Steiner“.

Rudolf Steiner übersetzen?

Im ersten Kapitel verweist Diet dann sogleich auf das Kernelement ihrer Ausführungen: Das Mysterium von Rudolf Steiners Sprache.

Denn so, wie ich es gewohnt bin, die Worte zu gebrauchen, scheint Rudolf Steiner das nicht zu tun. Er gebraucht sie anders. [10]

Mit Recht arbeitet sie dann den grundlegenden Unterschied zwischen den geschriebenen Büchern Rudolf Steiners und seinen Vorträgen heraus.

Dann kommt das zweite Kapitel: „Rudolf Steiner übersetzen?“ Und hier beginnt sie mit ihrer Kritik an Mieke Mosmuller, konkret an ihren Ausführungen im Buch „Arabeske“ im Anschluss an Rudolf Steiners Satz:

Der Umstand, dass das Ich durch Freiheit sich in Tätig­keit versetzen kann, macht es ihm möglich, aus sich heraus durch Selbstbestimmung die Kategorie des Erkennens zu realisieren, während in der übrigen Welt die Ka­tegorien sich durch objektive Notwendigkeit mit dem ihnen korrespondierenden Gegebenen verknüpft erweisen.
GA 3, S. 79.


Mieke Mosmuller schreibt dazu (S. 104ff):

Möglicherweise begreift man diesen Satz nicht, weil er sprachliche Schwierigkeiten mit sich bringt. Das ist jedoch etwas anderes als das Nicht-Begreifen der in den Worten verkörperten Gedanken. Die Probleme, die sich mit einem solchen komplizierten Satz erge­ben, sind also meistens Probleme der Sprache. Hat man den Gedanken daraus befreit, lässt er sich un­mittelbar und ohne weiteres verstehen. [...]
Welche Gedanken leben in dem oben zitierten Satz? Das Ich kann beliebig aktiv werden und kann daher nicht nur z.B. den Begriff des Kreises formen (dieser Begriff ist durch objektive Notwendigkeit mit dem Gegebenen – dem Kreis – verknüpft), sondern kann sein Begreifen auch zur Bestimmung seiner selbst ein­setzen. Wenn nun das Ich (der Denker) sich selbst bestimmt – und das tut er immer aus sich heraus, also ohne äußeren Anlass –, dann realisiert (d.h. verwirk­licht) das Ich den Begriff des Erkennens. Dieser Begriff ist nicht notwendig da, nicht schon von vornherein mit dem Ich verknüpft. Er wird erst realisiert, wenn das Ich sich dazu aufrafft.
Man kann es selbstverständlich auch anders for­mulieren, die Bedeutung ändert sich dadurch nicht. Über den Begriff des Kreises muss man denken, um ihn auf den Kreis beziehen zu können. Über den Be­griff des obigen Satzes braucht man nur zu denken, wenn man die Sprache nicht versteht. Versteht man sie, hat man auch die Bedeutung.


Diet kritisiert:

Der Autor behauptet also, dass das eigentliche Problem, das man mit den Texten Rudolf Steiners haben kann, rein sprachlicher Natur sei. Wolle man Rudolf Steiner lesen und begreifen, müsse man ihn als Erstes – übersetzen. Die aus seiner Sprache befreiten Gedanken ließen sich dann „unmittelbar und ohne weiteres“ verstehen. Denn „über den Begriff des obigen Satzes braucht man nur zu denken, wenn man die Sprache nicht versteht. Versteht man sie, hat man auch die Bedeutung“. Das „Befreien“ des (in der Sprache Rudolf Steiners gefangen gehaltenen) Gedankens wäre allerdings auf vielerlei Weise möglich; der hier ange­führte Autor zeigt uns – so er selbst – nur eine dieser Möglichkeiten. [18f]

Mieke Mosmuller missverstehen?

Hier im Beginn liegt bereits der Kern der Missverständnisse. Diet, der es im ganzen Buch so sehr um das Verstehen der Worte Rudolf Steiners geht, gibt sich keinerlei Mühe, Mieke Mosmuller zu verstehen. Sie – Diet – ist es, die Mieke Mosmuller einfach mit ihrem gewöhnlichen Verständnis überfährt, überfällt und um- und missdeutet. Würde sie sich mit dem Buch von Mieke Mosmuller nur einen Bruchteil der Mühe geben, die sie Rudolf Steiner zu widmen scheint, könnte sogleich die goldene Brücke des Verständnis da sein.

Diet behauptet, Mieke Mosmullers Aussage sei: Die wesentlichen Probleme mit Texten Rudolf Steiners sind „rein sprachlicher Natur“ und man müsse ihn zuerst einmal übersetzen. Sie sagt aber absolut nichts von Übersetzen, sondern Diet missdeutet die Worte „den Gedanken daraus befreit“ in diesem Sinne. Mieke Mosmuller meint nicht, dass Rudolf Steiner ungeschickt formuliert habe, sondern dass der lebendige Gedanke dieses Satzes in der Verkörperung in der Sprache, in Worten, notwendigerweise zunächst einmal Schwierigkeiten mit sich bringt. Gelingt es aber, aus und an den Worten den lebendigen Gedanken in sich selbst zu erwecken, dann ist dieser im selben Moment auch begriffen.

Mieke Mosmuller sagt dementsprechend auch nicht, es gebe mehrere Möglichkeiten des „Befreiens“, sondern das Denken, das den Satz versteht, hat ihn aus der (gedruckten) Sprache befreit, erweckt. „Man kann es auch anders formulieren“ bedeutet: Man kann den erweckten, verstandenen Gedanken auf verschiedene Weise formulieren.

Und sehr wohl können Formulierungen und Hindeutungen eines Menschen, der den lebendigen Gedanken in sich verwirklicht hat, auch anderen Menschen eine Hilfe sein, Rudolf Steiner zu verstehen und dann erst recht seine grandiose Fähigkeit, zu formulieren und in den Worten das Geistige zu verkörpern, zu erkennen.

Rudolf Steiner wollte, dass ihm Menschen nachfolgen. Menschen, die dies wahrhaftig tun, werden notwendigerweise auch auf ihre Weise das Verständnis für den Lehrer fördern können – so wie jeder Künstler, und sei es noch so bescheiden, anderen Menschen die Augen für die Allergrößten öffnen kann. Ist es denn sinnvoll oder sind wir überhaupt in der Lage, ganz allein zu versuchen, den Genius eines Goethe oder eines Michelangelo zu entdecken und auszuschöpfen? Oder sind wir nicht dankbar dafür, wenn ein fähiger Geist uns wertvollste Hinweise gibt, welche Wege wir gehen müssen, um die ungeheure Größe dieser Künstler überhaupt wahrhaft zu erkennen?

Mieke Mosmullers Bücher haben nichts mit einem „Übersetzen“ von Rudolf Steiner zu tun. Sie sind aber lebendiger Ausdruck ihrer Erfahrungen auf dem realen Weg der Anthroposophie und als solche eine allergrößte Hilfe, wenn man sie nicht wiederum böswillig missversteht.

Um es vorwegzunehmen: Es geht Diet um die Erweckung des inneren Menschen als Weg und Ziel der Anthroposophie. Und genau darum geht es auch Mieke Mosmuller, aus dieser Quelle heraus schreibt sie ihre Bücher. Sie gehört absolut nicht zu denjenigen Sekundärliteraten, die intellektuell „erklären“ wollen, wie man Rudolf Steiner zu verstehen habe, sondern sie ist eine fortwährende Mahnerin, den inneren Weg wirklich zu betreten, auf dem dann Rudolf Steiner und alles von ihm Gebrachte erst wahrhaft mehr und mehr erfasst werden kann, zugleich aber auch der wesentlichste Führer ist und bleibt.

Von Sprache, Denken und Poesie

Diet behauptet dann weiter, nach Mieke Mosmuller sei das Verhältnis

[...] zwischen dem Gedanken Rudolf Steiners und der Sprache, in der dieser Gedanke erscheint [...] austauschbar, beliebig. [20]


Diets anschließende Frage können wir an sie selbst richten: Woher kommt diese Annahme? Wie gesagt: Selbstverständlich kann ich einen Gedanken, dessen Sinn und Gehalt ich erfasst habe, in verschiedenster Weise selbst zum Ausdruck bringen. Das heißt aber noch lange nicht, zu verkennen, dass Rudolf Steiner diesen Gedanken meisterhaft in Worte gebracht hat. Man darf aber auch nicht die Augen davor verschließen, dass viele Schüler an diesem Meister scheitern – Diet selbst weist darauf hin. Die eigenen Bemühungen, etwas in Worte zu fassen, haben dann immer noch nichts mit „Übersetzen“ und „Verbessern“ zu tun, sondern sind Hinweise auf das, was vielleicht mit einer solchen „Hilfe“ doch fassbar werden kann.

Es gibt neben dem Meister einzelne Gesellen und zahlreiche Lehrlinge. Ganz gewiss können die fortgeschritteneren Gesellen den Lehrlingen etwas beibringen – auch in Bezug darauf, worauf man beim Meister achten muss! Gerade der Geselle weiß am besten, was beim Meister gerade nicht beliebig und „austauschbar“ ist. Wenn er mit eigenen Worten vom Meister(handwerk) spricht, so tut er es, so gut er es kann – und wird sich selbst zugleich immer in der rechten Beziehung zum Meister sehen.

Diet fragt nun, welches Verhältnis bei Mieke Mosmuller zwischen Sprache und Denken bestehe. Dazu tauscht sie in deren Formulierung das Wort „Das Ich“ durch „ich“ aus („Ich kann beliebig aktiv werden...“) und behauptet, „diese neue Übersetzung“ habe den Gedanken nicht verändert, ja erscheine sogar stimmiger, da die beschriebenen Vorgänge leicht eingesehen werden könnten und durchaus den Vorstellungen des Alltagsbewusstseins entsprächen [21].

Das Gleiche versucht sie dann bei Rudolf Steiner („Der Umstand, dass ich mich durch Freiheit...“). Hier behauptet sie nun, das gehe nicht, denn hier klinge es anders und fühle sich auch anders „an“, da alle anderen Elemente sich auf einer Sprach-Ebene bewegen, die der Alltagssprache widerspricht. Sie gleicht dann den Satz weiter und weiter der Alltagssprache an: „Weil ich frei tätig werden kann, wird es mir möglich, indem ich mich selbst bestimme...“.

Die „Kategorie des Denkens“ aber entzieht sich zuletzt einer Übersetzung, wodurch deutlich wird: Rudolf Steiners Sätze beugen sich nicht dem gewohnten Verständnis, bleiben letztlich als Ganze eine Art „Pfahl im Fleisch“.

Im folgenden Kapitel sagt Diet, unser gewöhnliches Denken stehe „tatsächlich seiner sprachlichen Ausdrucksform relativ frei gegenüber“. Eine Ausnahme bilde die Poesie, die man nicht vereinfachen bzw. verändern könne, ohne das Werk des Künstlers zu zerstören. Warum aber, so fragt sie dann, ist es seit jeher so absolut selbstverständlich, Rudolf Steiners Wort umzuformen? Warum erlebt man beim Lesen eines solchen Satzes wie oben,

„[...] dass hier kein Wort verschoben oder ersetzt, kein Komma verstellt oder  umgebaut werden kann?“ [29].


Dem ist nochmals zu entgegnen: Es geht nicht um eine „Übersetzung“ oder „Vereinfachung“ Rudolf Steiners. Es geht um den originären Ausdruck eigener Erfahrungen mit Rudolf Steiner und dem von ihm gewiesenen Weg. Im übrigen besteht zwischen Rudolf Steiner und einem Gedicht der Unterschied, dass Poesie in Stimmung und Bedeutung unmittelbar erfasst wird, während sich der Sinn von Rudolf Steiners Sätzen, wie Diet selbst betont, entzieht. Ein Gedicht braucht keine gelehrten Interpretationen, auch wenn die richtigen Hinweise sehr wohl tiefere Ebenen erschließen können; das Tor der Anthroposophie kann sehr wohl für viele verschlossen bleiben, die nicht den Schlüssel finden, obwohl sie vor den Worten Rudolf Steiners stehen...

Von Diets Sehnsucht, alles nicht zu verstehen

Am Ende des Kapitels schreibt Diet:

Rudolf Steiner wird neu gedeutet, erklärt, umformuliert. Warum ist das so?
Der Grund ist einfach: Man will verstehen, was er geschrie­ben hat.


Und so heißt das vierte Kapitel: „Von der Sehnsucht, alles zu verstehen“. Diet nimmt nochmals den Satz „Der Umstand, dass das Ich...“ und sagt, vielleicht stelle sich nun das Erlebnis ein, dass ich den Satz, so wie er ist, nicht verstehen könne, dass er mir fremd bleibe, dass ich ihn in voller Ehrlichkeit nicht selbst aussprechen könnte – denn dann müsste ich außerhalb dieses „das Ich“ stehen, ich sei aber identisch mit mir.

Hier wird Irene Diet tatsächlich so wortklauberisch wie Rüdiger Blankertz, der ja in gleicher Weise betont, dass man Rudolf Steiner zunächst nicht verstehe, dass es auf jedes Wort ankomme usw.

Die Frage ist: Bleibt mir der Satz fremd? Kann ich ihn nicht selbst aussprechen? Oder kann ich ihn nicht verstehen? Das sind drei völlig unterschiedliche Realitäten – Diet wirft sie jedoch alle in eins.

Rudolf Steiner selbst hat sogar für die Ergebnisse der höheren Geistesforschung betont, dass man sie mit dem „gesunden Menschenverstand“ verstehen könne. Um wie viel mehr muss dann ein Verstehen möglich und von Rudolf Steiner erwartet worden sein, wenn es noch gar nicht um diese höhere Geistesforschung geht?

Und es ist Wortklauberei, wenn Diet sagt, das Verstehen müsse scheitern, weil statt „ich“ „Das Ich“ gesagt wird. Das Ich ist ein Hinweis auf eine in jedem Menschen aufzufindende Realität. Warum sollte Rudolf Steiner von sich, in der Ich-Form, sprechen, wenn er sich gerade an den Leser richtet? Er will den Leser ja gerade auf dessen eigenes Ich verweisen, welches in der Aufmerksamkeit auf die beschriebenen Sachverhalte erweckt werden soll!

Selbstverständlich hat Diet recht, dass ein Mensch, der sich der Anthroposophie anfänglich annährt, mit dem Begriff „Das Ich“ zunächst überhaupt nichts anfangen kann, weil er völlig neu ist. Man kann aber lernen, zu verstehen und zu erleben, worauf Rudolf Steiner hinweist, wenn er vom Ich spricht!

Mieke Mosmuller spricht aber auch von nichts Geringerem. Selbst wenn sie einfachere oder „gewöhnlichere“ Worte und Satzstellungen als Rudolf Steiner verwendet, bleibt auch ihr Leser nicht der Aufgabe enthoben, zu verstehen, worauf sie hinweisen will. Völlig unredlich ist der von Blankertz und Diet schon in der Zeitschrift „Anthroposophie“ gemachte Versuch, ihr gewöhnlich bleibendes Denken zu unterstellen – solche Vorwürfe sagen fortwährend nur etwas über das (Un-)Verständnis der Leser aus, sei es durch oberflächliches Herangehen, sei es durch Böswilligkeit. Wiederum gilt: Würde man sich nur einen Bruchteil der redlichen Mühe geben, die man scheinbar Rudolf Steiner angedeihen lässt, so würden all diese verleumderischen Angriffe völlig ihre Grundlage verlieren.

Diet versteift sich nun aber wie Blankertz auf das Erleben des Nicht-Verstehens. Dies sei das eigentlich richtige, notwendige Erleben gegenüber Rudolf Steiner:

Ich kann entweder das Buch beiseite legen, oder aber mich meinem Nicht‑Verstehen aussetzen. Ich kann beobachten, was geschieht, wenn ich es mir voll zu Bewusstsein bringe. Wenn ich ihm nicht zu entfliehen versuche, sondern das Nicht‑Verstehen selbst zum not­wendigen, da unumgänglichen Teil meiner Arbeit mit dem Satz Rudolf Steiners mache. Und nun kann ich fragen: Was geschieht, wenn ich mich dem Satz mit dem Wissen, dass er sich meinem gewohnten Verstehen widersetzt, ver­ständnisvoll nähere? Wenn ich meine Unfähigkeit, ihn zu verstehen, zu ertragen versuche? Denn was wäre, wenn das Sich‑meinem‑gewöhnlichen‑Verstehen‑Widersetzen nicht eine Unart der Sprache Rudolf Steiners wäre, sondern ... der Weg, der mich dem Wesen dessen näher bringt, das Ich zu „erlesen“ suche?
Nehme ich diesen Gesichtspunkt zum Ausgang und setze mich weiter meinem Nicht‑Verstehen aus, dann verspüre ich sie: eine starke Opposition. Eine Opposition gegen den Satz – gegen den Satz Rudolf Steiners. Eine Opposition gegen Rudolf Steiner. [37]


Es gebe nämlich eine starke Sehnsucht nach Verstehen, dem „einzigen Halt, den ich habe [...] Denn ich spüre: Wenn ich mein Verstehen verliere, verliere ich mich selbst.“

Der „Maßstab des Verstehens“ oder wirkliches Verstehen?

Wenn man sich jedoch fragt, wie das Erlebnis des Nicht-Verstehens möglich ist, entdeckt man, dass dies bereits den Maßstab des Verstehens voraussetzt. Diet:

Wer oder was ist es also, der mir zuflüs­tert: „Du verstehst diesen Satz nicht?“
Es ist derselbe, der mich immer wieder zu Rudolf Steiner zurückführt – auch wenn ich ihn nicht verstehe. Es ist der, der in mir eine unstillbare Sehnsucht weckt, eine Sehn­sucht nach Rudolf Steiners Anthroposophie, die ich ebenso wie Hunger und Durst in mir verspüre. Die immer wieder neu entsteht, die mich begleitet, die mich quält, die mich von sich stößt und – die mich immer wieder neu ergreift. [39]


Hier deutet Diet auf einen inneren höheren Menschen, der einen bereits führt, auch wenn man sich seiner noch nicht bewusst geworden ist. Man fragt sich nur immer wieder: Warum setzt Diet ihre eigenen (offenbar) Erfahrungen so absolut? Warum kann sie nicht annehmen, dass der Zugang anderer Menschen zur Anthroposophie nicht von diesem ungeheuren Nicht-Verstehen, von diesem Erleben des Gequältwerdens, Fortgestoßenwerdens und Neu-Ergriffenwerdens geprägt ist, sondern viel tiefgreifender auf dem Verstehen beruht?

Ist es nicht sogar Diets grundlegendes Erlebnis zu Beginn ihrer Begegnung mit Rudolf Steiner, wenn sie sagt:

Von Anfang an, von der ersten Zeile an, die ich von ihm las, von dem ersten Bild, das ich von ihm sah, war mir klar: Hier ist etwas, das prin­zipiell anders ist als alles, was ich bisher kannte. [8]


Wie, wenn andere Menschen (wie insbesondere Mieke Mosmuller) ein ähnlich tiefgreifendes erstes Erlebnis hatten, das aber von Anfang an in ein Verstehen, ein Erkennen getaucht wäre? Wie, wenn es gerade darum ginge, die „Philosophie der Freiheit“ zu verstehen – und wenn dies bedeutete, sie innerlich mitzuvollziehen, und wenn dies möglich wäre, auch ohne die „dunkle Nacht des Nicht-Verstehens“? Wie, wenn das „selige Erleben der Evidenz“ etwas ist, was möglich ist, was von Rudolf Steiner auch (in Bezug auf viel mehr Schüler) erhofft und erwartet wurde – statt etwas zu sein, worüber man sich wie Rüdiger Blankertz lustig machen kann? 

Rudolf Steiner setzt jedenfalls einen ganz anderen Anfang als das mosmullersche selige Evidenz-Erleben – nämlich die klare initiale Erkenntnis der völligen Inkongruenz des gewöhnlichen Lesers mit den Anforderungen seines Textes.


Mieke Mosmuller spricht von der „Seligkeit der Evidenz in der Intuition“. Man kann ihr ohne jede Grundlage absprechen wollen, dass sie das Erlebnis der Intuition kenne (dann müsste man zunächst einmal belegen, dass man es selbst kenne), aber man wird doch wohl nicht verneinen, dass dieses Erlebnis mit einer Seligkeit verbunden ist  und dass es natürlich weit jenseits des „gewöhnlichen Lesers“ angesiedelt ist. Auch Blankertz wirft also völlig unterschiedliche Dinge in eins.

Denken als Tastorgan – was stößt wo an?

Im fünften Kapitel „Denken als seelisches Tastorgan“ schreibt sie, dass Rudolf Steiner Sätze gebiert, „die nicht nur Gedanken sind, sondern Wesenheiten.“ Diese träten als „unmittelbare Form“ auf,

[...] an die wir, indem wir sie zu denken versuchen, „anstoßen“. Und zwar so, dass wir denkend erleben, wie wir sie auf unsere gewohnte Art und Weise „nicht denken“ können. Oder anders ausgedrückt: Es ist diese „unmittelbare Form“ der Sätze Rudolf Steiners, die uns „abstößt“. [...]
Gedanken werden im Allgemeinen so erlebt, dass der Denker mit ihnen verschmilzt und sich daher im Denken selbst vergisst. Stoße ich aber mit meinem Denken am Nicht‑Verstehen, Nicht‑Denken‑Können an, werde ich mir als Denkender selbst bewusst. Und so erleben wir an den Sätzen Rudolf Steiners nicht nur deren Formen, sondern vor allem – uns selbst. [45]


Direkt im Anschluss bringt sie ein längeres Steiner-Zitat:

Man lernt ein Denken kennen, in dem man sich fühlt als in einem Kraftträger des eigenen menschlichen Wesens. Man lernt ein Denken kennen, das – ich spreche [...] die konkrete tatsächliche Wahrheit aus –, das anstoßen kann, von dem man weiß, es kann anstoßen. [...] Das gewöhnliche passive Denken stößt nicht an, das stellt bloß das Angestoßenwer­den vor. Denn das gewöhnliche passive Denken ist eben nicht eine Realität, es ist Bild. Das Denken, zu dem man auf die geschilderte Weise kommt, ist Realität, ist etwas, in dem man lebt. [...] Und wie man weiß, man kann mit dem Finger nicht überall durch, so weiß man mit dem realen Denken, in das man da hineinkommt, man kann mit ihm nicht überall durch. Das ist der erste Schritt. Diesen ersten Schritt muss man machen, das eigene Denken durch Aktivierung zu einem seelischen Tastorgan zu machen [...]
Das ist der erste Schritt, den man zu machen hat, dass sich einem das Denken verwandelt, so dass man in sich fühlt: Du bist ja jetzt selber ganz der Denker geworden. [...]
[...] Und das, was durch Aktivität des Denkens entwickelt wird, ist das erste übersinnliche Glied des Menschen [der Ätherleib] [...], das in einem höheren Tasten, in einem Tasten, zu dem man das Denken umgewandelt hat, tatsächlich so wahr­nehmbar ist, wie die physischen Dinge außen für das phy­sische Tasten wahrnehmbar sind. [...]
19.8.1923, GA 227, S. 41ff.


Und dann schreibt sie:

Denkend gebiert sich ein neuer Mensch – das ist das We­sen der Anthroposophie. [...] Anthroposophie ist die Mög­lichkeit, sich in der Verbindung mit den durch Rudolf Stei­ner geschaffenen und durch Denkbemühung erlebbaren Wesenheiten selbst neu zu gebären. Denn es sind diese im Denken zu erlebenden Wesenheiten, die durch meine nicht nachlassende Denk‑Bemühung einen neuen, einen zweiten Menschen heranbilden [...]. [48]


Hier muss man sich fragen, wie es kommt, dass Diet offenbar nicht einmal ansatzweise die Unstimmigkeit ihrer eigenen Gedanken klargeworden ist (um so mehr, als sie gleich folgend von einem „Unterscheidungsvermögen“ sprechen wird!). Denn sie spricht von einem Anstoßen an den Gedankenformen Rudolf Steiners, die wir nicht denken können, mit denen wir nicht verschmelzen können, wodurch wir uns selbst erleben. Rudolf Steiner dagegen spricht in vollkommener Umkehrung von einem Denken, in dem man lebt, sich in ihm als in einem Kraftträger fühlt, und mit dem man, weil es Tastorgan geworden ist, an anderes anstoßen kann.

Gerade darin besteht das Unterscheidungsvermögen: dass ich beginne, mit einem immer mehr wesenhaft werdenden Denken z.B. Wahrheit und Lüge wesenhaft zu ertasten – und nicht mit einem wesenlos bleibenden Denken an Rudolf Steiners unverstanden bleibenden Gedankenformen „anstoße“!

Ja, denkend gebiert sich ein neuer Mensch – aber nicht im Erleben des Nicht-Verstehens! Dann hat man das Denken noch gar nicht verwirklicht. Man wird zwar in einem solchen Erleben aufmerksam darauf, dass man nun aktiv zu denken beginnen muss, ganz anders als bisher, aber das ist doch wirklich erst der allererste Anfang. Wenn Diet voraussetzt, dass Mieke Mosmuller nicht einmal diesen Anfang gesetzt hat, dann kann man das nur „krank vor Hochmut“ nennen. Auf dieses „Denkend gebiert sich...“ macht Mieke Mosmuller doch in all ihren Büchern aufmerksam!

Mit dem Hinweis auf die „Wesenheiten“ wird Diet schon wieder okkult-mystisch, denn welcher Geistesschüler wann welche Wesenheiten erlebt, mag sie getrost ihm selbst überlassen. Nicht diese Wesenheiten bilden einen zweiten Menschen heran, sondern der Denker gebiert sich selbst. Man muss sich schon fragen, wie Diet diesen Sprung schafft – vom Nicht-Verstehen zum Erleben von Wesenheiten! Es sei denn, sie erklärt das, was sich ihrem Denken nicht fügt und woran sie „anstößt“, für das Erlebnis eigenständiger, wenn auch unverstandener Wesenheiten, das kann natürlich sein...

Nach dem Hinweis auf das Denken fährt sie fort:

Hier unterscheidet sich Anthroposophie prinzipiell von je­der anderen „Spiritualität“. Doch wird dieser Unterschied selbst von Anthroposophen kaum wahrgenommen; die heillose Vermischung zwischen Anthroposophie und New­Age‑Bewegung jeglicher couleur hat erschreckende Aus­maße angenommen. Das Organ, das durch die Arbeit mit der Anthroposophie Rudolf Steiners zumindest im Ansatz hätte entstehen müssen, und mit dem dieser Unterschied wahrgenommen werden könnte, scheint bei vielen, die sich Rudolf Steiner verbunden fühlen, nicht entwickelt zu sein. Das ist eine wachsende Tendenz, die ich spätestens seit 1998 immer deutlicher und schmerzvoller wahrneh­me.
Und dennoch – dieses Organ kann entwickelt werden. Im Erleben des an der Sprache Rudolf Steiners gebildeten Denkens formt sich nämlich gleichzeitig ein Unterschei­dungsvermögen [...] [49f]

Generalangriff auf Mieke Mosmuller

Und dann startet sie in einer Fußnote zu diesem Absatz den Generalangriff auf Mieke Mosmuller:

„New‑Age“ ist immer daran zu erkennen, dass dort, wo Denken statt­finden müsste, „innere“ Bilder – und heute sogar Filme – ablaufen. Als klassisches Beispiel dafür kann die Vorgehensweise von Mieke Mosmuller gelten, die nur von denen mit Anthroposophie verwechselt werden kann, die sich niemals mit den heutigen New­-Age‑Strömungen beschäftigt haben. Für Mieke Mosmuller löst sich nämlich jegliches „Denken“ in eine inszenierte Bilderwelt auf, und zwar in völlig gleicher Weise, wie es heute im Allgemeinen üblich ist. Siehe dazu unter vielem anderen die Beschreibung ihrer Arbeit mit der „Philosophie der Freiheit“ in: Mosmuller, Mieke, Das Tor zur geistigen Welt. Seine Riegel und Scharniere, Baarle‑Nassau 2010, S. 44ff. und S. 246ff. [50]


Ein infamerer Vorwurf ist wirklich nicht mehr denkbar. Derjenigen Anthroposophin, die alles, wirklich alles auf das Denken aufbaut, eine „inszenierte Bilderwelt“ vorzuwerfen, überschreitet wirklich eindeutig die Grenze zur Böswilligkeit. Man hätte hier Judith von Halle nennen können oder die neuen Karmaforscher, mit denen Diet sich sicher beschäftigt hat, aber sie hat es eben auf Mieke Mosmuller abgesehen – obwohl diese in der anthroposophischen Bewegung die einzige ist, die all jenen Pseudo-Anthroposophien, die nicht auf einem reinen Denken beruhen, ganz klar und zutiefst fundiert entgegentritt.

Sehen wir uns die beiden Stellen in „Das Tor zur geistigen Welt“ an, auf die Diet verweist. Der Abschnitt auf Seite 44ff beginnt:

Im ersten Abschnitt finden wir die Aufforderung, uns gründlich in den Erkenntnisprozess einzuleben. Lesen genügt nicht, wir wollen uns immer wieder dazu bringen, wirklich zu tun, was da steht. Der Übende kann sich zuerst dem Wahrnehmen mit den Sinnen hingeben. ‚Beobachten’ nennt Rudolf Steiner das hier. ‚Ein bloß beobachteter Vorgang oder Gegenstand ergibt aus sich selbst nichts über seinen Zusammenhang mit anderen Vorgängen oder Gegenständen. Dieser Zusammenhang wird erst ersichtlich, wenn sich die Beobachtung mit dem Denken verbindet.’


Und dann vollzieht Mieke Mosmuller detailliert und sorgfältig innerlich mit, was Rudolf Steiner beschreibt. Später heißt es z.B.:

Übend prüft der Leser also, wie er seine Empfindungen beobachten kann, seine Sinneswahrnehmungen etc. – Beobachten ist also ein Bewusstwerden dieser Inhalte, ein bewusstes Hinlenken der Aufmerksamkeit auf einen solchen Inhalt. Das kann man tun, üben, prüfen.
Dann kommt die Passage über die Beobachtung des Denkens. Nur indem wir auch dies tun, üben, prüfen, gewinnen wir Sicherheit darüber, was hier gemeint ist – weil wir selbst es in uns wiederfinden können.


Wo ist hier die „inszenierte Bilderwelt“, von der Diet fabuliert? Nein, bei Mieke Mosmuller findet man tatsächlich den klaren Hinweis und Aufruf zu ebenjenem Weg, auf dem sich denkend ein neuer Mensch gebiert. Nur verharrt dieser Weg nicht im Nicht-Verstehen, sondern er beginnt im rechten Verstehen, was zugleich ein inneres Tun ist.

Rudolf Steiner hat die „Philosophie der Freiheit“ nicht geschrieben, damit wir ratlos davor stehen und im Anstoßen an das Nicht-Verstandene uns selbst als Denker zu spüren beginnen, sondern damit wir – das Verstehen vorausgesetzt – das Geschriebene nicht nur intellektuell konsumieren, sondern innerlich mittun. Daran erwacht der innere Mensch, nicht am Kult des Nicht-Verstehens.

Ebenso ist es mit der zweiten Stelle, Seite 246ff:

Gibt es eine Möglichkeit, die menschliche Wesenheit so anzuschauen, dass aus dieser Anschauung die Stütze für das Andere gewonnen wird, das sich nicht selbst stützen kann? Auf diesen Satz kommt es an.
Nun müssen wir versuchen, diesen Abschnitt zu ‚tun’. Wie macht man das? Wir müssen lernen, in diesem erkenntnistheoretischen Bereich Vorstellungen zu formen, anhand der Wirklichkeit des Dargestellten zu ‚phantasieren’ [Wahrscheinlich ist es dies, was Diet wiederum böswillig missdeutet, H.N.]: Wir erleben die Welt, wir erleben uns selbst. Um den Wert dieses Erlebens zu ermessen, müssen wir uns einmal selbst Beispiele dieses Erlebens geben.
Ich empfinde mich selbst, empfinde z.B. eine gewisse melancholische Stimmung. Worauf deutet sie hin, wo kommt sie her? Oft weiß ich das nicht, gibt es auch keine Möglichkeit, eine Sicherheit darüber zu erlangen. Es ist ein Erleben, das mich zweifeln lässt, es stützt sich nicht selbst, ich muss die Erklärung suchen und zweifle über die Bedeutung meiner Stimmung. Man muss sich ein solches Beispiel selbst geben, zu erleben versuchen, wie hier der Zweifel waltet; dann lernt man, das Denken zu tun.

Ich erlebe die Welt. Ein Freund tritt mir entgegen. Er begrüßt mich herzlich, aber sein Lachen macht mich unsicher. Hier ist der Zweifel noch viel stärker, denn ich kann mich gar nicht in seine Stimmungen hineinleben, ich schaue sie gleichsam von außen an. Oder nicht? Habe ich recht, dass ich einen leichten Spott empfinde? Fühle ich mit Gewissheit seine innerliche Geste? Oder ist es meine Selbstbezogenheit? Zweifel und Ungewissheit! [...]
Das alles muss ganz ausgiebig und so vollständig wie nur möglich innerlich ‚getan’ werden. Man muss sich in diese vier Erkenntnishaltungen versetzen, sie als wirklich erleben, nicht schnell darüber hinweg denken. Man kann dazu auch noch einen religiösen Inhalt durchleben und empfinden, wie dort der ehrliche Zweifel waltet. Erst danach soll man sich fragen: Gibt es eine Möglichkeit, die menschliche Wesenheit so anzuschauen, dass diese Anschauung sich als Stütze erweist für alles andere (das man bereits durch dieses Tun erlebt hat)? [...]
Im Tun dieser Frage wird der Zweifel vollständig überwunden und die Stütze für alles andere, das sich nicht selbst zu stützen vermag, gefunden. Die Antwort liegt in der Frage verborgen, wird dann im ersten Teil der ‚Philosophie der Freiheit’ herausgearbeitet. Man hat jedoch nichts an dieser Antwort, wenn man sie nicht tut. Das ist innerliche Aktivität, dass man die Energie aufbringt, den ganzen Inhalt der ‚Philosophie der Freiheit’ so ausgiebig zu tun, wie ich es jetzt an einem Satz vorgemacht habe.
Man findet dann nicht nur die Antwort, man erzeugt, erweckt eine Fähigkeit: das reine Denken. [...]
Erst wenn das tätige Denken eine Fähigkeit geworden ist, hat der Wille das Denken bewegt, ist das reine Denken erst reiner Wille geworden. Die erkenntnistheoretischen Bücher Rudolf Steiners sind nicht nur Studienbücher. Vor allem sind es Übungsbücher [...] und die gegebenen Tatsachen werden in diesem Tun bewiesen, weil sie Realität werden. Nirgends ist eine so vollkommene Sicherheit und auch Einigkeit zu finden, wie in dem tätigen Denken, dem Denken, das getan wird. Denn wie man durch Erfahrung weiß, dass man in der Luft nicht laufen kann, so lernt man durch Erfahrung, die Tatsachen der ‚Philosophie der Freiheit’ zu bestätigen. Das ist keine gedankliche Annahme oder Abweisung, sondern eine Antwort auf die Frage: Kann man dies tun oder nicht? Und wenn man es tut, geschieht dann auch, was gesetzt wurde?
So wird dann der ganze umfassende Einweihungsweg ein gedankliches Tun, ein tätiges Denken. Auf diesem Weg erfährt der Schüler selbst Schritt für Schritt, dass tatsächlich geschieht, was vorhergesagt wurde.


Und wo ist hier die „inszenierte“ Bilderwelt? Dass Mieke Mosmuller sich akribisch besinnt, in welchen Lebensumständen eine „Stütze für alles andere“ gewonnen werden könnte? Sie hat Rudolf Steiners Frage verstanden, und sie macht sich daran, die Antwort zu suchen – Rudolf Steiner nennt das: Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode. Der ganze Abschnitt zeigt, wie hier das reine Denken erweckt wird – ein kraftvolles, willensdurchdrungenes Denken, das sich ganz auf sich selbst stellen kann, um von den Wurzelfragen des Lebens in die geistige Welt fortzuschreiten...

Rudolf Steiners Dramatik – „Der Mensch“

Das sechste Kapitel „Sprache zwischen Kunst und Wissenschaft“ beginnt Diet mit dem Satz:

Der erste Schritt auf dem Weg der Herausbildung dieses Wahrnehmungs‑Organs, das gleichzeitig das erste Glied eines neuen Menschen ist, besteht darin, dass das Unver­wechselbare, nicht Veränderbare der Sprache Rudolf Stei­ners nicht nur wahrgenommen, sondern zur tief in der Seele verankerten Erfahrung wird.


Sie zitiert dann aus „Vom Menschenrätsel“

Der Mensch kann in das gewöhnliche bewusste Den­ken eine stärkere Willensentfaltung einführen, als in diesem im gewöhnlichen Erleben der physischen Welt vorhanden ist. Er kann dadurch vom Denken zum Erle­ben des Denkens übergehen. Im gewöhnlichen Bewusst­sein wird nicht das Denken erlebt, sondern durch das Denken dasjenige, was gedacht wird. Es gibt nun eine innere Seelenarbeit, weiche es allmählich dazu bringt, nicht in dem, was gedacht wird, sondern in der Tätigkeit des Denkens selbst zu leben.
GA 20, S. 161.


Auch diese Sätze vereinfacht sie wieder in eine gewöhnlichere Sprache. Dann regt sie an, beide Texte laut zu lesen, und schreibt, es könne

[...] erlebt werden, dass dem Text eine eigenartige, atmende, lebendige Schwingung zugrunde liegt, die sogar zu einer Steigerung führt. [...] Wenn man sich bemüht und beim Lesen auf seine eigene Stimme lauscht, wird man den „dramatischen“ Unterton immer mehr erfühlen können.
Eine solche Erfahrung kann mit jedem schriftlichen Text Rudolf Steiners gemacht werden. [51f]


Bei Steiners Texten sei nicht nur eine ungeahnte, sich wechselnd steigernde und lösende Dramatik, sondern auch eine Melodie erlebbar. Die vereinfachten Sätze dagegen könne man nirgendwo „betonen“, ohne dass es lächerlich wirke, denn sie seien rein sinnhaft-intellektuell, ohne Rhythmus und Leben. Im „Lauschen der laut gesprochenen Sätze Rudolf Steiners“ entwickle sich ein künstlerisches Empfinden.

Lese man den Satz „Der Mensch kann...“ mehrmals langsam und bedächtig und lausche dabei der eigenen Stimme, so würden die beiden ersten Worte „Der Mensch“ immer geheimnisvoller. Man empfinde: Der Mensch – wer ist das? Beim Ersatz durch „man“ oder „ich“ werde offenbar, dass auf „Der Mensch“ die Hauptbetonung des Satzes liege.

Je län­ger ich mich dem Satz aussetze, desto deutlicher wird: „Der Mensch“ ist größer als ich es bin. Ich bin es nicht, dieser „Mensch“! Und doch möchte ich es sein! Ich möch­te es werden! Und ich möchte das können, was „der Mensch“ kann! Denn was kann er?
Und hier beginnt die andere Seite des Erwachens. Eine neue Dimension der noch unbegriffenen Andersartigkeit der Texte Rudolf Steiners eröffnet sich: die intellektuelle Seite. Denn nun lese ich genau. Was kann der Mensch? [53]

Mieke Mosmullers Voraussetzungen und eine denkbare Brücke

Es ist verdienstvoll, dass Diet so genau das Erleben an diesen Sätzen Rudolf Steiners beschreibt. Auf der anderen Seite ist auch dies wiederum genau das, was Mieke Mosmuller immer und immer wieder betont: Es muss genau gelesen werden, bedächtig, mit Hingabe, durchdrungen von Empfindung und Willen.

Der Unterschied zwischen Diets Beschreibung und Mieke Mosmullers Aufruf liegt also unter anderem darin: Diet schildert vorwiegend noch immer das Erleben des gewöhnlichen Intellekts, der an Rudolf Steiners Sätzen anstößt und nicht versteht. Im lauten Lesen wird ihr – sie schildert in Ich-Form – langsam immer deutlicher, dass es aus Steiners Sätzen „heraustönt“, wie dasjenige, was Steiner beschreibt (wenn er vom „Menschen“ spricht), weit größer ist als das, was sie ist. Zugleich wird etwas in ihr angesprochen, das erlebt: So möchte ich werden.

Mieke Mosmuller schreibt ihre Bücher von vornherein etwas „höher“, indem sie diese Anfänge viel mehr voraussetzt. Sie setzt Leser voraus, die nicht mit dem Intellekt an Rudolf Steiner herangehen. Aber sie setzt zugleich damit auch voraus, dass die Leser dieses Erlebnis kennen, nach dem Lesen eines Satzes oder Absatzes nicht alles „verstanden“ zu haben.

Selbstverständlich sein muss dieses Erleben bei Rudolf Steiners Vorträgen, wo er Erfahrungen der höheren Geisteswelten in Worte bringt. Wer hier einfach „liest“, intellektuell, versteht eben überhaupt nicht, wovon Rudolf Steiner spricht. Bei den „erkenntnistheoretischen“ Schriften, die, wie Mieke Mosmuller betont, Schulungsbücher sind, geht es um ein etwas anderes Erleben. Während an den Schilderungen der höheren Geistesforschung oft empfunden wird: „Ich verstehe noch gar nicht“, ist das Erleben an den Schulungsbüchern Rudolf Steiners: „Ich habe soeben nur gelesen, aber nicht innerlich mitgemacht“.

Entweder liegt hier der grundlegende Unterschied zwischen Diet und Mosmuller, oder aber eine von Diet völlig übersehene Gemeinsamkeit. Es kommt auf das innere Mittun an, auf das Tun dessen, was Rudolf Steiner beschreibt. Dazu muss es verstanden sein – aber eben nicht nur verstanden, sondern innerlich getan.

Eine Brücke von Diets Ansatz zu Mieke Mosmuller wäre denkbar: Diet betont fortwährend das Erleben des sogenannten „Nicht-Verstehens“, verweist aber eigentlich auf das Erleben: „Das bin ich noch nicht“. Dieses Erleben hat wiederum einen offenbar unerkannten Doppel-Aspekt: Zum einen könnte und müsste der Intellekt an Sätzen wie „Der Mensch...“ fortwährend dieses Erleben haben, eben weil und solange das Denken nicht mittut. Denn wenn man die Sätze Steiners wirklich aktiv mitdenkt, mitvollzieht, mittut, dann ist man unmittelbar darinnen, nicht mehr getrennt, nicht mehr nur lesend. Zum anderen aber bleibt es natürlich eine Realität, dass Rudolf Steiner immer eine ungeheure Perspektive im Hintergrund hat, wenn er „Der Mensch“ sagt; dass auch dies an seinen Worten und seinem Satzbau erlebt werden kann.

Aber selbstverständlich kann dieses zweite Erleben erhalten bleiben, ja wird sogar noch vertieft werden, während man sich bemüht, die Sätze Rudolf Steiners mitzuvollziehen! Man wird Rudolf Steiner niemals gerecht, wenn man dies nicht tut! Diet macht es sich sehr bequem, wenn sie darauf beharrt, sie „verstehe“ Rudolf Steiners Sätze nicht. Es ist keinesfalls einfach, seine Sätze zu vollziehen – wie intensiv das getan werden kann und sollte, zeigt Mieke Mosmuller gerade beispielhaft an den Stellen, die Diet ihr gerade vorwirft. Bei diesem Mitvollziehen wird man gerade erst recht bemerken, was man noch alles nicht verstanden hatte bzw. nicht so einfach wirklich mitvollziehen kann, sondern erst durch intensives innerliches Bemühen. Dennoch ist dies etwas völlig anderes, als wie Diet bereits beim lesenden Nicht-Verstehen zu verharren.

Wenn Diet nicht zugibt, dass es darauf ankommt, dasjenige, was Rudolf Steiner beschreibt, innerlich mitzumachen, soweit wie möglich mitzuvollziehen, dann liegt hier der fundamentale Unterschied zu Mieke Mosmuller – und dann bleibt es völlig schleierhaft, wie Diet zu dem zweiten, inneren Menschen kommen will, der sich denkend gebiert!

Das intellektuelle Erleben des „Nicht-Verstehens“ verschwindet völlig, wenn man innerlich aktiv wird und mittut. Man ist dann in dem Strom von Rudolf Steiners Worten darinnen, man liest nicht mehr nur, man verwirklicht sie. Das ändert nichts daran, dass man dann noch immer erlebt, welche Perspektiven Rudolf Steiner eröffnet, ja man nimmt diese nur um so mehr wahr. Im innerlichen Mittun von Rudolf Steiners „Philosophie der Freiheit“ erwacht ein erstmals tätiger innerer Mensch. Dieser Mensch erlebt immer mehr vollkommen klar und bewusst, wie „anfänglich“ er ist und was er alles noch nicht kann. Dennoch ist seine Grundlage und sein Leben das Tun, das Verstehen, das immer weitere Sich-Vertiefen von Tun und Verstehen, Erkennen.

„Was ist das, eine Willensentfaltung?“

Diet schreibt:

Denn nun lese ich genau. Was kann der Mensch? Er „kann in das gewöhnliche bewusste Denken eine stärkere Willensentfaltung einführen, als in diesem im gewöhnlichen Erleben der physischen Welt vorhanden ist.“ Was aber ist das „gewöhnliche bewusste Denken“? Wenn es ein „ge­wöhnliches“ gibt, gibt es auch ein „ungewöhnliches“ oder „außergewöhnliches bewusstes Denken“. Und wenn es ein „bewusstes Denken“ gibt, gibt es auch ein „unbewusstes“. Doch welches ist nun das „gewöhnliche bewusste Den­ken“? Ein Denken, dessen ich mir bewusst bin, das aber dennoch ein „gewöhnliches Denken“ ist. Verfüge ich über dieses Denken?
Lese ich weiter, so kommen mir Zweifel. Denn in dieses „gewöhnliche bewusste Denken“ soll eine stärkere Wil­lensentfaltung „eingeführt“ werden, als im „gewöhnlichen Erleben der physischen Welt“ vorhanden ist. Das aber heißt nichts anderes, als dass dieses bewusste Denken im „gewöhnlichen Erleben der physischen Welt“ stattfindet. Doch wie ist so etwas möglich? Ist das – für mich – noch ein „gewöhnliches Erleben der physischen Welt“, wenn ich mir meines Denkens bewusst bin? Und überhaupt: Wie geht das: eine „Willensentfaltung einführen“? [...] Was ist das, eine Willensentfaltung? [...]
Spätestens jetzt erkenne ich dasselbe, was ich schon im hörenden Lesen erfühlt und erahnt habe, diesmal aller­dings von der anderen, von der verstandesmäßigen Seite: „Der Mensch“ – das bin nicht ich! Und noch etwas anderes wird deutlich: Rudolf Steiner kann weder interpretiert, noch neu formuliert werden, will ich ihn nicht verlieren.
Rudolf Steiners Sätze kann ich nur ertasten. Nur tastend und fragend, und vor allem: Das, was ich dabei erfahre, genau beobachtend kann ich mich ihnen nähern. In der Beobachtung aber erfahre ich: Dasjenige, was ich erlebe, wenn ich mit seinen Sätzen zu arbeiten und zu ringen be­ginne, ist ein Weg. [53ff]


Es ist richtig: Es geht nicht darum, Rudolf Steiner zu interpretieren oder neu zu formulieren. Es geht aber sehr wohl darum, seine Worte zu verstehen – und sie mitzuvollziehen. Diet schildert das Scheitern bereits beim Lesen der Worte „Willensentfaltung einführen“. Sie denkt über den Unterschied von „Willensentfaltung“ und „Wille“, von „einführen“ und „betätigen“ nach und kommt zu dem Schluss, dass sie das, was Rudolf Steiner sagt, nicht verwirklichen könne.

Das Problem ist, dass Diet an den Worten scheitert – dass sie meint, bereits an den Worten scheitern zu müssen. Es mag ehrenhaft sein, davon auszugehen, dass „den Willen betätigen“ und „eine stärkere Willensentfaltung in das Denken einführen“ ein Unterschied sei.

Doch man wird den anthroposophischen Weg mit Sicherheit verfehlen, wenn man diesen Unterschied als so gravierend ansieht, dass er unüberbrückbar wäre.  

Würde Diet wirklich zumindest den „Willen betätigen“, würde sie unweigerlich zu dem Erleben kommen, dass sie, wenn sie versucht, den Willen im Denken zu betätigen, etwas tut, was sonst niemals getan wird. Dann aber wird auch das Erleben nicht ausbleiben, dass sich dieser erstmals in dieser Weise betätigte Wille allmählich zu entfalten beginnt. Von da aus kann es weitergehen zu dem Erleben, dass dieser Wille mehr und mehr eine Realität wird – eine Realität, mit der man umgehen kann, die man in die Hand bekommt, die man also auch wirklich hinlenken kann, „einführen“ kann, wo man eben will.

Es sollte vollkommen klar sein, dass es sich hier um einen Schulungs-Weg handelt, der wirklich gegangen werden muss, und dass es natürlich leichter ist, dies in Worte zu fassen, schwerer aber, es auch wirklich zu realisieren. Dennoch gewinnt man bei Diet fortwährend den Eindruck, als bleibe sie schon bei den allerersten Schritten stehen.

Ähnlich wie bei Rüdiger Blankertz hält der Mystizismus um das „Nicht-Verstehen“ den Leser letztlich eher davon ab, die notwendigen Schritte zu tun. Verdienstvoll ist der Hinweis, dass der intellektuelle Lesegalopp und das intellektuelle Immer-schon-Verstanden-zu-haben-glauben nichts mit jenem Weg zu tun haben – doch der eigentliche Weg, auf den Mieke Mosmuller hinweist, ist in dem, was Diet schildert, noch in keinster Weise betreten. Sie beweist dies selbst, in dem sie klar sagt, dass sie die Erfahrung der Willensentfaltung eben noch gar nicht hat.

Damit bleibt bei ihr auch der klare Hinweis aus, dass es auf diese Willensentfaltung gerade ankommt. Diet bleibt auf der Stufe des Nicht-Verstehens, der ungenügenden Willensentfaltung. Diet vertraut ihrem eigenen Denkvermögen nicht und spricht es anderen ab. Sie unterlässt es, in richtiger Weise den Willen in das Denken einzuführen, und wirft anderen vor, sie würden stehenbleiben, „Bilderwelten inszenieren“ oder dergleichen mehr. Diet glaubt, sie werde Rudolf Steiners Text gerecht, wenn sie das scheinbar wahrhaftige, exakte Erleben des Nicht-Verstehens „aushält“, aber sie erlebt nicht, wie sie dadurch stehenbleibt und in falsche Alternativen gerät, nicht wirklich voranschreitet.

Im lauten Lesen den Worten lauschen?

Im siebten Kapitel „Vom Verstehen im Nicht-Verstehen“ zitiert sie aus der „Philosophie der Freiheit“ aus dem Abschnitt „Die letzten Fragen“ einen Abschnitt, der mit folgendem Satz beginnt:

Die Darstellung dieses Buches ist aufgebaut auf dem rein geistig erlebbaren intuitiven Denken, durch das eine jegliche Wahrnehmung in die Wirklichkeit erkennend hineingestellt wird.


Dann erläutert sie die rhythmische Melodie der Vokal-Abfolge dieses Satzes und die innere Dramatik des ganzen Absatzes und betont nochmals, ihr erscheine

[...] der laut gelesene und der eigenen Stimme erlauschte Text eine interessante Voraussetzung für die weitere Arbeit zu sein, lassen die dabei möglichen Erlebnisse doch immer wieder neu empfinden, dass es sich dabei um einen ungewöhnlichen Text handelt. [59]


Hier wird eine weitere Ursache für die Diskrepanz zu Mieke Mosmuller deutlich, für Diets Nicht-Verstehen auch ihr gegenüber: Diet braucht die laut gesprochene Sprache, um zu Erlebnissen zu kommen. Das aber heißt nichts anderes als: Ihr Denken braucht die Stütze der Sprache, ja des Sprachklanges. Es kann ohne diese Stütze des Klanges die Besonderheit von Rudolf Steiners Sätzen nicht voll empfinden.

Völlig deutlich wird hier, dass Diet gar nicht imstande ist, sich zu einem rein innerlichen Erleben von Rudolf Steiners Gedanken zu erheben. Das ist keinesfalls verwerflich oder auch nur zu be-urteilen – verwerflich jedoch ist, wie sie selbst sich zur Richterin über jene Menschen aufwirft, die ein reales reines Denken sehr wohl verwirklichen und dabei keineswegs das Ungewöhnliche, ja Einzigartige von Rudolf Steiners Worten verneinen, sondern im Gegenteil viel tiefer, viel geistiger zu erfassen vermögen.

Stattdessen schreibt sie, schon dieser erste Satz enthülle Rätsel über Rätsel.

Wieso „Darstellung“? [...] Und weiter: Wieso ist diese „Darstellung“ auf etwas „aufgebaut“? Eine „Darstellung“ kann bestimmten Prinzipien folgen, sie kann mehr oder weniger gelungen sein etc. Aber auf etwas „aufgebaut“? Nein – diese Wendung entspricht nicht der deutschen Sprache. [59f]


Angesichts solcher Überlegungen, sie mögen noch so sorgfältig und wahrhaftig gemeint sein, schwindet jede Hoffnung. Wenn man sich derart in die Worte verbeißt, kann und kann man Rudolf Steiner nicht gerecht werden. Man kann sich dann vielleicht für den sorgfältigsten, exaktesten Nicht-Versteher Rudolf Steiners halten, aber ein wirklicher Schüler kann man auf diese Weise nicht werden. So hat Rudolf Steiner seine Schulungsbücher niemals gemeint, absolut nicht!

Und immer wieder: das Nicht-Verstehen

Diet fährt fort:

„Eine jegliche Wahrnehmung“ – was ist das? Und was heißt: eine „Wahrnehmung in die Wirklichkeit erkennend hineinstellen“? In welche Wirklich­keit? Im Normalfall verstehe ich unter „Wirklichkeit“ die mir gegebene und mich umgebende Realität. [...]
Dieser Text unterscheidet sich insofern von den anderen, die bisher vorgestellt wurden, als es hier beinahe unmög­lich ist, ihn „in die normale Sprache“ zu übersetzen. [...] Der Versuch macht deutlich: Hier spricht Rudolf Steiner von etwas, das ich, bin ich wirklich ehrlich, nicht verstehen kann. Denn sagt er nicht, dass die Wirklichkeit, die durch das intuitive Denken erfahren wird, gar nicht die Wirklich­keit ist, die ich kenne? Sondern eine solche Wirklichkeit, die sich nicht außerhalb, sondern innerhalb dieses Den­kens befinden soll? Daraus aber ergibt sich eine neue Fra­ge, die an dieser Stelle unbedingt gestellt werden muss: Wer spricht hier? Welcher Geist kann von sich selbst be­haupten, die Wirklichkeit nicht außerhalb, sondern inner­halb seines Denkens zu erleben? [60ff]


Selbstverständlich sind wir hier bei Sätzen Rudolf Steiners, die auf das innerste Zentrum der Anthroposophie verweisen, und selbstverständlich kann es hier darum kein leichtes Verständnis, kein bequemes Verstandenhaben geben. Und dennoch zementiert Diet das Gegenteil, nämlich das Niemals-Verstehen-Können – gleichsam ein „Ignorabimus“ –, wenn sie sagt, hier spreche Steiner von etwas, was sie/man ehrlicherweise „nicht verstehen kann“.

Allerdings fügt sie hinzu:

Es ist ein Text, der mehr als andere schon auf der ersten Stufe seiner Lektüre etwas von dem offenbart, worum es in den Texten Rudolf Stei­ners eigentlich geht, sobald man in tiefer liegende Schich­ten des Verstehens eindringt. Diese tiefer liegenden Schichten werden sich aber nur dann offenbaren, wenn der erste Schritt – der des denkenden Erlebens des „Nicht­-Verstehens“ – voll bewusst gemacht wurde. Öffnet man sich dieser Möglichkeit, wird man feststellen, dass eine beinahe unerschöpfliche Fülle von Beobachtungen an diesem Text gemacht werden kann. Gilt er doch dem Zusammenhang zwischen Rudolf Steiners sogenannten „erkenntnistheoretischen Schriften“ und seinem späteren, eigentlich „anthroposophischen“ Werk. Welche Möglichkeiten bietet daher gerade dieser Text, genau die Stellen zu bestimmen, an denen ich verstehe – dass ich nicht verstehe! [...]
Es ist ein Drama, ja, ein Mysteriendrama, das Rudolf Steiner erzeugt mit seinen Sätzen! [...]
Es ist tatsächlich eine „Darstellung“, die Rudolf Steiner in seinen Werken veranstaltet. Eine „Darstellung“, deren „Darsteller“ – und Regisseur – er selber ist.
Wir aber sind die Zuschauer. Erlebende, fragende, lernen­de Zuschauer. [62ff]


Es bleibt das Verdienst von Diet, zu betonen, dass man Rudolf Steiners Texte nicht leicht nehmen darf – und dass es besser wäre, sich ein Nicht-Verstehen einzugestehen, als in irrtümliches Verstandenhaben und andere Verstandes-Irrtümer zu geraten. Dennoch bleibt bei ihr alles statisch. Es bleibt beim Nicht-Verstehen, bei dem Hinweis darauf, dass Rudolf Steiner von etwas spricht, was wir weder verwirklicht haben, noch überhaupt verstehen.

Mieke Mosmuller weist darauf hin, dass es möglich ist, dasjenige, von dem Rudolf Steiner spricht, zu verwirklichen. Nirgendwo spricht sie davon, dass dies leicht wäre oder dass man unmittelbar verstehen könnte, worauf Rudolf Steiner hinweist, wenn er zentrale Sätze schreibt wie von dem „rein geistig erlebbaren intuitiven Denken, durch das eine jegliche Wahrnehmung in die Wirklichkeit erkennend hineingestellt wird.“ – Aber sie verweist auf den Schlüssel zur Verwirklichung dieser Realitäten. Das reine Denken ist der Schlüssel, und dieses kann geübt werden. Wird es aber geübt, wird es früher oder später auch eine Wirklichkeit werden – und eben dann wird der Satz Rudolf Steiners auch in der eigenen Erfahrung seiner vollen Bedeutung nach erkannt sein.

Nicht darauf kommt es an, im Nicht-Verstehen zu verharren, auch nicht darauf, sich selbst zu belügen – sondern darauf, sich entschlossen die Voraussetzungen, den Schlüssel für das Verständnis zu erarbeiten. Man kommt nicht darum herum, das reine Denken zu entwickeln – und das energische Mitvollziehen dessen, was Rudolf Steiner schreibt, so weitgehend, wie dies möglich ist, ist gerade der sichere Weg zu diesem reinen Denken.

Und immer wieder: falsche Alternativen

Im achten Kapitel „Der Kampf mit dem Sprachgeist“ gibt Diet ein aufschlussreiches längeres Zitat, in dem Rudolf Steiner sein Ringen um die Worte beschreibt. Darin heißt es:

Will er nun doch von seinen Schauungen Mitteilung ma­chen, so beginnt sein Kampf mit der Sprache. Er sucht alles Mögliche innerhalb des Sprachlichen zu verwenden, um ein Bild dessen zu gestalten, was er schaut. Von Lautan­klängen zu Satzwendungen sucht er überall im Bereich des Sprachlichen. Er kämpft einen harten inneren Kampf. [...]
Es kommt ein Augenblick, wo man fühlt: Der Sprachgeist nimmt das Geschaute auf. Die Worte und Wendungen, auf die man kommt, nehmen selbst etwas Geistiges an; sie hören auf, zu „bedeuten“, was sie gewöhnlich bedeuten und schlüpfen in das Geschaute hinein. – Da tritt etwas ein wie ein lebendiger Verkehr mit dem Sprachgeiste.


Es gibt wohl kaum jemanden, der dies tiefer anerkennt als Mieke Mosmuller. Ich zitiere aus ihrem Buch „Das Tor zur geistigen Welt“ (S. 121f). Dort untersucht sie die feinen Unterschiede in den Nuancen verschiedener Worte, die fast dasselbe bedeuten und schreibt dann:

Die Worte sind Erscheinungen ihres Wesens: des Begriffs. Es sind lebendige Wesen, mit denen man in Kontakt kommen kann, wenn man sich ihnen erlebend hingibt. Es sind keine subjektiven Deutungen der Worte, auch keine kommunikativen Verständigungen, die man so findet. Es sind Realitäten: Im Wort, in der Gestaltung, der Geste des Wortes drückt sich die Bedeutung aus. Da braucht man keine Philologie, und man wird finden, dass Steiner seine Worte am allergenauesten wählt, so findet man es bei keinem anderen Schriftsteller. Warum? Weil er in die Erscheinung des Wortes untergetaucht lebte [...]
Nur dann kann der Mensch sich die Philosophie der Freiheit wirklich zueigen machen, wenn er die Worte als Realitäten erleben kann.


Am Ende des Kapitels schreibt Diet:

Ich weiß, dass der von mir gezeigte Schritt, der in der Fest­stellung besteht, etwas zum Ausgangspunkt meines Den­kens zu nehmen, was ich nicht verstehe, als sehr unbefrie­digend erlebt werden kann. [...] Daher sei die Bedeutung des Nicht‑Verstehens hier noch einmal genauer betrachtet.
Es ist erst das heranwachsende Kind, das zu fragen be­ginnt; das noch ganz der Welt Hingegebene hat keine Fra­ge. [...] Doch wer ist überlegen? Das Kleinkind und der Träumende, die noch keine Frage haben? Gewiss nicht. – Beschäftigt man sich auch nur einmal eingehend mit diesem Zusammenhang, so wird deutlich: Nicht der, der das Unverständliche zu ver­stehen glaubt, ist näher am wirklichen Verstehen. Nein, der erste Schritt des Verstehens von etwas, das ich noch nicht verstehe, besteht immer in dem Erleben: Ich verste­he es nicht. Denn nur dann, wenn ich mich einem Verste­hen annähere, kann es mich streifen. Und das Erleben, dass ich nicht verstehe, ist immer das Zeichen davon, von dem berührt worden zu sein, was verstanden werden will. Von dem Augenblick an, an dem ich dem Nicht‑Verstehen einen Platz in meinem Denken einzuräumen geneigt bin, kann das Nicht‑Verstehen zum Führer werden. Zum Führer in die Welt, in die uns Rudolf Steiner weist. [71f]


Hier ist nichts weiter hinzuzufügen als das, was schon gesagt wurde: Diet eröffnet die falsche Alternative von richtigem Nicht-Verstehen und falschem Zu-verstehen-Glauben. Sie eröffnet einen Mystizismus: Wenn man wahrhaftig und geduldig im Nicht-Verstehen ausharrt, so wird einen das wesenhafte Verstehen streifen, das, was verstanden werden will, berühren. Das ist eine Halbwahrheit und damit eine Unwahrheit! Im Geistigen müssen energische eigene Schritte vollzogen werden – erst dann darf man innerlich schweigen und die Berührung des Geistes erwarten. Diet schweigt schon im Unverständnis – und wird von der geistigen Welt nicht berührt werden.

Diets falscher Alternative entspricht das Bild von Kleinkind/Träumer und erwachtem Erwachsenen. Was heißt überhaupt „überlegen“? Ist nicht das kleine Kind noch ganz mit der geistigen Welt verbunden, Diet jedoch ganz von ihr getrennt, wie das Nicht-Verstehen klar zeigt? Vor allem aber: Woher nimmt sie sich das Recht, das eigene Nicht-Verstehen als fortgeschritten zu bezeichnen und hinter jedem Verstehen sofort den „kindischen“ Irrglauben des Intellekts zu vermuten?

Sie leugnet eben die dritte Alternative, das wirkliche und reale (sehr aktive) Hingegebensein an den geistigen Inhalt eines Satzes. Es heißt doch: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder...“! Heute kann und soll dies aber eben voll bewusst, „nach naturwissenschaftlicher Methode“ verwirklicht werden. Hingabe in voller Aktivität – und es ist möglich.

Wie anfänglich Diet in ihrem Verständnis, ihren eigenen Gedanken oder zumindest ihren eigenen Formulierungen verbleibt, zeigt sich auch in dem zuletzt zitierten Satz:

Von dem Augenblick an, an dem ich dem Nicht‑Verstehen einen Platz in meinem Denken einzuräumen geneigt bin, kann das Nicht‑Verstehen zum Führer werden. Zum Führer in die Welt, in die uns Rudolf Steiner weist.


Denn an früherer Stelle hatte sie eigentlich schon klargestellt:

Das von mir beschriebene Erleben kann helfen, die ersten Schritte in das Reich des „Nicht‑Verstehens“ hinein zu wagen. Denn es ist ein „Verstehen“ im „Nicht‑Verstehen“. Und tatsächlich ist es niemals das „Nicht‑Verstehen“ als solches, das mich führen kann. Das „Nicht‑Verstehen“ ist blind und taub, es ist ebenso undurchdringlich wie das Rätsel meiner eigenen Existenz. Nein, es ist stets ein „Ver­stehen“ im „Nicht‑Verstehen“, dem ich folgen muss. [39]


Das ist eben genau das, was ihr vorgeworfen werden muss: Dass sie das Nicht-Verstehen so sehr betont, dass selbst das von ihr erwähnte „Verstehen im Nicht-Verstehen“ untergeht. Aber während dies für sie nur ein Ausblick ist, gibt es weitere Schritte, kann man deutlich(er) von dem Schlüssel oder dem zentralen Element des Weges sprechen. Diet jedoch spricht nicht vom reinen Denken und bleibt so in den allerersten Anfängen.

Früher schreibt sie:

Noch liegt der Weg dunkel vor mir. Noch ist nur der Teil des Weges erhellt, den ich schon gegangen bin. Doch je weiter ich gehe, desto kräftiger wird das Licht, das meine schon getanen und mir selbst bewusst gewordenen Schritte erzeugen. [55]


Doch auch das bezieht sich bei ihr auf die Erfahrungen, die sie mit dem eigenen Nicht-Verstehen macht. Es bleibt fraglich und für den Leser völlig dunkel, was sie selbst mit dem „Licht“ meint, das da allmählich kräftiger wird. Mieke Mosmuller weist jedoch fortwährend unmittelbar auf das reale Licht hin, das entwickelt werden muss – und auch wie dies geschehen kann.

Beobachten und Denken

Im neunten Kapitel „Beobachten und Denken“ zitiert sie zunächst das entsprechende dritte Kapitel der „Philosophie der Freiheit“. Dann gibt sie zu, dass man sie durchaus fragen könne, wo hier das Nicht-Verstehen sei.

Ja und? wird man mich nun fragen können. Wo ist hier das Nicht-Verstehen? Es mag wohl bestimmte Sätze geben, an denen du uns dies zeigen – oder besser: weismachen  möchtest. Der Grundduktus der Werke Rudolf Steiners aber ist ein anderer. Zum Beispiel in diesem Text: Hier gibt es keinen einzigen Satz, den man etwa „nicht verstehen“ könnte.
Ich aber bin anderer Meinung. Ich habe erlebt, dass ich mindestens zwei Sätze auch aus diesem Text nicht verstanden habe. [77]


Zunächst bleibt festzuhalten: Wenn von über vierzig Sätzen für Diet mindestens zwei unverständlich sind, dann kann doch wohl mit vollem Recht gesagt werden: „Der Grundduktus der Werke Rudolf Steiners aber ist ein anderer.“ Rudolf Steiner will verstanden werden und er kann verstanden werden – es kommt aber auf das mitvollziehende Verstehen, das verstehende Mittvollziehen an.

Welches sind die beiden Sätze?

Beobachtung und Denken sind die beiden Ausgangspunkte für alles geistige Streben des Menschen, insoferne er sich eines solchen bewusst ist.


Diet schreibt dazu:

Was soll das heißen? Etwa, dass Beobachtung und Denken nicht die beiden Ausgangspunkte für alles geistige Streben des Menschen sind, insoferne er sich eines solchen nicht bewusst ist? Dass also Beobachtung und Denken nur dann die beiden Ausgangspunkte für alles geistige Streben des Menschen sind, wenn er sich dessen bewusst ist? [77]


Nun, man könnte erwidern: Insofern der Mensch sich seines geistigen Strebens gar nicht bewusst ist, könnte auch irgendeine Gefühlsregung Ausgangspunkt dieses Strebens sein!

Zeitlich geht die Beobachtung sogar dem Denken vor­aus. Denn auch das Denken müssen wir erst durch Beo­bachtung kennen lernen.


Diet schreibt dazu:

Versucht man, diesen durch diese Sätze ausgedrückten Zusammenhang sehr genau zu denken, wird man bemer­ken, dass Rudolf Steiner in beiden Sätzen jeweils von ei­nem anderen Denken spricht:
- Im ersten Satz meint er das durch die Beobachtung kennen gelernte Denken.
- Im zweiten Satz dagegen meint er das Denken, das noch nicht durch die Beobachtung kennen gelernt wurde. [...]
Wie ist es möglich, nicht darüber zu stol­pern? Was ist denn nun das Vorangehende: das Denken oder die Beobachtung (des Denkens)? – Je länger ich diese beiden Sätze in ihrer formal‑logisch unmöglichen Verbin­dung („denn“!) in mir bewege, desto mehr erahne ich: Denken und Beobachten ist für Rudolf Steiner nicht ein getrenntes Geschehen, sondern – ein‑ und dasselbe! [80]


Dieser Schluss von Diet ist ja nun der denkbar Unlogischste. Wenn Denken und Beobachten in diesen Sätzen ein und dasselbe wären, wie kann es dann heißen, das eine gehe dem anderen zeitlich voraus und dieses müsse erst durch jenes kennengelernt werden? Im ersten Satz meint Rudolf Steiner eben nicht das durch Beobachtung kennengelernte Denken, denn hier geht die Beobachtung dem Denken voraus, das Denken tritt noch nicht in die Beobachtung (der Ausnahmezustand!), diese ist noch auf anderes gerichtet, nicht auf das Denken.

„Rudolf Steiner vollzieht“ – und Diet?

Im zehnten Kapitel „Buch und Welt“ geht Diet auf die Tatsache ein, dass das gewöhnliche Bewusstsein davon ausgeht, dass „zuerst die Welt da ist und ich mir danach erst ein Urteil über diese Welt bilde“. Dann wirft sie die Frage auf, ob die „Philosophie der Freiheit“ nicht von einem ganz anderen Gesichtspunkt aus geschrieben sein könnte:

Und zwar von dem, dass die Welt, die es beschreibt, nicht eine sich außerhalb dieses Buches befindliche wäre, son­dern die, die durch dieses Buch in mir – dem ringenden, sich unendlich abmühenden Leser – entsteht? Und dass es nicht die „erste“ Welt ist, über die das Buch berichtet – d.h. die ohne dem [sic!] Leser und Denker Seiende –, sondern die „zweite“, jene Welt nämlich, die im Lesen des Buches, und im Versuch, das Gelesene zu denken, erscheint?
Dann, und nur dann bekommen die von mir bisher nicht verstandenen Sätze Rudolf Steiners einen Sinn: und zwar den, dass er mich mit diesen Sätzen – gleichsam mit Ge­walt – auf diesen, auf seinen Gesichtspunkt verweisen will. Denn nicht irgendein Denken – weder das noch nicht beo­bachtete, noch das beobachtete – „meint“ Rudolf Steiner, wenn er vom „Denken“ spricht. Nein, stimmt der Ge­sichtspunkt, den ich hier geltend mache, so handelt es sich bei dem, was Rudolf Steiner sagt, niemals um ein Meinen. Rudolf Steiner „meint“ nicht, er „behauptet“ oder „sagt“ nicht. Nein, Rudolf Steiner vollzieht. Er vollzieht genau das, was er aussagt, und er spricht aus dem heraus, was er vollzieht. Und sein Vollziehen gießt er in Sprache. In eine Sprache, die wir ebenso verstehen, wie wir sie (noch) nicht verstehen. [82]


Selbstverständlich beschreibt Rudolf Steiner Vorgänge, in denen Mensch und Welt miteinander verbunden sind – durch das Geheimnis des Denkens. Und so beschreibt er nichts vom Menschen Getrenntes, sondern etwas, was im ringenden Leser selbst innerliche Erfahrung werden kann. Auf das, was Diet gegen Ende sagt, versuche ich fortwährend zu verweisen: Selbstverständlich vollzieht Rudolf Steiner das, was er schreibt! Aber selbstverständlich liegt vor dem Leser die Aufgabe, dasjenige, was Rudolf Steiner schreibt, mitzuvollziehen – und genau das ist es, wozu Mieke Mosmuller immer wieder aufruft.

Diet bringt nun einige Zitate Rudolf Steiners über das richtige Lesen, darunter heißt es:

[...] dann wird man immer mehr und mehr erkennen, dass man in einem wirklich echt geisteswissenschaftlich geschriebenen Buch nicht etwas vor sich hat wie in einem anderen, sondern etwas wie ein Instrument, das nicht bloß Erkenntniser­gebnisse mitteilt, sondern durch das man sich solche Ergebnisse selbsttätig verschafft.
GA 35, S. 240, „Das menschliche Leben vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft“, November 1916.

Dieses Buch, „Die Philosophie der Freiheit“, ist nicht so wichtig durch das, was drinnen steht. Natürlich, das, was drinnen steht, das wollte man schon auch dazumal der Welt sagen, aber das ist nicht das Allerwichtigste, sondern das Wichtige bei diesem Buche „Die Philosophie der Freiheit“ ist, dass zum ersten Mal ganz und gar selbständiges Denken in diesem Buche ist. Kein Mensch kann das Buch verstehen, der nur unselbständig denkt. Er muss sich Seite für Seite, ganz von Anfang an, daran gewöhnen, zurückzugehen zu seinem Ätherleib, um solche Gedanken überhaupt haben zu kön­nen, wie sie in diesem Buche sind.
28.6.1923, GA 350, S. 150.

[...] wenn man Ihnen aus der Geisteswissenschaft, aus der Anthroposophie, etwas vorträgt. Da muss man immerfort nach den Worten suchen, da muss man die Worte innerlich immer neu aufgreifen. Und nachher, wenn man die Worte gebildet hat, dann kriegt man erst recht Angst, dass sie eigentlich nicht das Richtige bezeichnet haben. [...] Sehen Sie, das ist dasjenige, was in einer besonderen Weise zutage tritt, wenn ich meine Bücher schreibe; dann bin ich in einer fortwährenden, ich möchte sagen, inneren Unruhe, die Sprache rich­tig zu gestalten, dass die Menschen auch das verstehen können, was geschrieben wird. Es ist etwas Neues, was man da mit der Sprache schaffen muss.
17.3.1923, in: GA 349, S. 94.


An diesen Zitaten wird vieles nun ganz deutlich.

Erstens: An einem geisteswissenschaftlich geschriebenen Buch verschafft man sich die Erkenntnisergebnisse selbsttätig. Das Wort sagt es bereits: selbst-tätig, man muss vollziehen, was da steht.

Zweitens: Rudolf Steiner will verstanden werden und rechnet von Anfang an auf das Verstehen, auch wenn er Erfahrungen beschreibt, die das gewöhnliche Denken nicht kennt, weil das Denken zuvor niemals lebendig durchkraftet worden war: „dann bin ich in einer fortwährenden, ich möchte sagen, inneren Unruhe, die Sprache richtig zu gestalten, dass die Menschen auch das verstehen können, was geschrieben wird.“

Drittens: Beide Gedanken werden im mittleren Zitat zusammengefasst: Wenn man innerlich tätig wird, versteht man, was geschrieben steht. „Kein Mensch kann das Buch verstehen, der nur unselbständig denkt.“

Auf all diese Dinge verweist Mieke Mosmuller fortwährend. Diet aber verweist auf das Scheitern, auf das Nicht-Verstehen, auf das Nicht-Denken-Können dessen, was Rudolf Steiner schreibt.

Am Ende des Kapitels schreibt sie:

Das Verhältnis zwischen „Rudolf Steiner“ und“ Welt“ ist – ein anderes. Jedes Wort, das er sagt, jede Zeile, die er schreibt, ist nur aus diesem fundamental anderen Verhält­nis zur „Welt“ zu verstehen. [...]
Ich weiß: Es sind Ungeheuerlichkeiten, die hier behauptet werden. Und dennoch möchte ich den Leser dazu einla­den, sich auf diesen Gedanken – probeweise – einzulas­sen: Was wäre, wenn das Buch Rudolf Steiners tatsächlich auch so gelesen werden könnte, dass es selbst Welt ist, und nicht Abbild von Welt? [...]
Was wäre, wenn mein versuchtes Nach‑Denken, mein Bemühen um das Verstehen der Worte Rudolf Steiners erst die Welt schafft, die es dann zu erkennen gilt? [87f]


Man möchte Irene Diet zurufen: Genau darum geht es doch! Wenn Rudolf Steiner schreibt, das Erkennen ist nicht Abbild der Welt, dann ist es auch nicht Abbild der Welt. Nur muss man erst einmal selbst zu einem Verwirklichen dieser Erkenntnis kommen! Rudolf Steiners Buch handelt zentral von der Frage des Erkennens. Wenn ich innerlich mitvollziehe, was er schreibt, verwirkliche ich es. Ich verschaffe mir selbsttätig die Ergebnisse. Im Mitvollziehen dessen, was Rudolf Steiner schreibt, entsteht in innerer Aktivität ein „neuer Mensch“ – dieser aber erfährt in eigener Anschauung, dass das, was er tut, nicht ein Abbilden der Welt ist, sondern eine eigene Realität.

Unter Ausschalten des Verstehens an die Schwelle?

Im letzten Kapitel „Schlussbemerkung“ schreibt Diet:

Das Ziel einer jeglichen Beschäftigung mit Denk‑ und Vor­stellungsinhalten ist Verstehen und Können; dies erlernt der heutige Mensch von Kindesbeinen an. [...]
Es ist nur natürlich, dass das Außer‑Kraft‑Setzen der bei­den wichtigsten, über lange Jahre anerzogenen Grund-Fähigkeiten des Daseins [durch den Text Rudolf Steiners, H.N.] nur als unbequem, ja mehr noch: als bedrohlich erfahren wird. Bedeutet eine solche Erfah­rung doch nichts anderes, als sich in die Nähe der Schwelle zur geistigen Welt zu begeben, die der Hüter der Schwelle mit dem scheußlichen Bild des eigenen Selbst verdeckt, und die durchaus berechtigte Todesängste einflößt. [90f]


Im Dezember-Artikel hatte Diet Mieke Mosmuller in heftigster Weise angegriffen, weil diese angeblich nicht von der Todesschwelle rede, daher könne auch das, was sie „reines Denken“ nennt, nicht dasjenige sein, was Rudolf Steiner meine. Die ganze Absurdität von Diets Gedankenführung habe ich hier aufgezeigt.

Die Haltlosigkeit ihrer Gedanken zeigt sich auch jetzt wieder. Hatte sie im Dezember noch geschrieben...:

[...] überschreitet man doch dann, wenn man sich tatsächlich dem leibfreien Erleben nähert, die Schwelle zur geistigen Welt. Denn diese Schwelle ist gleichzeitig die Todesschwelle.


...so behauptet sie nun in ihrem Büchlein, die Annäherung an diese Schwelle geschehe im Außerkraftsetzen von (Lesen-)Können und Verstehen an und durch Rudolf Steiners Text. Mit anderen Worten: Sie setzt das, was sie fortwährend als Nicht-Verstehen, als „Anstoßen“ an dem sich dem Verstehen des Lesers nicht beugenden Text betont, mit dem leibfreien Erleben gleich.

Dies ist nun allerdings sehr „gewagt“, um es einmal vorsichtig auszudrücken. Das Nicht-Verstehen ist doch wohl eindeutig noch das Scheitern des Intellekts. Natürlich kann man, wenn Rudolf Steiner von sinnlichkeitsfreien, das Denken auf sich selbst verweisenden Tatsachen spricht, das von ihm Gesagte nur durch ein ebenso sinnlichkeitsfreies Denken erfassen – aber man muss es dann auch wirklich tun! Man muss es erfassen und nicht nicht erfassen, man muss es sich selbsttätig erarbeiten, dann aber ist das lebendige, reale Verstehen unmittelbar da!

Diet fährt fort:

Und so ist es nur natürlich, dass man sich dieser Schwelle im Wachzustand niemals freiwillig nähert. Soll dies den­noch geschehen, muss eine tiefe Einsicht für die Notwen­digkeit dafür vorliegen. Und diese Einsicht kann nur aus einem bewusst gewordenen Gefühl entspringen: Es geht, beschäftige ich mich mit Anthroposophie, nicht um das Verstehen und Können, das ich schon kenne. Nein, es geht um etwas anderes.
Dieses Gefühl ist der Beginn einer ganz neuen, ungeahnten Schöpferkraft. Einer Schöpferkraft, in der man sich selbst erlebt – ebenso wach wie frei, doch niemals am Ende. Denn nun erahnt man: Denken ist nicht Begreifen, sondern Denken ist Schöpfen, Schaffen, es ist das Vorbegriffliche, niemals Angekommene, sich stets Bewegen­de. [91f]

Nur Gefühl und kein Denken – der Beweis

Nimmt man Diets Worte hier wirklich ernst, so sagt sie:

1. Das Außer‑Kraft‑Setzen von Verstehen und Können (wie man sie bisher kennt, präzisiert sie nun), wird als bedrohlich erfahren, denn es führt einen in die Nähe der Schwelle zur geistigen Welt.
2. Man nähert sich dieser Schwelle daher nur bei tiefer Einsicht für die Notwen­digkeit, entspringend dem bewusst gewordenen Gefühl: Es geht um etwas anderes.
3. Dieses Gefühl ist der Beginn einer ganz neuen Schöpferkraft, in der man sich wach und frei erlebt.
4. Denn nun erahnt man: Denken ist nicht Begreifen, sondern Schaffen, das Vorbegriffliche.

Hierzu ist zu sagen:

Das Nicht-Verstehen Rudolf Steiners, auch wenn man sich dem aussetzt, hat noch keineswegs etwas Bedrohliches. Man kann, wenn es einem nicht einfach unbequem und lästig ist, recht gut im Nicht-Verstehen ausharren, ohne irgendeine größere Bedrohung zu erleben. Zunächst einmal hat man, wenn man den Text nicht meditiert, immer noch die Sinneserfahrung und den Intellekt bei sich, neben sich oder anderweitig im Hintergrund.

Es käme also darauf an, nicht nur das gewöhnliche Verstehen hinter sich zu lassen, sondern auch den Intellekt als solchen, die Quelle und den Untergrund des gewöhnlichen Verstehens. Es ist ein Unterschied, ob man sich sagt: Ich verstehe nicht – oder ob man den Intellekt an sich hinter sich lässt und so in einen existentiellen Zustand des Nicht-Verstehens hineinkommt. Erst dann wird es bedrohlich. Dann bleibt es nicht bei dem Gefühl „Es geht um etwas anderes“, sondern dann macht man den Sprung in dieses ganz Andere, in das Unverstandene, völlig Finstere, Bodenlose.

Ob dies überhaupt gelingt – allein schon dieses völlige Sich-Lösen vom Intellekt, ist eine ganz andere Frage. Aber Diet spricht nicht einmal von dieser Voraussetzung. Natürlich kann sie behaupten, mit dem fortwährenden Verweis auf das Nicht-Verstehen meine sie genau dies. Dann aber hätte sie dies an irgendeiner Stelle ihres Buches einmal klar und eindeutig zum Ausdruck bringen müssen. Das Erlebnis „Ich verstehe nicht“ hat noch nichts mit einem bewussten, energischen Sich-Losreißen vom gewöhnlichen Intellekt zu tun!

Diets Gedankengang jedoch bleibt bei dem Gefühl „Es geht um etwas anderes“ – und dieses sei der Beginn einer ganz neuen Schöpferkraft, in der man sich wach und frei erlebe. Wie kann dies etwas anderes sein als der anfänglich erwachende innere Mensch, das „Ziel“ des Schulungsweges?

Nun aber muss man sich mit vollem Ernst fragen: Wie kann Diet so etwas behaupten? Rudolf Steiner spricht ganz klar und eindeutig davon, dass dieser höhere Mensch, dass die Freiheit auf der Grundlage des verwirklichten reinen Denkens gefunden wird, das nichts anderes als das reine Denken jene wache, freie Schöpferkraft ist! Diet aber spricht davon, dass ein Gefühl der Beginn dieser „ganz neuen Schöpferkraft“ sei! Hier zeigt sich vollends, wie ihr die reale Erfahrung absolut fehlt.

Und es geht sogar noch weiter: „Denn nun erahnt man: Denken ist nicht Begreifen...“. Hier beweist sie endgültig, dass nirgendwo in allem Vorangegangenen das reine Denken verwirklicht oder auch nur indirekt erwähnt oder gemeint ist. Denn selbst jetzt wird in Bezug auf das Denken nur etwas erahnt. Was sie dann mit jener Schöpferkraft und Freiheit meint, bleibt in mysteriöses Dunkel gehüllt, bleibt leere Behauptung, die in jedem Falle aber von der von Rudolf Steiner gemeinten schöpferischen Kraft ablenkt.

Was ist das Denken?

Und auch der letzte Satz in sich zeigt wiederum Diets Unverständnis der geistigen Realität. „Denken ist nicht Begreifen, sondern Schaffen, das Vorbegriffliche“ (wie sie „erahnt“). Hier benennt sie eine völlig falsche Alternative, denn Denken ist sowohl Begreifen, als auch das Vorbegriffliche. Was nämlich sollte Begreifen sonst sein?

Als „Beleg“ für ihren Satz bringt Diet ein Zitat, wo Steiner Denken und Begriffe unterscheidet! Sie wirft also Begreifen und Begriffe in einen Topf! Selbstverständlich sind die Begriffe nicht das Denken – aber das Begreifen ist genau die Tätigkeit des Denkens.

Was aber ist dann das Vorbegriffliche? Das Vorbegriffliche ist das Begreifen und damit ebenfalls das Denken. Denn um Begriffe begreifen zu können, muss das Denken „Organ der Auffassung“ sein, das heißt aber vorbegrifflich. Das Auge ist sonnenhaft, darum kann es die Farben sehen. Das Denken ist geistig sonnenhaft, darum kann es Organ für die unendliche Welt der Ideen und Begriffe sein. Es ist nichts anderes als Erkennen und Begreifen. Das Denken hat Logos-Natur – aber diese verdankt es dem in ihm wirkenden Ich, ohne dass es gar nicht existieren würde.

An dieser Stelle zitiere ich aus dem Buch „Das Tor zur geistigen Welt“ von Mieke Mosmuller. Auch dort verweist sie auf den langen Abschnitt aus „Wahrheit und Wissenschaft“, der mit dem Satz endet „Der Umstand, daß das Ich durch Freiheit sich in Tätigkeit versetzen kann...“ und schreibt dann (S. 228f):

Der Philosoph, der Anthroposoph werden will, muss dasjenige, was in diesem Abschnitt beschrieben steht, verwirklichen. Es darf keine Theorie bleiben, es muss praktiziert werden. Man muss tun, was da in Worten zu lesen ist. [...] Im eigenen tätigen Ich jedoch findet man die Quelle, aus der die ganze Begriffswelt hervorquillt, weil das Ich selbst als Substanz die Begrifflichkeit hat.
Das Ich kann das Erkennen setzen, weil es aus Erkenntnis-Substanz gewoben ist. Deshalb ist es auch frei in der Bestimmung. Man sollte diese Worte tief, immer tiefer empfinden und dann auch realisieren. Man findet sein begriffliches Ich als dreizehnte Kategorie, die sich selbst bei der Tätigkeit des Erkennens anschauen kann.


In diesen Sätzen ist Ungeheures ausgesagt, das zentrale Geheimnis der Anthroposophie ist hier ausgesprochen, und man sollte sich an diesen Sätzen bei jedem einzelnen Wort fragen: Verstehe ich überhaupt, was gemeint ist?

Anthroposophie – dunkel herrschendes Bedürfnis?

Am Ende ihres Büchleins schreibt Diet dann:

Es gibt weder einen „Schlüssel“ zum Verstehen und Lesen­-Können der Schriften Rudolf Steiners, noch eine Methode, die erlernbar wäre. Es gibt nur einen Weg, ein ewiges Streben, ein Bedürfnis, so wie Hunger und Durst. Doch Anthroposophie wird – verbindet sich die Seele wirklich mit ihr – dieses Bedürfnis nicht stillen. Im Gegenteil: Sie wird es erwecken, immer größer, immer stärker wird es werden, und es wird die Seele ganz ausfüllen, es wird sie beherrschen und – dieses ungestillte, unstillbare Bedürfnis wird die Seele leiten. Denn das, was die Anthroposophie Rudolf Steiners sein soll, ist nicht mit einem Leben abge­macht. Es wird sich durch viele Leben ziehen, und es wird die Seele bilden: Es wird sie formen. [92]


Zunächst stellt sie auch hier wieder vollkommen falsche Alternativen auf. Diet schreibt, es gebe nur einen Weg, ein Bedürfnis. Der Weg besteht also im Bedürfnis? Das ist Mystizismus! Ein dunkles Bedürfnis, ein dunkles Streben, ein dunkler, suchender Weg. Wenn es keine Methode gäbe, so wäre Anthroposophie keine Wissenschaft! Es gibt aber eine Methode – nämlich die exakte, klar bewusste seelische Beobachtung. Und es gibt einen Schlüssel – nämlich das reine Denken. Die Methode muss geübt und der Schlüssel muss errungen werden – und dies ist bereits ein Teil des Weges. Ist er aber errungen, beginnt der Weg erst richtig, denn dann öffnet sich das Tor der geistigen Welt...

Diet sagt: Anthroposophie wird das „Bedürfnis“ nicht stillen, sondern im Gegenteil erwecken; das unstillbare Bedürfnis wird die Seele beherrschen, leiten und formen. Was für ein furchtbarer, fremdbestimmt bleibender Ausblick!

Zunächst: Wie kann sich die Seele „wirklich“ mit der Anthroposophie „verbinden“, wenn sie sie gerade sucht, gar nicht versteht usw.? Wenn es gar keine Methode, keinen Schlüssel, sondern nur ein Bedürfnis (wonach?) gibt?

Und was soll dieses merkwürdige Wort „beherrschen“? Anthroposophie wird ein Bedürfnis erwecken, was die Seele beherrscht und leitet? Man fragt sich mit tiefem Ernst, wann und wo bei Irene Diet auch nur ansatzweise die Freiheit beginnt. Oben schrieb sie im Zusammenhang mit einem „Gefühl“ einmal kurz von „frei“ – hier nun wieder wird die Seele von einem Bedürfnis beherrscht und geleitet, um sich blind und suchend vorwärtszutasten, ohne Methode, ohne Schlüssel...

Nein, es gibt den Schlüssel – und dieser Schlüssel eröffnet einen klaren, lichtvollen Weg. Es ist der Weg der Geisteswissenschaft. Es ist doch tief merkwürdig, dass in diesem ganzen Absatz nicht einmal das Wort Geist vorkommt. Es ist aber der Geist, der die Seele leitet. Anders kann von Anthroposophie nicht gesprochen werden.

Die Seele empfindet die Sehnsucht nach der geistigen Welt, die durch den Geist geweckt wird. Aber indem sie diesen Geist in sich aufnimmt, findet sie auf dem Weg der Anthroposophie auch die Pfade, in diese geistige Welt, ihre Heimat, hineinzufinden, tiefer und tiefer. Was sie an geistigen Organen ausbildet, wird sie leiten können, wohin sie selbst gehen will. Sie weiß, wohin sie will – und sie weiß, welche Wege sie dazu gehen muss – und immer mehr erlebt die Geistseele sich als Geist unter Geistern, immer auf dem Weg, immer strebend, aber niemals mehr blind oder getrieben...

Betrachten wir noch Diets allerletzten Absatz:

Anthroposophie ist keine Lehre, sie ist nichts Erlernbares, Verstehbares, nein: Anthroposophie ist ein Weg. Ein Weg, der zu einem anderen, ganz neuen Menschen führt. Und daher ist Rudolf Steiner nicht ein schon Verstandener. Er ist ein noch zu Verstehender. Rudolf Steiner ist nicht ein Gewesener. Er ist ein Werdender. [93]


Auch hier setzt sie also Verschiedenes in eins, setzt falsche Alternativen. Lehre? Erlernbar? Verstehbar? Alles nicht! Nun, selbstverständlich ist Anthroposophie ein Weg. Aber dieser Weg muss doch zunächst einmal verstanden werden, um ihn überhaupt betreten zu können? Und das Voranschreiten auf diesem Weg besteht doch wohl in einem Streben und Üben? Und auch dieses muss doch wohl klar bewusst und durchschaut erfolgen, wenn es ein anthroposophisches Streben und Üben sein soll? Dieser Weg, der zu einem ganz neuen Menschen führt, ist also durch und durch verstehbar und erlernbar, wenn auch nicht in üblichem Sinne (intellektuell, im Nichttun), sondern eben schon in dem neuen Sinne (im Tun, im Vollziehen, im Verwirklichen, auf dem Weg selbst).

Und wenn Rudolf Steiner verstanden werden muss, dann gilt dasselbe für die Anthroposophie! Selbstverständlich ist auch Anthroposophie etwas Verstehbares, denn sie ist Geisteswissenschaft. Der Geist ist der Grund für alles Verstehen – aber der Geist ist Leben, und der Weg ist ein Weg, weil es hier nichts als innere Aktivität gibt.

Wir sind Werdende, wenn wir diesen Weg betreten.

Wie Rudolf Steiner selbst sein wichtigstes Buch meinte

Nehmen wir nun Rudolf Steiners eigene Worte zur Kenntnis, mit denen er ganz klar beschreibt, dass es ihm nicht auf das Nicht-Verstehen, sondern das Verstehen des Lesers ankommt; nicht auf das lesende Verharren im Zweifel oder sogar in der Überzeugung, man habe es noch nicht richtig verstanden, sondern im inneren Mittun; nicht um eine Mystifizierung seiner Worte und Sätze, sondern um ein (mit-)tätiges Hineinkommen in das reine Denken:

Meine „Philosophie der Freiheit“ ist so gemeint, daß man zur unmittelbaren eigenen Denktätigkeit Seite für Seite greifen muß, daß gewissermaßen das Buch selbst nur eine Art Partitur ist und man in innerer Denktätigkeit diese Partitur lesen muß, um fortwährend aus dem Eigenen heraus von Gedanke zu Gedanke fortzuschreiten. So daß bei diesem Buch durchaus immer mit der gedanklichen Mitarbeit des Lesers gerechnet ist. Und es ist ferner gerechnet mit demjenigen, was aus der Seele wird, wenn sie eine solche Gedankenarbeit mitmacht. Derjenige, der sich nicht gesteht, daß, wenn er dieses Buch nun wirklich in eigener seelischer Gedankenarbeit absolviert hat, er dann gewissermaßen sich in einem Elemente des Seelenlebens erfaßt hat, in dem er sich früher nicht erfaßt hat; derjenige, der nicht spürt, daß er gewissermaßen herausgehoben ist aus seinem gewöhnlichen Vorstellen in ein sinnlichkeitsfreies Denken, in dem man sich ganz bewegt, so daß man erfühlt, wie man in diesem Denken frei geworden ist von den Bedingungen der Leiblichkeit, der liest eigentlich diese «Philosophie der Freiheit» nicht im richtigen Sinne. Und der versteht sie im Grunde genommen nicht richtig, der sich dies nicht gestehen kann. Man muß gewissermaßen sich sagen können: Jetzt weiß ich durch diese seelische Gedankenarbeit, die ich verrichtet habe, was eigentlich reines Denken ist.

Mieke Mosmuller und Rudolf Steiner

Ich möchte diese ausführliche Betrachtung mit vier Zitaten aus Mieke Mosmullers Buch „Der lebendige Rudolf Steiner“ beschließen – über das Lesen Rudolf Steiners (also auch der Vorträge), über seine Bewusstseins-Tat, über die Philosophie der Freiheit und über die Verbindung mit Rudolf Steiner.

Vor dem folgenden Zitat verweist Mieke Mosmuller darauf, dass man ein verwirklichtes reines Denken braucht und aus der noch über diesem reinen Denken liegenden Quelle lesen lernen muss. Dann wird der Verstand lebendig, dann wird die aufgenommene Geisteswissenschaft lebendig, kann weiterwachsen, erblühen...

Dann nimmt man die Worte rein wie sie da stehen, die Zusammenhänge rein so, wie sie dargestellt sind. Versteht man, so lässt man das Verständnis tief heruntergehen, in das Gemüt, in den Willen hinein – und man erkennt unmittelbar: Du hast nur einen ganz kleinen Teil verstanden. Dein Verständnis kann auswachsen, sich vergrößern, vertiefen, erweitern.
Versteht man nicht, so ist der Unterschied zum Verstehen nur ein gradueller. Dann lässt man das Nicht-Verstehen tief in sich herein, und man erkennt: Es wird zur Frage, und die Antwort wird dir schon werden, wenn du nur Geduld hast. [21]


Und auch hier zitiert sie Rudolf Steiners Satz „Der Umstand, dass das Ich durch Freiheit...“ und schreibt:

Das Ich wird hier erst wirklich geboren. Zuvor war es die Seele (Verstandesseele), die die Gedanken formte. Sie formt sie aus einem ‚Denk-Instinkt’ heraus, ohne Bewusstsein davon, was sie eigentlich genau tut. Erst wenn sich aus der Seele etwas herauslöst, etwas aufrafft, das sich die Fragen nach der Erkenntnisweise stellt, steht das eigentliche Ich aus der Seele auf.
Die erste Erkenntnis dieses Ich ist die Erkenntnis seiner selbst als denkendes, erkennendes Wesen, und diese Erkenntnis seiner selbst als denkendes, erkennendes Wesen ist originell, kann nicht übertragen werden, sondern muss vom Ich selbstständig ‚gesetzt’ werden. Damit aber wird die Seele befruchtet mit dem Geist. Die Kategorie des Erkennens wird dem Objekt (dem Erkennen) hinzugefügt. Dieser Schritt, der nicht groß und gewaltig genug gesehen und erlebt werden kann, scheint also bereits in ‚Wahrheit und Wissenschaft’ strahlend durch die Sätze hindurch. Hier hat man es keineswegs mehr nur mit ‚Denken’ zu tun, mit Ansichten, Meinungen, Urteilen oder was auch immer. Es handelt sich hier um einen tatsächlichen Schritt in der Bewusstseinsentwicklung, um ein Verwirklichen des eigenen geistigen Seins. Dieses Sein ist dann in der Folge auch wirklich da, der Mensch ist ein neuer, auferstandener geworden.
Kein anderer Mensch in der Weltgeschichte hat diese Bewusstseins-Tat je denkend formuliert, als nur der einzigartige Rudolf Steiner. Das sollte derjenige, der das Vorangehende voll verstanden hat, durch und durch erleben. In diesem Erleben findet man eine erste Begegnung mit dem lebendigen Rudolf Steiner.
Kann man sich dafür nicht glühend begeistern? Liest man darüber hinweg? Wenn der Mensch noch nicht selbst fähig ist, diesen Bewusstseinsschritt zu realisieren, so kann er sich doch wenigstens vorstellen, was eine solche Realisierung bedeuten würde? Im nachfolgenden Leben Rudolf Steiners sieht man diese Bedeutung sich entfalten. Der ‚gewöhnliche’ Mensch aber, der Leser, der Schüler ... er kann sich diesen Schritt doch vorstellen? Ihn in seinen eigenen lebendigen Denkprozess zum Keimen legen und in der Vorstellung bereits die unerschütterliche Wahrheit erleben? Dann mit all seinem Willen diesem nachfolgen wollen, weil ihm klar ist, dass jeder Mensch dies vermag, weil es an der Zeit ist? Weil frühere Zeiten mit ihren geistig führenden Persönlichkeiten diese Fähigkeit in uns veranlagt haben? [31ff]

Man denkt die Gedanken der ‚Philosophie der Freiheit’, versucht sie sich zu vergegenwärtigen, versucht sie zu prüfen in seinem eigenen Innern. Durch die ungeheure innere Aktivität, die man dazu aufwenden muss, durch das fortwährende Ringen um den Ausnahmezustand, gelingt dies letztlich: Der Wille, der in das Denken einschlägt, wird Auge. Man kann ebenso sagen, dass das Denken selbst Auge wird, denn beide sind eins und dasselbe – und doch noch immer verschieden. So wird der Ausnahmezustand realisiert als Ausnahme, die nur im Geistigen möglich ist. Der Zuschauer wird erweckt, und dieser hat die geistige Fähigkeit, sich nicht nur dem Physisch-Ätherischen gegenüberstellen zu können, sondern auch sich in sich selbst schauen zu können. Mit dieser Fähigkeit tritt er dann aus der Meditation in das alltägliche Leben. [217]

Jeder Mensch, der sich im Sinne des Meisters des Abendlandes zum Bewusstsein der reinen Form erhebt, findet unmittelbar die Individualität dieses Meisters als Freund neben sich. Er fühlt das verbindende Karma. Die Form muss jedoch Kraft sein, sonst leitet sie den Geist nicht. Überall, wo ein Bewusstsein der Form der Anthroposophie – ein Gewahrwerden der reinen Form des Denkens – da ist, ist der Meister des Abendlandes da. [110]