04.01.2012

Auf der Suche nach der verlorenen Menschlichkeit

Gedanken am Ende der zwölf heiligen Nächte.


Die zwölf heiligen Nächte sind ein tiefes Gnadengeschenk. Sie sind es durch das, was in der heiligen Weihe-Nacht zur Zeitenwende geschah – und sie sind es auch heute, wo das Geheimnis der Geburt gerade in diesen heiligen Nächten wartet. Welch eine Gnade ist es schon, dass hier einige Tage aus dem normalen Jahreslauf herausgehoben sind. Und wie tief können diese heiligen Nächte in die Besinnung hineinführen! Die Welt hält gleichsam den Atem an, das äußere Geschehen wird unwesentlich, und die Seele hält innere Einkehr...

Allein schon die Bilder. Vielleicht hat man einen Tannenbaum, darunter eine Krippe. Wenn dann in einer stillen Abendstunde nicht die Kerzen des Baumes brennen, sondern nur ein einziges Lichtlein vor der Krippe, dann ist dieses Bild wirklich wie von einer heiligen Nacht umhüllt. Es ist, wie wenn sich die Geburt in der tiefen Einsamkeit dunkler Tannenwälder ereignen würde. Anwesend sind nur Maria, Joseph, die Tiere und ... die frommen Hirtenherzen... Und die Seele erfüllt sich mit einem leisen Glanz jener frommen, tiefen Andacht, die in Menschenherzen früherer Zeiten noch stärker und lebendiger leben durfte. Welche Gnade, wenn auch nur eine Ahnung davon in der Seele auflebt.

Spüren wir dann nicht, wie viel wir verloren haben? Als heutige Menschen mit dem heutigen Bewusstsein? Spüren wir dann nicht, dass wir mit der Fähigkeit der Andacht, ja der Anbetung, auch die ganze göttliche Welt verloren haben – und warum wir sie verloren haben?

In einer Kirche sah ich eine größere Holzkrippe. Maria trug das Kind auf ihrem Schoß. Und der Esel und der Ochse hatten sich zu beiden Seiten der Gottesmutter zu Füßen gelegt. Auch dieses Bild war tief berührend. Beide Tiere drängten sich eng an Mutter und Kind heran, wie wenn sie sich nach nichts anderem sehnten als nach dieser Nähe. Und die Art, wie die Tiere geschnitzt waren und sich niederknieten, ließ in eigentümlicher Weise erleben, wie gefangen die Tiere in ihrer Kreatürlichkeit sind. Der Mensch aber war es, der die ganze Schöpfung in seinen Fall aus Himmelshöhen mit hinabriss...

Auch manche Geschichte von Manfred Kyber macht den Verlust erlebbar, vor dem die Menschheit steht. In einer heißt es am Ende:

„Die wirklichen Meisterkelche aber zerbrechen nicht, und wenn auch nur die Wenigen daraus trinken, so wird aus ihnen noch getrunken nach aber hundert Jahren. Und wenn man sie bis auf die Neige leert, so schaut man nicht in gläserne Herzen, sondern in den grünen Tannengrund mit den Elfen, den Tieren und Blumen und den ewigen Sternen darüber. Aber die Meisterkelche sind selten. Denn es geben nicht viele ihr Herzblut darum.“

Von sich selbst sagte Kyber:

„Ich glaube ... an die Geschwisterschaft aller Menschen und Tiere und an die Lebendigkeit aller Dinge, wenn man sie ansieht mit den Augen eines Kindes. Ich glaube an die uralte Menschensehnsucht nach einem verlorenen Paradies und an den großen Erlösergedanken des Märchens, auch im Kleinsten, Geringsten und Hässlichsten die Schönheit eines verzauberten Königtums zu sehen...“ [Quelle]

Aber die bewusste Tiefe der Empfindung, die ein Mensch wie Kyber hatte, hat heute unter den erwachsenen Menschen nicht einer von hundert.

Zu Weihnachten habe ich meinen Kindern mehrere Jahre lang eine Geschichte vorgelesen, die mich jedes Mal wieder tief rührte: Der Troll, der Mensch werden wollte. Die letzten Worte sind die des Pfarrers, vor dem der Fremde kniet, sein Gesicht zitternd verbergend, neben ihm das Mädchen, dem er so lange Zeit geholfen hatte und das nun ihm helfen will. Und der Pfarrer spricht: „Wenn dem so ist, dann sei willkommen in der Welt der Menschen. Du bist uns gleich, denn das Streben, Mensch zu werden, verbindet uns alle!“

Hier ist klar ausgesprochen, dass das Menschentum etwas ist, was erst werden muss, was erstrebt werden muss – und was nur mit Hilfe des Christus immer mehr wachsen kann.

Doch diese Geschichte rechnet ja noch mit der Frommheit der Herzen, mit der sehnsüchtigen Christussuche des Menschen, der wirklich Mensch werden will und weiß, dass er dies ohne Christus nicht vermag. In welchen Seelen lebt heute noch diese Sehnsucht? Dieses Wissen? Das heutige Bewusstsein, das sich auf den Verstand stützt, hat ja nicht einmal mehr eine Ahnung dessen, was es verloren hat. Woher kann dann die Sehnsucht kommen? Der Verstand, der der Demut und Frommheit nicht mehr fähig ist, kann diese nur noch verspotten. Doch sie erst würden den Sinn für das Verlorene erwachen lassen...

Rudolf Steiner hat immer wieder unmissverständlich von der Tatsache dieses Verlustes gesprochen – wie auch von der Notwendigkeit einer neuen Christus- und Geistes-Erkenntnis, wenn der Mensch sich überhaupt auf der Höhe des Menschlichen halten will. Davon künden zum Beispiel die folgenden Worte, die an anderer Stelle im größeren Zusammenhang zu finden sind:

„Es kam jenes Zeitalter, wo der Mensch, wenn er bleiben will beim alten Materialismus – und ein großer Teil der Menschheit will zunächst dabei bleiben –, dann aber in furchtbare Abgründe hineinkommen wird. Es wird der Mensch, wenn er zunächst bleibt beim alten Materialismus, unbedingt ins Untermenschliche hinunterkommen. Er kann sich nicht auf der menschlichen Höhe erhalten. Um sich aber auf der menschlichen Höhe zu erhalten, muß der Mensch seine Sinne eröffnen – das ist unbedingte Notwendigkeit vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts ab – den spirituellen Offenbarungen, die seither wiederum zu haben sind. [...]
Und wieviel wird eigentlich heute wirklich geschlafen gegenüber den aller-wesentlichsten Ereignissen! Anthroposophie sollte aber da sein, um den Menschen zu erwecken.“
Vortrag vom 29.12.1923, GA 233, S. 102, 109.

„Und wer sagen wollte: Man kann ohne den Christus bestehen – der würde so töricht sein, wie Augen und Ohren, wenn sie sagen wollten, sie könnten ohne Herz bestehen. Beim einzelnen Menschenleibe muß allerdings das Herz von Anfang an da sein, in den Erdenorganismus ist dieses Herz erst mit dem Christus eingezogen. Für die folgenden Zeiten muß aber dieses Christus-Herzensblut in alle Menschenherzen eingezogen sein, und wer sich nicht in seiner Seele mit ihm vereinigt, wird verdorren.“
Vortrag vom 6.3.1911, GA 127, S. 132.

„Und wenn wir eine solche Menschenwesenheit in uns selber auszubilden versuchen, die wie die Kindheitsseele ist, aber voll durchdrungen von allem Inhalt der spirituellen Welt, dann haben wir eine Vorstellung jener Ichheit, jener Christusheit, von der Paulus spricht, als er die Forderung an die Menschen stellt: Nicht ich, sondern der Christus in mir –: die mit der vollen Ichheit erfüllte kindliche Seele. Dadurch wird der Mensch so, daß er seinen Menschensohn durchdringen kann mit seinem Gottessohn und imstande sein wird, sein Erdenideal zu erfüllen, zu überwinden alle äußere Wesenheit und den Zusammenhang wieder zu finden mit der spirituellen Welt.“
Vortrag vom 11.2.1911, GA 127, S. 65.

„Durch nichts anderes kommt man darüber hinaus, die abstrakten Ideale mit einem persönlichen Charakter immer mehr und mehr auszugestalten, als dadurch, daß unser ganzes spirituelles Leben sich durchziehen wird mit dem Christus-Impuls.“
Vortrag vom 3.5.1911, GA 127, S. 166.


Wenn der Mensch Mensch bleiben will, so muss sein Denken christlich werden.
Die Durchchristung des Denkens – das ist nicht eine Erfüllung mit Inhalten und Lehren, sondern vor allem eine andere Art zu denken, eine Auferstehung des Denkens.

Dieser Weg, dieses „Tor zur geistigen Welt“, ist es auch, worauf Mieke Mosmuller immer wieder hinweist und was sie beschreibt.

Ein längeres Zitat von Rudolf Steiner möge einen Eindruck von der inneren Aktivität geben, die hier gemeint ist:

Man kann, wenn man diese Freiheit erfassen will, die ja ein unmittelbar mit dem Menschen identisches Erlebnis ist, nicht an Äußeres sich anlehnen. Man muß das Denken selber verbinden mit demjenigen, was man, ich möchte sagen, in dem Prozesse seines Ichs ist. Man muß dasjenige anschauen, was in der Freiheit vor einem steht, aber indem man anschaut, muß man zu gleicher Zeit das Denken entwickeln, wie man es sonst an den Erscheinungen der äußeren Natur entwickelt.
Was Goethe so gefallen hat, als Heinroth sein Denken ein gegenständliches genannt hat, das muß auf einer noch höheren Stufe zutage treten, wenn man die Offenbarung der Freiheit erfassen will, denn Goethe verband sein Denken mit dem Äußerlich-Sinnlichen der pflanzlichen Welt. Da gelang es ihm, das Denken untertauchen zu lassen in das Objekt, mit dem aktiven Denken in dem Objekt selbst drinnen zu leben; aber das Objekt blieb passiv. Will man dieses, wenn ich es da noch so nennen darf, gegenständliche Denken auf die Freiheit anwenden, dann muß man ein Übersinnlich-Geistiges, das im Menschenseelenweben in fortwährender Tätigkeit ist, noch auf eine viel innigere Weise durchdringen mit der Aktivität des Denkens. Man muß nicht ein Äußerliches, man muß dasjenige, was in einem selber sich entwickelt, mit der Aktivität des Denkens durchdringen. Dadurch aber reißt sich das, was nun Inhalt des Denkens wird, los von einem jeglichen Haften an einem Objekt im gewöhnlichen Sinne.
Was hier das Denken vollzieht, es wird selber ein Akt der Befreiung. Es hebt sich das Denken, indem es nicht inhaltlos wird, sondern gerade indem es angefüllt ist mit dem intimsten Fließen des Menschenwesens selbst, herauf zu einem freien Flusse, der das eine aus dem andern hervorströmen läßt. Es erfüllt sich der Seeleninhalt mit etwas, das er selber erzeugt und das in seiner Erzeugung zu gleicher Zeit objektiv ist. Der Geist naturwissenschaftlicher Denkungsweise ist heraufgetragen in das Aufsuchen der dem Menschen wichtigsten Seelenresultate. [...]
Qualitativ ist dasjenige, was da erstrebt worden ist als seelische Beobachtungsresultate, nichts anderes, als was später von mir geltend gemacht worden ist mit Bezug auf die Erforschung der verschiedenen Gebiete der übersinnlichen Welten. Man [...] verfährt mit Bezug auf das Innerste der Seelenverfassung auch für diese übersinnlichen Gebiete nicht anders, als man zu verfahren hat, wenn man das Wesen der menschlichen Freiheit untersucht, so daß man eine wirkliche Erkenntnis dieses Wesens erhält.
Man beschränkt den Gegenstand der Untersuchung zunächst auf den Menschen als freies Wesen innerhalb der physischen Welt, aber dieses freie Wesen wurzelt in einem Übersinnlichen. Man bewegt sich in den Freiheitsuntersuchungen in einem Strom übersinnlicher Forschung. Wer dann in vollem Sinne ernst nimmt, was er da eigentlich tut, was da eigentlich in ihm geschieht, indem er sich in diesem Strom übersinnlicher Forschung bewegt, bei dem bietet sich nach und nach selbst der Weg, dasjenige, was er nun angewendet hat behufs Untersuchung der menschlichen Freiheit, auch für weitere Gebiete anzuwenden.
31.8.1921, GA 78, S. 49-51.


Der Mensch ist nicht nur das höchste Wesen der materiellen Welt, er ist auch ein Wesen der geistigen Welt – wenn er wahrhaft Mensch wird...

„Dadurch aber, daß der Mensch nach dem Physischen hin seinen starken Drang geltend gemacht hat, dadurch wurde er nicht das Wesen auf der untersten Sprosse der Hierarchien, sondern das Wesen an der Spitze auf der höchsten Sprosse der irdischen Reiche: Mineralreich, Pflanzenreich, Tierreich, Menschenreich. [...] Dadurch aber, daß der Mensch seine Aufgabe auf der Erde nicht gefunden hat, dadurch hat die Erde auch nicht ihre würdige Stellung im Kosmos. Denn es ist ja eigentlich dadurch, daß der Mensch gefallen ist, der eigentliche Regent der Erde nicht da.“
Vortrag vom 11.1.1924, GA 233, S. 208f.


Die Frage der Menschlichkeit bezieht sich zum einen auf die Liebe der Menschen untereinander, zum anderen aber auf das Bewusstsein des geistigen Menschentums, auf die Erweckung, Verwirklichung und Entwicklung des individuellen Menschengeistes. Beides ist nur möglich auf dem Wege der fortwährenden Vertiefung und Erweiterung der Seelen- und Geisteskräfte, einem Wege zu und mit Christus.

Es ist das Streben nach moderner Heiligkeit, Heiligung, „Menschenweihe“. Wenn man den tiefen Fall des Menschen in die Materie und die Abstraktheit wirklich erleben kann, erlebt man auch, dass der Begriff der Menschlichkeit erst in dieser geistig-kosmischen Dimension umfasst wird.

In der Menschenweihehandlung wird in der Weihnachtszeit von der Erscheinung des Gnadensternes gesprochen, von jenem erlösenden kosmischen Geschehen und Wesen, das sich mit der Erde verband, um den Menschen zu retten. Und am Anfang und am Ende erklingen die Worte:

Erkennet es: Der Christus ist im Erdenreich erschienen. Schauet in ihm den Heilbringer der Erdenmenschen.