29.11.2013

Zur „Kritischen Steiner-Ausgabe“ (SKA)

Intensive Einblicke in ein kritisches Projekt.

Inhalt
Hintergrund
Kritik im „Europäer“
Zur Textkritik
Reaktion von Clement
Die geistige Wirklichkeit
Nochmal Clement
Einige Artikel zur KSA
Clement und die Mormonen


Hintergrund

Christian Clement (*1968), Germanist an der Mormonen-Universität „Brigham Young University“ in Provo, 80 km südlich von Salt Lake City (Utah/USA), will 16 Grundwerke Steiners als textkritische Ausgabe herausgeben, die ihre Entstehungsgeschichte verfolgt. Der Verlag ist der Wissenschaftsverlag frommann-holzboog.

Der erste Band ist im August 2013 erschienen. Schon in der Verlagsankündigung heißt es:

Innerhalb der intellektuellen Entwicklung Steiners nehmen ‚Die Mystik’ (1901/1924) und ‚Das Christentum’ (1902/1910/1925) eine zentrale Stellung ein. Sie dokumentieren den Übergang des Philosophen Steiner zum Mystiker und Esoteriker und stehen somit im Brennpunkt aktueller Forschungskontroversen, etwa um die Kontinuität von Steiners intellektueller Entwicklung, um die „Christlichkeit“ der Anthroposophie oder um die Abhängigkeit Steiners von der anglo-indischen Theosophie.


Was bleibt hängen? Steiner sei Mystiker geworden und die Kontinuität seiner intellektuellen (!) Entwicklung sowie die „Christlichkeit“ der Anthroposophie seien fraglich, seine Abhängigkeit von der anglo-indischen Theosophie durchaus nachweisbar... Die altbekannte Außenperspektive mit all ihren Vorurteilen! Die „aktuellen Forschungskontroversen“ spiegeln nichts anderes als die Behauptungen der Gegnerschaft der Anthroposophie, wie sie von Anfang an vorgebracht wurden. 

Die Rolle des Rudolf-Steiner-Archivs

Der Leiter des Rudolf-Steiner-Archivs, David Marc Hoffmann, empfahl das Projekt vor Erscheinen des ersten Bandes dem Rudolf Steiner Verlag, so dass es zu einer Koproduktion kam. 

Im Verlagsprospekt von frommann-holzboog ist die Rede von einer Herausgabe durch Clement „In Kooperation mit dem Rudolf Steiner Archiv und dem Rudolf Steiner Verlag“. Irene Diet schreibt im „Europäer“ 11/2013, Hoffmann habe sich erst „im Juli dieses Jahres“ für eine „Koproduktion“ eingesetzt, doch im „Goetheanum“ vom 13.7.2013 berichtet Hoffmann im Gespräch mit Wolfgang Held, dass die Ankündigung von frommann-holzboog zeitgleich mit seinem Arbeitsantritt als Leiter des Rudolf-Steiner-Archivs 2012 erschien und er, mit dem Verleger Holzboog befreundet (!), schon damals den Kontakt zum Verlag und zu Clement gesucht habe.

In dem genannten Artikel heißt es weiter:

Dabei versuche Clement Motive zu finden und nicht an Wörtern sich zu fixieren. Bei der Frage, ob Christian Clement, wie Helmut Zander Rudolf Steiner „überführen“ wolle, erwacht David Marc Hoffmanns Begeisterung für das Kooperationsprojekt der Verlage. „Überhaupt nicht. Er hat einen hochinteressanten Zugang zu Rudolf Steiner, ‚sine ira et studio’, eine echte Erkenntnissuche mit Argument und Gegenargument.“ Zwischen einer apologetischen, verteidigenden Position und einer kritisch-zersetzenden Haltung nehme er eine dritte ein.


Das ist nun wirklich die Frage! Hoffmann in dem Artikel weiter:

Gewiss kann er [Clement] in der einen oder anderen Frage eine Auffassung vertreten, die wir oder ich anders sehen, aber das schmälert doch nicht den Eindruck, dass es im Ganzen Hingabe ist, die Christian Clement zu dieser Arbeit geführt hat.


Es fragt sich nur, Hingabe an was... Ein weiteres Zitat aus obigem Artikel:

Christian Clements Motiv sei dabei, Rudolf Steiner mit der Welt zu verknüpfen.


Was für eine Welt und was für eine Art der „Verknüpfung“ ist hier gemeint? „Verknüpfung Rudolf Steiners mit der Welt“ durch philologische Skelettierung seines Werkes? Rudolf Steiners Werk müsste in der Seele des Menschen Leben bekommen, stattdessen verfolgt man philologisch die Entwicklungen der einzelnen Worte und Sätze und steigt immer tiefer hinab in den Todesgrund des bloßen Intellekts.

Der nächste Satz lautet:

Die jetzige Ausgabe [...] macht somit die Werkentwicklung sichtbar und löst die Forderung Steiners ein, der sein „eigenes inneres Ringen und Arbeiten für das Hinstellen der Anthroposophie vor das Bewußtsein der gegenwärtigen Zeit [...] an Hand der allgemein veröffentlichten Schriften“ verstanden wissen wollte.


So wird also über Steiner hinweg-gedacht und hinweg-geurteilt – und dies wird im „Goetheanum“ gedruckt. In seinem „Lebensgang“ schreibt Rudolf Steiner über das Verhältnis seiner schriftlichen Werke und der Privatdrucke der Vortragsmitschriften zur Anthroposophie. In diesem Zusammenhang schreibt er dann:

Wer mein eigenes inneres Ringen und Arbeiten für das Hinstellen der Anthroposophie vor das Bewußtsein der gegenwärtigen Zeit verfolgen will, der muß das an Hand der allgemein veröffentlichten Schriften tun.
(GA 28, S. 443)


In den Vorträgen sei er dagegen auch auf das eingegangen „was aus der Mitgliedschaft heraus als Seelenbedürfnis, als Geistessehnsucht sich offenbarte“.

Was machen Clement bzw. Held nun daraus in dem „Goetheanum“-Artikel?

Steiner sagt, man solle und könne sein Ringen für das Hinstellen der Anthroposophie vor das gegenwärtige Bewusstsein anhand seiner veröffentlichen Schriften verfolgen bzw. erkennen. Daraus wird die Behauptung, erst die sichtbar gemachte Werkentwicklung löse Steiners Forderung ein! Mit anderen Worten: Die allgemein veröffentlichten Schriften würden sein Ringen für das „Hinstellen der Anthroposophie“ also nicht sichtbar machen – sondern erst eine textkritische Bearbeitung der verschiedenen Ausgaben und Veränderungen würde dies tun. Welche eine Verkehrung von Steiners Worten in ihr Gegenteil!

Kritik im „Europäer“

Thomas Meyer behandelt in einem Aufsatz 11/2013 den im August erschienenen ersten Band – Band 5: „Schriften über Mystik, Mysterienwesen und Religionsgeschichte“ [zu GA 7 Die Mystik und GA 8 Das Christentum als mystische Tatsache]. In der 54-seitigen Einleitung verspricht Clement, „allen Anforderungen an eine moderne wissenschaftlich-kritische Textausgabe gerecht“ zu werden. Doch was unterläuft ihm in dieser Einleitung?

Ohne jede Begründung behauptet Clement wahrheitswidrig, dass Steiner für seine Schrift „Das Christentum als mystische Tatsache“ angeblich „das nötige philologische Rüstzeug nicht besaß“, denn er habe sich mit diesem Thema auf dem Felde alter Literatur bewegt, „ohne dass er die entsprechenden griechischen und lateinischen Texte im Original hätte lesen können.“ (S. XXXI). Dreist behauptet Clement dann: „Saubere Quellenarbeit, Methodenschärfe und sachliche Distanz zum Gegenstand waren also Steiners Sache nicht.“ (ebd.). Die Mängel an sauberer Quellenarbeit und Denkschärfe betreffen aber Clement selbst!

Steiner berichtet in seinem Lebensgang, dass er schon während seiner Schulzeit mit Hilfe entsprechender Lehrbücher eigenständig Latein und Griechisch lernte und während seiner Zeit an der Technischen Hochschule als Hauslehrer von Otto Specht diesem und einem anderen Nachhilfeschüler auch diese Sprachen beibrachte.

In einer Antwort auf Meyer erwidert Clement, er habe nur behauptet, Steiner sei kein ausgebildeter Altphilologe gewesen, daher seien seine „Schriften von 1901 und 1902, auch nach Steiners eigener Einschätzung, nicht als historisch-philologische Abhandlungen [...] zu verstehen“... Und so sei die Geschichte der Mystik auch nur das Medium der Darstellung seiner ureigensten Gedanken und Erfahrungen.

Clement bewegt sich auf diese Weise oftmals – an anderen Stellen auch wieder nicht – am Rande eines impliziten Subjektivismus:

Somit wird deutlich, dass Steiner, wie schon zuvor in die mittelalterlichen Mystiker, so auch hier in die antiken Mysterien letztlich seine eigenen mystisch-philosophischen Vorstellungen bzw. Erfahrungen hineinprojiziert.
(S. XLIX).


Etwas vorher schreibt er, durch den „mystischen Grundzug“ bei Steiner dürfe man „nicht allzu überrascht“ sein, dass er „nicht davor zurückschreckte, seine eigenen Denkerlebnisse für Aussprüche des Weltgeistes zu erachten“ (S. XLVIII).

Wie urteilsbelastet Clement Steiner wirklich gegenübersteht, zeigt ein weiteres von Meyer wiedergegebenes Zitat aus einer Studie, mit der Clement 2005 an der University of Utah promovierte:

Steiners eigenes „Erkenntnisdrama“ führte ihn (...) von der unkritischen Goethe-Verehrung der achtziger Jahre in den radikalen Individualismus der neunziger Jahre, in dem sich ihm sein „Ich“ gleichsam zum Absoluten aufblähte. Um die Jahrhundertwende dann folgte eine Wende zur Mystik und Theosophie, in deren Verlauf Steiner sein bisheriges „Ich“ gewissermaßen Aufgabe und vom radikalen Individualisten zu einem an Dogmen und Amtspflichten gebundenen Theosophen wurde. Aus diesem „Opfer“ jedoch wurde der Anthroposoph Steiner geboren.
Christian Clement: Die Geburt des modernen Mysteriendramas aus dem Geiste Weimars. Logos Berlin, 2007, S. 21. [zit. nach Meyer, 11/2013, S. 5].


Weiterhin schreibt Clement Sätze wie:

Wenn Anthroposophen wirklich wissen wollen, ob Steiner ein Platon oder ein Cagliostro war, müssen sie ihn aus dem Gefängnis der eigenen Deutung freilassen.
Europäer, Dez./Jan. 2013/14, S. 2.


Solche Sätze könnten identisch auch von Helmut Zander stammen. Die Frage ist nur, wieso gerade die Nicht-Anthroposophen mit ungeheuer Arroganz der Meinung sind, sie hätten entweder die wahre Deutung oder würden überhaupt nicht deuten!

Es geht nicht um Deutungsgefängnisse, sondern um ein Erkennen, wer Rudolf Steiner war und was die Anthroposophie bzw. die Geistesforschung ist. Die Anthroposophen sollten dies erkennen, die Nicht-Anthroposophen können es nicht erkennen, denn im und durch das Erkennen wird man in wahrem Sinne gerade Anthroposoph...

Zur Textkritik

Clement behauptet, Steiner habe für „Das Christentum als mystische Tatsache“ mehr als 50 Zitate Otto Willmanns „Geschichte des Idealismus“ entnommen 

und diese oft in derselben Reihenfolge in seine Darstellung eingefügt, wie sie sich in der Vorlage finden. Ähnliches gilt für den Umgang mit Zitaten aus den Arbeiten von Albert Stöckl, Otto Pfleiderer, Eugen Kühnemann, Carl du Prel, Moriz Carriere, August Gladisch, Richard Lepsius, Hans Martensen, Wilhelm Preger und Rudolf Seydel.
(S. XXX). [zit. nach Diet, 11/2013, S. 7f]


Von Lepsius kann Clement aber nur ein Zitat nachweisen, von Gladisch zwei (ebd., S. 8). Seydel zitiert Steiner im Zusammenhang mit den Parallelen zwischen dem Leben Buddhas und Jesu, gibt diesen aber eine völlig andere Wendung als Seydel selbst (siehe mein Buch „Unwahrheit und Wissenschaft“, S. 115).

Bereits in seinem „Lebensgang“ schreibt Steiner, dass man seinem Buch „Das Christentum als mystische Tatsache“ vorwerfe, gnostische und andere Lehren verarbeitet zu haben. Er habe jedoch die Geist-Erkenntnis unmittelbar aus der Geistwelt herausgeholt und sich erst danach die historischen Überlieferungen vorgenommen und dem Inhalt eingefügt, um den Einklang mit dem geistig Erschauten zu zeigen (von Clement zitiert, S. XXX).

In einem etwas anderen Aufsatz schreibt Irene Diet:

Und jetzt kann man eine weitere Entdeckung machen: Im Stellenkommentar Clements sind nur wenige Stellen zu finden, an denen er Rudolf Steiner ein meist nur Satzteile umfassendes, wörtliches und nicht ausgewiesenes Zitat nachzuweisen vermag. Und ähnlich problematisch ist Clements Behauptung von angeblich „weiten Passagen“, in denen Rudolf Steiner paraphrasiert hätte, ohne die Quelle anzugeben. Hier stößt man nämlich auch auf Textteile, die in keiner Weise als eine Paraphrase gelten können, von Clement aber als eine solche, von Rudolf Steiner unausgewiesene, bezeichnet werden. Doch gleichzeitig arbeitet man sich tiefer in die Zitiertechnik Rudolf Steiners ein, und immer deutlicher wird es: Rudolf Steiner hat tatsächlich zunächst „geistig geschaut“, und erst im Nachhinein das Erschaute in der zugänglichen Literatur nachzuweisen versucht. Angesichts der unglaublich vielen Zitate (in den beiden von Clement besprochenen Büchern sind es allein etwa 250) – welch immense Arbeit, die er, als Zugeständnis an den „philologischen Zeitgeist“, damit auf sich genommen hat!
Diet, Irene: Ist die soeben erschienene kritische Rudolf Steiner Ausgabe wirklich wissenschaftlich? Ignis-Verlag, online.


Der entscheidende Punkt ist doch, dass Rudolf Steiner in seinem Werk tatsächlich ganz eigenständig tiefe Fragen aufwirft und Zugänge gibt, die sich in den Werken der größtenteils völlig unbekannten bzw. vergessenen Autoren so überhaupt nicht finden! Nicht auf das, was Steiner angeblich oder wirklich zitiert, angeblich oder wirklich paraphrasiert hat, kommt es an, sondern auf das, was nur bei ihm so zu finden ist – und das ist der Gesamtzusammenhang, der immer tiefer in ein Geist-Erleben und eine Geisteswissenschaft hineinführt.

Lorenzo Ravagli schreibt ebenfalls in einem Aufsatz:

Allerdings lässt gerade Steiners Brief an Josef Köck daran zweifeln, dass die von Clement genannten Autoren [in diesem Fall Fichte, Hegel, Goethe, H.N.] für ihn lediglich Fundstätten für Formulierungen waren, in die er seine Erlebnisse hineinprojizieren konnte. Spricht Steiner doch davon, er habe ein Jahr lang erforscht, ob Schellings Behauptung, es gebe ein solches Vermögen, das Ewige im Selbst anzuschauen, wahr sei. Seine Entdeckung eben dieses Vermögens erweist sich also als Ergebnis einer ausgedehnten, langwierigen Prüfung des Idealismus und dieser steht nun, nach dieser Entdeckung, „in einer wesentlich modifizierten Gestalt“ vor ihm.
Dynamit, das dogmatische Bastionen sprengt. Anthroblog, 22.11.2013.

Reaktion von Clement

Clement antwortet auf die Kritik von Diet in einem langen Aufsatz. Darin heißt es unter anderem:

Zwar stellt die Edition jedem Zitat Steiners ihre (sichere oder wahrscheinliche) Quelle gegenüber, überlässt es aber dem Leser, sich über das so angebotene Material eine Meinung zu bilden.


Die Frage ist, was in der Urteilsbildung des Lesers vorgeht, wenn er „Quellen“ angeboten bekommt. Geht er unkritisch davon aus, dass es immer „sichere Quellen“ sind – oder vermag er auch zu dem Urteil zu kommen, dass verschiedene Quellen gar keine Quellen sind?

Um welche Stellen es geht, zeigt ein Beispiel aus Clements Aufsatz:

(Steiner): „Plutarch spricht von dem Schrecken der Einzuweihenden […]“ (CM,10).
(du Prel): „Bei den Alten ist nun sehr viel von dem Schrecken die Rede, womit die Mysterien erfüllen. In einem dem Plutarch zugeschriebenen Fragment bei Stobäus ist davon die Rede […]“ (95)


Steiner hat du Prels Text mehrfach zitiert. Es spricht absolut nichts dagegen, dass Steiner auch den Inhalt dieses Satzes bei du Prel gefunden und daher von ihm übernommen hat. Irgendwoher muss er doch wissen, wovon Plutarch spricht! Nur so kann er auch diese antiken Quellen in sein Werk integrieren. Das, was allgemein bekannt ist bzw. nachgelesen werden kann (und was Steiner auch auf solchen Wegen erfahren und übernommen hat), ist jedoch nicht das Wesentliche an Steiners Werken – sondern das, was zu dem Wesentlichen etwa der Mysterien, des Christentums, der Zusammenhänge zwischen dem Mysterienwesen und dem Christusgeschehen hinführt. Darüber kann die Textkritik dann nichts mehr aussagen bzw. da gibt es keine Vorläufer bzw. irgendwann geht Steiner über all dies hinaus. Und gerade dies ist seine Geistesforschung, die aber bei ihm das Primäre bildet.

Erst steht die Geisteserkenntnis da, dann wird ein schriftliches Werk geschrieben – und in dieses fließt dann zugleich auch Verschiedenes ein, was Steiner an „Faktenwissen“ in der äußeren Welt, in anderen Werken fand, denn selbstverständlich war er auch ungeheuer belesen.

Was Plutarch über die Einweihung sagt, dient der Illustration und kann Steiners Werk in seinem eigentlichen, selbstständigen Inhalt niemals erklären. Und so ist es auch in allen anderen Fällen. Mögen in Steiners zwei Werken 250 Stellen von ihm inhaltlich irgendwie aus anderen Schriften herangezogen worden sein, so machen diese Stellen absolut nicht das Wesentliche von „Die Mystik“ und „Das Christentum“ aus.

Den Indikator für das, was an seinem Werk wesentlich ist, geben manchmal gerade Steiners Gegner. Haben denn diese beiden Werke nicht schon damals eine große Gegnerschaft aufgerufen? Hatte ein du Prel, hatte ein Gladisch, ein Lepsius, ein Seydel solche Gegnerschaft? Nein – und dies liegt eben daran, dass all diese anderen über den Intellektualismus oder allenfalls einen bloß eher gedanklichen Idealismus nie hinauskamen, während Steiner einen Geist-Realismus vertrat und schließlich immer mehr zu einer völlig offenbaren Esoterik kam.

Dies ist jenes Element, was jede textkritische Bearbeitung immer nur verdecken kann. Selbstverständlich kann man sich Gedanken darüber machen, welche Satzteile Steiner wörtlich, inhaltlich oder gedanklich vielleicht anderen Werken und Autoren verdankte, doch wenn der Blick darauf gerichtet wird, ist der Blick für das eigentlich Wichtige bereits verloren – zumal dieser sich ja überhaupt erst immer mehr entwickeln muss. Geisteswissenschaftliche Schriften wollen einen neuen, höheren Sinn entwickeln. Richtet man seinen Blick gerade auf die Stellen, die nicht Steiners unmittelbarer Geistesforschung entsprechen, sondern die Verschiedenes illustrieren, dann macht man sich gerade blind für die entscheidenden Stellen und Zusammenhänge, die etwas völlig anderes begründen wollen...

Ein anderes Beispiel: Clement vermutet, dass Steiner den Gedanken der „Erlösung Gottes durch den Menschen“

wahrscheinlich nicht aus der antiken Gnosis (dies hatte Helmut Zander vermutet), sondern „aus neuzeitlichen Kontexten, etwa aus Richard Wagner und der Philosophie Eduard von Hartmanns“ (295) rezipiert habe.


Das Problem liegt in den Worten „Gedanken“ und „rezipiert“. Mag es sein, dass Steiner diesem Gedanken bei dem ihm gut bekannten Eduard von Hartmann zuerst begegnet sei. Dennoch ist doch wiederum die Frage, was Steiner daraus macht. Es ist doch bekannt, dass er über von Hartmann wesentlich hinausgeht – und dass dieser schon Steiners „Philosophie der Freiheit“ gar nicht verstand. Es geht nicht darum, ob Steiner einen Gedanken von irgendjemandem „rezipiert“ habe, sondern dass bei Steiner dasjenige, was bei anderen Denkern bloßer Gedanke bleibt, zu einer Realität wird, zu einer Realitäts-Erkenntnis. Möge auch bei von Hartmann Ahnungen gelebt haben – so bleiben sie bei ihm letztlich doch nur Gedanke. Bei Steiner werden sie: Erkennen der Wirklichkeit.

Bleibt man bei „Gedanken“ und bei dem Begriff „Rezeption“, so bleibt man auch hier blind für den wesentlichen, alles entscheidenden Unterschied, der die Frage, ob Steiner wichtigen Gedanken vielleicht zuerst auch auf anderem Wege als der eigenen Geistesforschung begegnete, völlig nebensächlich macht. Nicht, wann und wie Steiner welchen Gedanken begegnete, ist entscheidend, sondern das, was entsteht, wenn seine eigene Geistesforschung einsetzt. Denn mit dieser wird die volle Realität des Erkennens betreten...

Eine entscheidende Stelle ist dann der folgende Abschnitt im oben genannten Aufsatz von Clement:

Wir überlassen es dem Leser zu beurteilen, ob der in Frage stehende Sachverhalt durch Clements Charakterisierung oder durch diejenige Diets treffender charakterisiert wird. Ihr Argument ist: „Steiner lässt das Ich der Mystiker aus seinen Worten sprechen“, während die SKA meint: „Steiner lässt sein Ich aus den Worten der Mystiker sprechen“. Vielleicht könnten Diet und Clement hier sogar, bei weniger polemischer Auseinandersetzung ,gemeinsamen Grund finden. Denn aus der von Steiner selbst eingenommenen mystischen Perspektive könnten vielleicht beide Formulierungen gelten; in beiden Fällen wird das „individuelle Ich“ (etwa das der Mystiker oder das Rudolf Steiners) als Ausdruck und Sprachrohr des „absoluten Ich“ verstanden, welches aus den Texten der alten Mystiker und aus den Worten Steiners spricht. In der SKA wird dieser Gedanke folgendermaßen ausgesprochen:
Drittens ergab sich Steiners Methode der Interpretation durch Selbstprojektion aus der mystischen Grundhaltung selbst: Wer das menschliche Innere als denjenigen Bereich ansieht, in dem allein das Wesen aller Dinge sich offenbart, der ist schließlich nur konsequent, wenn er dieses Wesen auch dann aus dem eigenen Ich zu ziehen sucht, wenn er die Manifestation dieses Wesens im Denken anderer Persönlichkeiten darzustellen unternimmt. (XXXII).
So stehen sich der Herausgeber der SKA und Irene Diet in ihren Deutungen der Steinerschen Arbeitsweise vielleicht näher, als es den Anschein hat. Beide haben offenbar die steinersche Beschreibung der intuitiven Erkenntnis im Sinn, deren Wesen nach darin besteht, das der Erkennende mit dem Objekt seiner Erkenntnis in eins zusammenfließt.


Das Wesen der Intuition wird jedenfalls nicht verstanden, wenn man die Sätze von Diet und Clement – wie Clement es tut –, einfach mehr oder weniger aufeinander bezieht. Es ist doch wohl ein Unterschied, ob Steiner mit den Mystikern eins wird und sie aus seinen Worten sprechen lässt – oder ob er aus ihren Worten sein Ich sprechen lässt, die Mystiker also in Wirklichkeit zum „Sprachrohr seiner eigenen Anschauungen“ macht.

Was Clement unter „absolutem Ich“ versteht, wird er kaum erklären können. Dass er sich hierbei in Widersprüche verwickelt bzw. zu keiner klaren Geistesposition kommt, hat Ravagli aufgezeigt.

Von einer „Methode der Interpretation durch Selbstprojektion“ und einer „mystischen Grundhaltung“ zu sprechen, kann nur irreführen. Auch Clements nächster Satz ist mehr falsch als richtig und führt ebenfalls ganz in die Irre: Das Wesen der Dinge offenbart sich zwar im menschlichen „Inneren“; doch das Wesen im Denken anderer Menschen „aus dem eigenen Ich zu ziehen“, deutet wieder nur auf so etwas wie „Selbstprojektion“, was Clement dann ja auch explizit so benennt.

Die Rätsel beginnen sich erst dann zu lösen, wenn man den Zusammenhang zwischen Ich und Welt und das Wesen des Erkennens tiefer versteht und erlebt, als es mit solchen Begriffen wie „Methode“, „Interpretation“, „Selbstprojektion“ etc. je möglich wäre.

Im (wirklichen) Erkennen vereint sich der Mensch mit den Tiefen der Wirklichkeit. Er ist dann also nicht mehr getrennt in Ich und Welt, Inneres und Äußeres, Subjekt und Objekt, sondern das erkennende Ich wird eins mit dem Wesen der Dinge – oder auch dem Denken eines anderen Menschen.

Die Brücke ist das Denken, im Denken baut das Ich die Brücke zum Anderen, erkennend lebt sich der Mensch in das Andere hinüber, hinein, wird eins mit dessen Wesen. Das ist keine Selbstprojektion, sondern Vereinigung, Intuition. Es ist Verwandlung in das Andere – sonst könnte das Andere nicht verstanden und erkannt werden.

Ein Hindernis für das Verständnis ist nun die Tatsache, dass Steiner im Erfassen der Bewusstseinsgeschichte der Menschheit z.B. die Mystiker besser verstand als sie sich selbst. In gleicher Weise konnte er eine „Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung“ schreiben, während Goethe froh damit war, nie „über das Denken nachgedacht“ zu haben. Wenn eine solche Erkenntnistheorie dann „steinerisch“ wirkt, dann nur deshalb, weil Steiner Goethe erkannt hat – während Goethe sich selbst nicht ganz und gar erkannt hat.

So ist es auch mit den Mystikern: Was Steiner beschreibt, ist immer mehr als die Mystiker, weil es gerade ein Erkennen der Mystiker ist. Die Mystiker hatten dieses Erkennen (ihrer selbst) nicht – und gerade dies kommt von Steiner. Darum kann es so fremd, so hinzugefügt wirken. Der Mystiker hat nicht über sich selbst nachgedacht, daher können alle Worte Steiners wie Interpretationen wirken, die dann natürlich „Selbstprojektion“ wären. Sie sind es aber nicht. Denn was Steiner hinzufügt, ist nichts anderes als die Erkenntnis des Wesens der Mystiker bzw. auch anderer Denker, ihrer Bedeutung in der Bewusstseinsgeschichte der Menschheit und so weiter.

Die geistige Wirklichkeit

Jens Heisterkamp schreibt in einem Artikel:

Auch Steiners Christus-Verständnis wird von Clement als „konzeptionell bereits eindeutig im Wesens-Begriff der steinerschen Frühschriften angelegt“ bezeichnet – und damit gegen den Verdacht in Schutz genommen, Steiner habe hier lediglich theosophische Vorbilder der Christus-Deutung von Blavatsky oder Besant adaptiert.


Die Frage ist nur, welchen Preis dieser „Schutz“ hat... Heisterkamp weiter:

Steiners Buch über das Christentum wird von Clement [...] als Fortschreibung seiner erkenntnistheoretischen Grundlagen gedeutet. In den Mysterien sei für Steiner ein Erfahrungswissen darüber erlangt worden, dass die vom naiven Volksglauben zu Göttern erhobenen Größen in Wirklichkeit Spiegelbilder des menschlichen Bewusstseins sind – allerdings nicht in der trivial misszuverstehenden Weise, es handele sich hier nur um täuschende Projektionen, sondern so, dass „der Myste seine Aufmerksamkeit von den selbstgeschaffenen ‚Göttern‘ auf die in diesen wirksame ‚götterschaffende Tätigkeit‘ des eigenen Bewusstseins lenkte“. Steiner habe zeigen wollen, dass in dieser Tätigkeit „nicht nur er selbst als ‚Subjekt‘, sondern vielmehr der Subjekt und Objekt umfassende Grund des Seins als solcher am Werk sei.“ Dieser Gedanke sei, wie Clement in einer Anmerkung ergänzt, „unzweifelhaft eine ideelle Metamorphose des in der Philosophie der Freiheit (...) auftauchenden Theorems von der ‚Beobachtung des Denkens‘“ [...].
Wenn Clement formelartig zusammenfasst, „die steinersche Esoterik kann als eine zum Zweck der Anschaulichkeit vorgenommene ideelle Umstülpung seiner Philosophie verstanden werden“, dann ist diese Verständnisbrücke zwischen „philosophischem“ und „mystisch-christlichem“ Steiner nicht nur im Blick auf die „externe“ Steiner-Rezeption hilfreich. Sie könnte auch eine Besinnungshilfe darstellen für die heute teilweise stark konfessionalisierte binnen-anthroposophische Sicht auf Steiner als neuen „Verkünder des Christentums“.


Damit sind wir unmittelbar bei der von „info3“ seit Jahren vertretenen Leugnung einer geistigen Welt angelangt.

Welcher Unterschied besteht bitte zwischen einer (trivial-täuschenden) „Projektion“ und einer „Umstülpung der Philosophie“?

Was ist der Subjekt und Objekt umfassende Seinsgrund? Und warum sollte dieser am Werk sein, wenn es um die „götterschaffende Tätigkeit“ des eigenen Bewusstseins geht?

Wer schafft hier? Was ist das Bewusstsein? Was sind die Götter? Was ist der umfassende Seinsgrund?

Lauter unbeantwortete, nur scheinbar beantwortete Fragen, die mit dem „info3“-Verständnis schließlich unmittelbar zu der trivial-täuschenden „Ich-bin-Gott“-Vorstellung eines Christian Grauer führen (genauer gesagt: „Es gibt keinen Gott, und das bin ich!“, Futurum 2011).

Wenn das Bewusstsein der Schauplatz ist, auf dem sich die geistige Welt offenbart, heißt dies eben nicht, dass die geistige bzw. göttliche Welt selbstgeschaffen wäre – und auch der Begriff „götterschaffende Tätigkeit“ bezeichnet nichts anderes als dies. Sicher gehen auch die Götter aus einem Urgrund hervor – aber dieser ist gerade nicht das eigene Bewusstsein, sondern der höchste göttliche Urgrund selbst.

Da, wo die Geistesforschung beginnt, verschwindet der Begriff des „eigenen“ eben gerade. Der Mensch wird eins mit dem Weltengrund, und sei es nur an einem Zipfel. Nicht das eigene Bewusstsein schafft Götter, sondern die göttliche Welt offenbart sich im menschlichen Bewusstsein.

Diese göttlich-geistige Welt hat Steiner selbst erst im Laufe der Zeit in ihrer Tiefe und differenzierten Wesenhaftigkeit erkannt. Aber so, wie man keinen realen Verstorbenen „selbst schafft“, sondern diese weiterhin existieren, schafft der Mensch auch keine Pflanzen, Tiere, Engel, göttlichen Wesen. Diese sind da, aber er kann ihr Wesen erkennen – und dies ist ein aktiver, übersinnlicher Prozess.

Und das zentrale Erlebnis aller höheren geistigen Erkenntnis ist: Ich werde angeschaut. Ich werde gedacht, ich werde gefühlt, ich werde gewollt. Es ist nicht mehr die schaffende Tätigkeit des eigenen Bewusstseins, sondern es ist dasjenige, was auf dem Schauplatz des eigenen Bewusstseins geschaffen wird – von der real existierenden geistigen Welt und ihren Wesenheiten.

Viel weniger missverständlich ist die Passage aus Clements Einleitung, die info3 10/2013 abgedruckt hat. Darin heißt es unter anderem:

In der mystischen Erfahrung werde erlebt, so Steiner, dass die Entfaltung Gottes in der Welt letztlich in die Verantwortlichkeit des erkennenden Menschen gestellt ist. Daher laufe das Denken all der in der Mystik-Schrift behandelten Geister, wie auch sein eigenes, auf eine Philosophie der Freiheit hinaus. In dieser wird das freie, sich selbst erkennende menschliche Denken (bzw. das aus solchem Erkennen erfließende freie Handeln) als derjenige Ort verstanden, an dem allein der Grund des Seins sich selbst in vollem Sinne verwirklichen bzw. wie unser Autor in Anlehnung an Eckhart, Böhme und Schelling formuliert, sich kontinuierlich selbst „gebären“ kann. Für den konsequent denkenden Mystiker tritt somit nach Steiner, ähnlich wie in der Philosophie Nietzsches, der freie Mensch an die Stelle Gottes; nicht indem er dessen Existenz ableugnet und sich selbst absolut setzt, sondern indem er durch eigenes freies Denken und Handeln dem evolutiven Selbstschöpfungsprozess des ‚Absoluten‘ oder ‚Göttlichen‘ in der Welt die notwendige Grundlage zur Verfügung stellt. Diese Idee einer letztlichen Identität von ‚Welt‘ und ‚Ich‘, von Sein und Bewusstsein und das Verständnis der menschlichen Freiheit als Vollzugsort der Selbstschöpfung des Weltwesens: das waren die aus dem deutschen Idealismus rezipierten zwei „Wurzelgedanken“ [...] von Steiners philosophischem Frühwerk.


Es bleibt dennoch eine Schwierigkeit, diesen „Selbstschöpfungsprozess“ des „Weltwesens“ richtig zu verstehen. Es durchdringen sich verschiedene Realitäten. Einerseits ist das menschliche Bewusstsein der einzige Schauplatz, auf dem sich die göttliche Welt heute offenbart. Das heißt aber nicht, dass sie in den Geschehnissen der übrigen Welt nicht auch wirksam wäre. Wenn alles Geschehen sich letztlich in Wesenhaftes auflöst, ist überall die göttliche und geistige Welt bis in ihre niedersten Wesenheiten hinunter wirksam. Sie offenbart sich im Äußeren jedoch nicht mehr – sondern kann dies nur noch im menschlichen Bewusstsein. Und hier, wenn der Mensch wahrhaft Anthroposoph und Geistesforscher wird, offenbart sich das Weltwesen als unendlich differenzierte geistige Welt.

Auf der anderen Seite ist der Mensch das „Ziel der Götter“. Der Mensch soll die Freiheit und die Liebe verwirklichen und so die zehnte Hierarchie der göttlichen Welt werden. Er soll also dem „Weltwesen“ etwas hinzufügen, was bis dahin nicht da war – er selbst als wahrhaft schöpferisches Wesen.

Wo liegt nun die Brücke zwischen diesen beiden Aspekten? Sie liegt darin, dass der Mensch seine Freiheit verwirklicht und sich dabei zugleich in Freiheit in volle Übereinstimmung mit den Impulsen und Wesen der göttlichen Welt bringt. Aus Freiheit im Sinne der göttlichen Weltenziele wirken – das ist die Verbindung zwischen dem Menschen und der vom Menschen „unabhängig“ existierenden und doch von ihm „abhängigen“ göttlichen Welt.

Begriffe wie „Selbstschöpfungsprozess des ‚Absoluten’“ können die Wirklichkeit, wie sie Rudolf Steiner in seiner Geistesforschung nach der Jahrhundertwende erfasst hat, nicht einmal ansatzweise charakterisieren. Und es geht auch nicht darum, dass das menschliche Denken sich selbst erkennt. Die Beobachtung des Denkens ist Durchgangsstadium zum Erleben des Denkers und zu einer immer tieferen Selbsterkenntnis. Diese Selbsterkenntnis muss aber schließlich durchbrechen in eine Erkenntnis der geistigen Welt. Hier aber kehren sich alle Verhältnisse um: Ich werde angeschaut... Die geistige Welt handelt mit mir, ich lasse mich bewirken, ich werde „Wirk-zeug“, Schauplatz...

Alle Fehlinterpretationen und ungenügenden Beschreibungen kranken daran, dass sie das Ich und das Nicht-Ich nicht deutlich genug auseinanderhalten. Auf diese Weise werden der „Weltengrund“ und das „sich selbst erkennende Denken“ doch immer wieder leise identisch und so weiter. Die Vereinigung mit dem Weltengrund geschieht aber in ihrer tiefsten Tiefe gerade durch das „Nicht ich, sondern Christus in mir.“ Dies ist eine Vereinigung mit dem, was ich selbst nicht bin – und was doch Träger meines höheren Ich ist, aber zugleich auch noch viel mehr als das...

Das Weltwesen ist nichts Abstraktes, und es ist zugleich immer unendlich viel mehr als der einzelne Mensch. Der einzelne Mensch kann als Erkennender mit allem eins werden. Ontologisch ist er dann noch lange nicht mit allem eins – erkennend jedoch ist er es.

Das höchste Gotteswesen ist nun aber selbst Mensch geworden und hat sich mit der Erde verbunden. Mit Ihm kann der Mensch eins werden – aber nicht so, dass der Mensch selbst Christus wird, sondern so, dass er Ihn aufnimmt. Dies ist wiederum nur möglich, wenn er sagt: „Nicht ich...“. Das Ich also muss weichen. Es muss nicht verschwinden, aber es muss Platz machen, es muss zum Heiligen Gral werden.

Dann verbindet sich das Weltwesen mit dem Menschen – aber als etwas Reales, nichts Abstraktes, nichts bloß Ideelles und auch nichts a priori Eigenes. Es ist gerade umgekehrt: Das Licht der Welt kommt in sein Eigentum... Der Mensch kann sich in Freiheit Ihm zueigen geben...

Immerhin stellt Clement in einem Brief an Irene Diet vom 24.10.2013 klar, dass es ihm am liebsten gewesen wäre, gar keine Einleitung zu schreiben, dass dies aber dem Verlag wichtig war:

Persönlich hätte ich sogar auf eine Einleitung gern verzichtet und NUR den kritischen Text und die Quellennachweise in die Auflage aufgenommen. Sie dürfen mir glauben, dass es mir persönlich auf die Darstellung meiner eigenen Anschauungen – jedenfalls im Rahmen dieser Ausgabe –  überhaupt nicht ankommt. Ich würde dies viel lieber getrennt und an anderer Stelle tun, damit die SKA unbehelligt von den Einseitigkeiten und Unvollkommenheiten meiner Interpretation dastehen könnte. Nur auf Wunsch des Verlages kam es zur Ausweitung des Konzepts auf eine ausführliche Einleitung, ein Vorwort durch einen Sachverständigen und weiterführende Hinweise im Stellenkommentar. (24.10.2013)

Nochmal Clement

In den Korrespondenzen von Clement mit Irene Diet und Willy Lochmann zeigt sich, dass Clement ein sehr ruhig und sachlich argumentierender Mensch ist, der immer wieder bekräftigt, die SKA aus wissenschaftlichem Interesse herauszugeben. Als die Korrespondenz mit Lochmann jedoch eskalierte, schrieb Clement:

Angesichts Ihrer „höllischen“ Rhetorik fühle ich mich beinahe versucht, auch Ihnen einmal ganz katholisch zu kommen und Ihnen die Seelenpein auszumalen, die Sie dereinst in kama loka erwartet, wenn Ihnen die Augen aufgehen und Sie erkennen, dass Menschen, die im Geiste und vielleicht sogar im unmittelbaren Auftrag Rudolf Steiners in der Welt gewirkt haben [ob er hier eher sich selbst oder etwa Menschen in Dornach meint, wird nicht ganz klar, H.N.], von Ihnen nicht nur verkannt sondern bekämpft worden sind. Stellen Sie sich, und sei es nur als Gedankenspiel, nur einmal die Intensität der Schamgefühle vor, wenn sämtliche himmlische Hierarchien missbilligend auf Ihre Agitation herabblicken und Sie erkennen müssen, dass Sie, der Sie sich für den letzten aufrechten Hüter des anthroposophischen Grals hielten, in Wirklichkeit ein Klingsor waren ...
(Clement an Lochmann, 16.11.2013)


Völlig entlarvend für Clements Unverständnis der Anthroposophie ist dann jedoch sein Briefwechsel mit Irene Diet. Ihr schreibt er am 22.10.2013:

Ich kann von meiner Seite nur hinzufügen, dass ich meinerseits durchaus Verständnis und Sympathie habe für die von Ihnen praktizierte meditativ-vertiefende Methode mit den Texten Steiners. Es ist dies die Art und Weise, wie von jeher in religiösen Kontexten Gläubige die heiligen Schriften ihrer Propheten und Religionsstifter zu Zwecken der Erbauung und der Kontemplation gelesen haben. Ich lehne diesen religiös-meditativen Umgang mit Texten nicht ab und sehe viel Gutes darin; erkenne auch an, dass die anthroposophischen Texte – und besonders die Vorträge – für eine solche Lektüre geradezu angelegt sind und dass Steiner selbst die von Ihnen praktizierte Methode anempfohlen hat.
Es kann und darf aber, meiner Meinung nach, dieser Zugang zu den anthroposophischen Texten nicht der einzige sein, sonst wird Anthroposophie zum Religionsersatz und die eigentliche Substanz dessen, was Steiner einer aufgeklärten und säkularisierten Welt zusagen hat, geht verloren. Wenn mein eigener Zugang zu Steiner ein anderer ist, so nicht, weil ich den Ihrigen ablehne, sondern weil ich für diejenigen schreibe, denen es nicht primär um Erbauung oder meditative Arbeit geht, sondern um eine sachliche Bestandaufnahme der Texte und deren Durchdringung mit den Mitteln des kritischen und analytischen Denkens. Ich stimme nicht mit Ihnen überein, dass diese beiden Herangehensweisen sich gegenseitig ausschließen; im Gegenteil bin ich überzeugt, dass sie sich ergänzen.
Auch Steiner hat ja wohl seine „Philosophie der Freiheit“ und seine „Theosophie“ als zwei Wege bezeichnet, die zum selben Ziel führen; wobei er den ersteren, abstrakt-gedanklichen zwar als den „schwierigeren“, aber auch als den „sichereren“ und unserer Zeit angemesseneren angesehen hat. Sie müssen sich daher fragen, ob nicht ich und die Kritische Ausgabe, sondern vielmehr Sie selbst es sind, die in Ihrer strikten Ablehnung eines kritisch-analytischen Umgangs mit Steiner demjenigen entgegenarbeitet, was Steiner selbst eigentlich wollte.


Mehr oder weniger ausdrücklich bezeichnet Clement hier also die meditativ-vertiefende Methode als eine der bloßen Erbauung und Kontemplation. Obwohl Steiner diese Methode empfohlen habe, werde Anthroposophie dadurch zum Religionsersatz. Der andere, sicherere und heute angemessenere Weg sei der der „Philosophie der Freiheit“ – und Clement setzt diesen gleich mit einem abstrakt-gedanklichen, mit einem kritisch-analytischen Denken, mit seinem eigenen textkritischen „Zugang zu Steiner“.

Statt der ersten Stufe realen Geist-Erlebens (Philosophie der Freiheit) setzt Clement also „sachliche Bestandaufnahme der Texte“! Und Steiner selbst habe einen kritisch-analytischen Umgang mit ihm gewollt.

Steiner wollte keine gläubige Gefolgschaft – aber er wollte erkennende Schüler. Er wollte Menschen, die ihm auf dem Weg zum Erleben des realen Geistes folgen; nicht Menschen, die seine verschiedenen Ausgaben kritisch analysieren und mit Hunderten von Anmerkungsseiten nach Quellen, Zitaten und Paraphrasen Steiners forschen...

Zwei Tage später schreibt Clement an Diet:

Zur Frage danach, ob Steiner einen kritisch-analytischen Umgang mit seinen Texten gewollt hat: Mit meinem Hinweis auf die zwei grundsätzlichen Zugänge zur Anthroposophie, dem abstrakt-gedanklichen und dem meditativ-bildlichen sollte nur soviel gesagt werden: die SKA ist gedacht als zuverlässige Textgrundlage und Dokumentation der Textgeschichte. Damit dient sie jedem Leser, gleichgültig ob dieser sich den Texten analytisch nähert, sie als Meditationsstoff verwendet oder als Offenbarung betrachtet und darin Orientierung sucht. In diesem Sinne will der Herausgeber der SKA „den Griechen ein Grieche und den Juden ein Jude“ sein. – Die Kommentierung und Kontextualisierung der Texte bewegt sich freilich im Element des reinen Denkens, auch da wo über deren mögliche meditative und religiöse Dimension reflektiert wird. Im anthroposophischen Jargon gesprochen könnte man also sagen: die SKA geht mit den Texten Steiners so um, wie jene es tun, die den oben beschriebenen „ersten Weg“ im Umgang mit der Anthroposophie gehen. Nur so viel war impliziert, als ich schrieb, dass die SKA einen Umgang mit Steiners Texten pflegt und fördert, der diesem selbst „ein Anliegen“ war. (24.10.2013)


Hier ist Clement in seiner Argumentation nicht klar. Zuerst sprach und auch hier noch spricht er von den „zwei Wegen“, gleichzeitig identifiziert er die SKA hier zunächst mit keinem der beiden, sondern betont nun auf einmal, sie diene jedem der beiden Wege! Andererseits behauptet er, die Kommentierung und Kontextualisierung bewege sich im Element des reinen Denkens, was ein wirklicher Missbrauch dieses für Steiner sehr zentralen Terminus ist.

Wenn man alles intellektuelle, nicht grob-sinnliche Denken als „reines Denken“ bezeichnen könnte, würde dieser Terminus alle Bedeutung verlieren. Denn dann gäbe es ein reines Denken, das zum Erleben des Geistes hinführt (etwa das mathematische, aber willenskräftig gedacht) – und eines, das davon wegführt und immer mehr im Intellekt versinkt...

Auch wenn Steiner größten Wert auf genaue Wiedergabe seiner Schriften legte – die er ja selbst herausgab –, war es nicht sein „Anliegen“, dass eine textkritische Ausgabe erscheint. Und es ist absolut nicht wahr, dass die SKA „einen Umgang mit Steiners Texten pflegt“, die den von Steiner genannten „ersten Weg“ (der Philosophie der Freiheit) gehen. Es gibt viele Stellen im Werk Rudolf Steiners, in denen er in aller Deutlichkeit kritisiert, dass seine Philosophie der Freiheit nicht richtig, nicht tief genug gelesen wurde – selbst von den Anthroposophen nicht! Er meinte damit keine genaue Neuausgabe, sondern ein wirkliches Lesen, das heißt aber: inneres Tun, inneres Verwirklichen! Clement ist von diesem Verständnis des „sicheren Weges“ zum Geist weltenweit entfernt.

Einige Artikel zur KSA

Clement und die Mormonen

Abschließend seien zunächst zwei Zitate zur Brigham Young University der Mormonen wiedergegeben.

Im "Mission Statement" der Universität heißt es: 

The mission of Brigham Young University--founded, supported, and guided by The Church of Jesus Christ of Latter-day Saints--is to assist individuals in their quest for perfection and eternal life. [...]
To succeed in this mission the university must provide an environment enlightened by living prophets and sustained by those moral virtues which characterize the life and teachings of the Son of God. In that environment these four major educational goals should prevail:
All students at BYU should be taught the truths of the gospel of Jesus Christ. Any education is inadequate which does not emphasize that His is the only name given under heaven whereby mankind can be saved. [...]


In einem Bericht der FAZ heißt es: 

Doch während die Studenten in Provo ihre moralische Integrität überaus ernst nehmen, bleibt die intellektuelle Aufrichtigkeit nicht selten Lippenbekenntnis. Dem humanistischen Bildungsideal und der Meinungsfreiheit wird hier nur so weit gehuldigt, wie sie die offizielle Kirchengeschichte und die Entscheidungen der Führung unangetastet lassen. Wie alle Mormonen sind Studenten und Dozenten angehalten, kritische Auseinandersetzungen mit ihrer Kirche zu meiden; Skepsis ist, zumindest im Hinblick auf die Kirche, unerwünscht. Eine wirklich offene akademische Atmosphäre, das räumen die meisten Dozenten ein, herrscht auf dem Campus in Provo nicht.
Das Evangelium, die amerikanische Version. FAZ.net, 21.4.2012.


Clement selbst sagt auf die Frage, wie er an die BYU Universität kam (Quelle):

[...] fasziniert mich an meinem Leben in Utah besonders, dass es mir erlaubt, die Spiritualität und lebendige Mysterienkultur dieser in vieler Hinsicht faszinierenden Glaubensgemeinschaft auf intime Art und gewissermaßen von innen kennenzulernen.


Inwieweit es sich um eine "lebendige Mysterienkultur" handelt, darüber kann sich jeder Leser selbst durch einen Blick auf die Seiten der Mormonen ein Urteil bilden - etwa an diesem fast beliebig herausgegriffenen Video: "Festlegen, was gelehrt wird". Ebenso hilfreich ist die umfangreiche Seite des "Aussteigers" Holger Rudolph.